Ordalien
(mittellat., v. angelsächs. ordâl, »Urteil«, Gottesurteile, lat. Dei judicia), Handlungen, ¶
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durch welche man eine Entscheidung der Gottheit selbst über Schuld oder Unschuld herbeizuführen glaubte. Schon in der Bibel
[* 3] und in den ältesten persischen Religionsschriften finden wir zahlreiche Hindeutungen auf allerlei Formen von Gottesurteilen,
zu denen das in der Bibel so oft gerügte »durch das Feuer Gehen«, das bittere Wasser des Moses, welches Schuld
oder Unschuld einer Frau erweisen sollte, u. a. gehören. Am meisten waren die Ordalien
verbreitet bei
den Indern, welche die Ordalien
bis auf den heutigen Tag beibehalten haben.
Nicht weniger waren die Ordalien
im Mittelalter bei den Deutschen üblich, namentlich folgende Arten derselben. In dem gerichtlichen
Zweikampf (Kampfurteil, altnord. Holmgangr) wurde der Besiegte für schuldig erachtet. Bei dem Kreuzurteil
(judicium crucis), wobei jeder von beiden Teilen mit ausgestreckten Armen an einem Kreuz
[* 4] stehen mußte, galt derjenige, der
zuerst die Arme sinken ließ oder nur bewegte, für besiegt; es ward von Ludwig dem Frommen 816 als unchristlich verboten.
Bei der Feuerprobe (judicium ignis, probatio per ignem) mußte der Beschuldigte seine Hand [* 5] eine Zeitlang in das Feuer halten, oder im bloßen Hemd oder auch in einem mit Wachs überzogenen Hemd (Probe des wächsernen Hemdes) durch einen brennenden Holzstoß gehen, oder ein Stück glühendes Eisen [* 6] von bestimmter Schwere gewöhnlich neun Schritte weit in der bloßen Hand tragen, oder über glühende Kohlen oder über neun glühende Pflugscharen mit bloßen Füßen gehen, und die Nichtverletzung galt als Beweis der Schuldlosigkeit.
Die Wasserprobe (judicium aquae) zerfiel in die Probe des kalten Wassers und in die Probe des heißen Wassers oder den Kesselfang. Bei der letztern mußte der Beklagte aus einem Kessel mit heißem Wasser einen hineingeworfenen Ring oder eigroßen Stein mit bloßem Arm herausholen, ohne Blasen zu bekommen; bei ersterer band man dem Betreffenden die linke Hand an den rechten Fuß oder umgekehrt und warf ihn, mit einem Strick um den Leib, um ihn wieder herausziehen zu können, einmal oder mehrere Male in das Wasser.
Sank er unter, so galt er für unschuldig; blieb er aber schwimmend auf der Oberfläche, so galt er für schuldig, weil das reine Wasser ihn nicht in sich dulden wolle. Auch diese Probe, welche später besonders in Hexenprozessen Anwendung fand, ward schon 829 von Ludwig dem Frommen der Ähnlichkeit [* 7] mit der Taufe Christi halber und 1601 nochmals vom Pariser Parlament als unchristlich verboten. Das Broturteil oder die Probe des geweihten Bissens (judicium offae, panis adjurati, casibrodeum) bestand darin, daß ein unter eignen Verwünschungsformeln zubereiteter Bissen Brot [* 8] oder Käse dem Angeklagten gegeben und dieser für schuldig gehalten wurde, wenn ihm der Bissen im Halse stecken blieb.
Die Abendmahlsprobe (purgatio per eucharistiam, eucharistia, examen corporis et sanguinis Domini), besonders bei Geistlichen und Mönchen angewandt, beruhte auf dem Glauben, daß dem Verbrecher der Genuß des Abendmahls zum Verderben gereichen werde. Das Bahrrecht (s. d.) diente zur Ermittelung des Thäters bei einer verübten Mordthat. Dasselbe beruhte auf dem Aberglauben, daß die Wunden des Ermordeten von neuem bluten, wenn der Mörder die Leiche berührt oder auch nur an dieselbe herantritt.
Das Los wird schon bei Tacitus erwähnt und kommt auch in den Verordnungen der fränkischen Könige sowie
in den Volksgesetzen als Ordal bei Diebstahlsbeschuldigungen vor. Alle Ordalien
bis auf den Zweikampf standen unter der Leitung der
Geistlichkeit; sie wurden daher auch, mit
Ausnahme der kalten Wasserprobe, unter besondern Zeremonien in der Kirche vollzogen.
Daß bei allen diesen Ordalien
auch Betrug zu Hilfe genommen wurde, um ein günstiges Resultat zu erzielen, wobei
besonders viel auf den ankam, der das Gottesgericht zu leiten hatte, wird schon durch vorbeugende Bestimmungen in den Gesetzbüchern
konstatiert.
Freie reinigten sich von Anschuldigungen gewöhnlich teils durch Eide und Eideshelfer, teils durch den Zweikampf; durch die übrigen
Ordalien
dagegen mußten nach den Rechtsbestimmungen ihr Recht darthun: Unfreie, für die ihr Herr nicht schwören
wollte;
Frauen, welche, auf Kampf angeklagt, keine Kämpfer für sich stellen konnten, und Freie, welche keine Eideshelfer finden konnten.
Überhaupt galten die Ordalien
als äußerstes Beweismittel. Nur allmählich verschwanden die Ordalien durch
die Bemühungen des päpstlichen Stuhls und aufgeklärter Fürsten aus den Rechtsbüchern. Ihre Stelle ersetzte
freilich in den meisten Ländern die Tortur, bis die Hexenprozesse die Ordalien
, besonders die kalte Wasserprobe, wieder heraufbeschworen.
Als etwas Neues trat das Wägen der Hexen (Hexenwage) hinzu, das, wie die Wasserprobe, sich auf den Glauben gründete, daß die
vom Teufel besessenen Hexen ihre natürliche Schwere verloren hätten. Am längsten unter den Gottesgerichten
hat sich das Bahrrecht erhalten, und das gänzliche Verschwinden der Ordalien
aus dem Gerichtsverfahren kann erst in die Mitