Orgel
(lat.
Organum, franz.
Orgue), bekanntes Tonwerkzeug, ist ein
Blasinstrument von gewaltigen
Dimensionen, sowohl hinsichtlich
ihrer räumlichen
Ausdehnung
[* 2] als auch des Tonumfangs mit keinem andern zu vergleichen. Die drei Hauptteile der Orgel
sind: das
Pfeifenwerk, der Anblasemechanismus
(Bälge,
Kanäle,
Windkasten, Windladen) und das
Regierwerk, d. h. der
Mechanismus, welcher dem
Winde
[* 3] den Zugang zu den einzelnen
Pfeifen öffnet
(Klaviere,
Traktur, Registerzüge).
Die
Pfeifen zerfallen in eine Anzahl
Gruppen,
Stimmen oder
Register genannt, deren jedes
Pfeifen verschiedener
Größe, aber gleicher
Konstruktion und
Klangfarbe vereinigt, d. h. ein
Register stellt eigentlich ein einziges
Blasinstrument dar, da jede
Pfeife nur
einen
Ton gibt und daher so viel
Pfeifen als
Töne erforderlich sind. Eine Orgel
mit nur einem einzigen
Register müßte doch mindestens
so viel
Pfeifen haben, als sie
Töne verschiedener
Höhe haben soll, d. h. als die
Klaviatur
[* 4]
Tasten hat.
Die zu derselben
Stimme gehörigen
Pfeifen sind auch räumlich so aufgestellt, daß sie alle zusammen in
Mitwirkung gezogen oder ausgeschlossen werden können und zwar durch die sogen. Registerzüge;
das Herausziehen
(Anziehen) der rechts und links vom
Spieler aus der Orgel
hervorstehenden Registerstangen öffnet dem
Winde den
Zugang zu den
Pfeifen der betreffenden
Stimmen so weit, daß es nur noch der Öffnung eines kleinen
Ventils
durch den Niederdruck einer
Taste bedarf, um den betreffenden
Ton zum
Ansprechen zu bringen; das Hineinschieben (Abstoßen)
der Registerstange (der ganze Spielraum der
Bewegung beträgt etwa einen
Zoll) setzt die
Stimmen außer Thätigkeit (vgl.
Windkasten
und Windladen). An neuern
Orgeln finden sich noch besondere Vorrichtungen, um eine Anzahl
Stimmen gleichzeitig
anzusehen oder abzustoßen (Kollektivzüge).
Nicht das ganze
Pfeifenwerk einer Orgel
wird aber durch eine
Klaviatur regiert, vielmehr hat auch die kleinste Orgel
zwei
Manuale
(mit den
Händen gespielte
Klaviaturen) und ein
Pedal
(Klavier für die
Füße); ganz große
Orgeln haben bis fünf
Manuale und
zwei
Pedale. Für jede
Klaviatur sind besondere
Stimmen disponiert; diejenige, welche die meisten und am
stärksten intonierten
Stimmen enthält, heißt das Hauptmanual. Die
Verkoppelung (s.
Koppel) mehrerer oder aller
Manuale oder
des
Pedals und des Hauptmanuals ermöglicht aber die Zusammenbenutzung der zu verschiedenen
Klavieren gehörigen
Stimmen. Die
Orgel
ist eines ausdrucksvollen
Spiels nicht fähig (vgl. jedoch
Harmonium und
Crescendo), sondern kann die
Tonstärke nur abstufen durch
Anziehen oder Abstoßen von
Registern oder durch Übergang auf ein andres
Manual; das
Charakteristische
des
Orgeltons ist daher starre
Ruhe. In die Einzelheiten des Orgel
baues einzugehen,
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verbietet hier der Raum; wir lassen nur noch einige Bemerkungen über die verschiedenen Stimmen der Orgel
folgen. Man unterscheidet
zunächst hinsichtlich der Art der Tonerzeugung Labialstimmen (Flötenwerke) und Zungenstimme (Schnarrwerke). Vgl. Blasinstrumente.
Hinsichtlich der Tonhöhe (s. Fußton), welche die Pfeifen eines Registers geben, unterscheidet man Grund- oder Hauptstimmen
und Hilfsstimmen. Eine Grundstimme gibt für die Taste c immer den Ton c, aber nur bei den 8'- (acht Fuß-)
Stimmen, welche Äqual-, Kern- oder Normalstimmen heißen, das c derselben Oktave (d. h. auf Taste groß C den Ton groß C, auf
Taste [eingestrichen] c' den Ton c' etc.); die Oktavstimmen oder Seitenstimmen geben dagegen eine höhere
oder tiefere Oktave.
Den Hauptfonds des Orgeltons geben die Kernstimmen, welche deshalb in größerer Zahl vertreten sein müssen als jede andre
Fußgröße (d. h. als etwa die 16-, 4 oder 2füßigen Stimmen); die Kernstimmen gruppieren sich wieder um die eigentlichste
Hauptstimme: das achtfüßige Prinzipal (s. d.), die älteste Orgel
stimme, welche vor 1000 Jahren beinahe
ebenso konstruiert wurde wie heute. Jedes Manual der Orgel
pflegt eine eigne 8-Fuß-Prinzipalstimme zu haben, die aber für jedes
anders intoniert ist (stärker, schwächer); große Orgeln haben im Hauptmanual mehrere 8-Fuß-Prinzipale, seltener sind die
16-Fuß-Prinzipale im Manual.
Für das Pedal ist Prinzipal 16 Fuß die eigentliche Kernstimme, da das Pedal eine Oktave tiefer klingen muß, als es notiert wird; doch haben kleinere Orgeln häufig statt Prinzipal 16 Fuß ein Gedackt 16 Fuß, große aber sogar Prinzipal 32 Fuß. Die Hilfsstimmen sind wie die höhern Oktavstimmen nur zur Verstärkung [* 6] des Klanges da, sie geben Obertöne [* 7] der Kernstimmen; man unterscheidet einfache Hilfsstimmen und gemischte. Sämtliche Hilfsstimmen sind Labialstimmen und haben Prinzipalmensur.
Halbe Stimmen nennt man solche, welche nur für eine Hälfte der Klaviatur disponiert sind, wie z. B. Oboe, welches nur Diskantstimme
ist und durch die Baßstimme Dolcian (Fagott) zu ergänzen ist. Übergeführte Stimmen sind solche, welche
im Baß keine eignen Pfeifen haben, sondern die einer andern Stimme benutzen (ohne Zuthun des Spielers). Eine Orgel
ohne Pedal und
nur mit Labialpfeifen besetzt heißt Positiv, eine nur mit Zungenstimme Regal. Die äußere Umkleidung der Q heißt Gehäuse,
die vordere Fassade, welche durch die schönsten Prinzipalpfeifen als Prunkstück geziert wird, Prospekt.
Bei manchen Orgeln liegen die Klaviaturen nicht in einer Nische des Orgel
gehäuses, sondern ein Stück vor demselben in einem
frei stehenden Kasten (Spieltisch). Über andre Kunstausdrücke sowie über die einzelnen Orgel
stimmen vgl. die Spezialartikel.
In Kompositionen für Orgel werden die Pedalnoten mit Ped. (Pedale), die Manualnoten mit Man. (Manuale, manualiter) oder auch mit s. p. (senza pedale) bezeichnet. Tritt neben dem Manual das Pedal mit einer vollkommen selbständig geführten Stimme auf, so schreibt man diese in ein drittes System. Die beiden über ihm stehenden Systeme sind sodann nur für das Manual bestimmt. Die Registrierung wird, namentlich in ältern Kompositionen, vom Komponisten nur selten angegeben.
Ganz genau kann sie schon deshalb nicht vorgeschrieben werden, weil die Orgeln hinsichtlich ihrer Register große Verschiedenheiten aufweisen. Der Tonsetzer begnügt sich deshalb meist mit einigen allgemeinen, zu Anfang des Stücks verzeichnet Bestimmungen, wenn er seiner Komposition eine bestimmte Tonhöhe oder Klangfarbe für angemessen hält. Werden die sämtlichen Register zugleich benutzt, so nennt man dies das volle Werk (organo pieno) spielen; in allen übrigen Fällen jedoch hat die Registrierkunst des Organisten (d. h. dessen Geschmack hinsichtlich des Wechsels und der Verbindung einzelner Register) endgültig zu entscheiden.
Eine befriedigende Geschichtschreibung der Orgel fehlt noch, wenn auch schon wiederholt Anläufe dazu genommen wurden. Der Ursprung des Instruments reicht ins Altertum zurück; seine Vorfahren sind die Sackpfeife und Panspfeife. Doch finden wir schon wirkliche Orgeln mit Winderzeugung durch Luftpumpen [* 8] (Bälge) und Komprimierung der Luft durch Druck (Wasser) und Spiel mittels einer Art Klaviatur im 2. Jahrh. v. Chr. Als Erfinder dieser sogen. Wasserorgel (Organum hydraulicum) wird Ktesibios (170 v. Chr.) genannt; wir besitzen eine Beschreibung dieses Instruments durch seinen Schüler Hero von Alexandria (griechisch und deutsch in Vollbedings Übersetzung des Bedos de Celles).
Das Wasser war durchaus kein notwendiger Bestandteil dieser Art Orgeln, und es scheint, daß man in der Folge Orgeln mit und ohne Wasserdruck in Griechenland [* 9] und Italien [* 10] baute. Wir haben die Beschreibung einer Orgel des Kaisers Julian Apostata (4. Jahrh.), eine andre findet sich bei Cassiodor (in der Erklärung des 150. Psalms), welche wertvolle Details beibringen; auch mehrere alte Abbildungen (Reliefs) beweisen, daß die Orgel im Abendland schon bekannt war, ehe Kaiser Konstantin Kopronymos 757 dem König Pippin eine zum Geschenk machte (vgl. den nähern Nachweis von H. Riemann in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« 1879, Nr. 4-6: »Orgelbau im frühen Mittelalter«).
Jene ältesten Orgeln waren sehr klein und hatten in der Regel nur 8, höchstens 15 Pfeifen (2 Oktaven diatonisch), welche genau so konstruiert waren wie die heutigen Prinzipalpfeifen. Um 980 stand zu Winchester schon eine Orgel mit 400 Pfeifen und 2 Klavieren, die von zwei Spielern gespielt wurde (jedes Klavier zu 20 Tasten, der Umfang des Guidonischen Monochords, mit 10 Pfeifen für jede Taste, in der Oktave und Doppeloktave mehrfach besetzt). Von Mixturen weiß aber jene Zeit noch nichts.
Die Scheidung des Pfeifenwerks in Register scheint im 12. Jahrh. vor sich gegangen zu sein. Die Orgeln des 4.-11. Jahrh. hatten eine sehr leichte Spielart; dagegen wurde nach Einführung einer komplizierten Mechanik, welche die gewaltige Vergrößerung des Instruments bedingte, die Spielart im 13.-14. Jahrh. so schwer, daß die Tasten mit den Fäusten geschlagen oder mit den Ellbogen heruntergestemmt werden mußten. Die Einführung der Zungenpfeifen (Schnarrwerk) erfolgte im 15. Jahrh., die, Erfindung des Pedals zu Anfang des 14. Jahrh. Über die jahrhundertelang übliche eigentümliche Notenschrift für die Orgel vgl. Tabulatur; über weitere Erfindungen und Verbesserungen im Orgelbau s. die Spezialartikel.
Berühmte Orgelbauer älterer und neuerer Zeit sind: Esaias Compenius, Arp. Schnitzker, Zacharias Hildebrand, die Trampeli, die Silbermann, Hering, Gasparini, Daublaine-Collinet, Cavaillé-Coll, Schulze, Buchholz, Merklin und Schütze, Ladegast, Walcker, Reubke etc. Zu den hervorragendsten Orgelspielern gehörten im 14. Jahrh. Fr. Landino; im 15. Bernard der Deutsche [* 11] in Venedig, [* 12] Paul Hofheimer, Konrad Paumann (fälschlich Paulmann genannt), Arnold Schlick, Jakob Paix und A. Squarcialupo (dagli Organi); im 16. Claud. Merulo, Andrea und Giovanni Gabrieli und Striggio;
im 17. Buxtehude (der ¶
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Vorläufer Seb. Bachs), Frescobaldi, Froberger, Sweelinck, Georg Muffat, Pachelbel, Reinken, Schein, Scheidemann, Scheidt; im 18. die Familien Couperin und Bach, Händel, Marchand, Schröter, Türck, Kittel, Knecht, Rinck, Vogler, Buttstedt, Homilius; endlich im 19. Jahrh. Vierling, Séjan, Serassi, Bastiaans, Adams, K. F. Becker, D. H. Engel, Herzog, Hesse, Mendelsohn, Ritter, Schellenberg, Joh. Schneider, Töpfer, der blinde K. Grothe, A. G. Fischer, G. Merkel, Best, Thiele, Faißt, Haupt, Piutti, Volckmar, Guilmant u. a. Viele der Genannten zeichneten sich zugleich im Fach der Komposition für Orgel aus. Empfehlenswerte Orgelschulen lieferten: Knecht (Lpz. 1795), Schneider (Halberst. 1829-30), Ritter (»Die Kunst des Orgelspiels«, 8. Aufl., Leipz. 1877, 3 Tle.), Volckmar, Frankenberger, Brähmig, Lemmens (für katholische Organisten), Schütze etc.
Von den Werken über Orgelbau und Geschichte der Orgel erwähnen wir: Bedos de Celles, L'art du facteur d'orgues (1766 ff., 4 Bde.; Bd. 4, eine Geschichte der Orgel enthaltend, deutsch von Vollbeding, Berl. 1793);
Töpfer, Theorie und Praxis des Orgelbaues (2. Aufl. von Allihn, Weim. 1888), und einige kleinere Werke desselben;
J. ^[John] Hopkins, The organ, its history and construction (Lond. 1855);
Wangemann, Die Orgel, ihre Geschichte und ihr Bau (3. Aufl., Leipz. 1887);
ferner die kleinern Schriften von Kuntze, Sattler, Kothe, Richter, Weippert, Zimmer u. a.
Vgl. auch Ritter, Zur Geschichte des Orgelspiels im 14-18. Jahrhundert (Leipz. 1884, 2 Bde.).
Organ für Orgelbau und Orgelspiel ist Gottschalgs Musikzeitschrift »Urania« (Erfurt, [* 14] seit 1844).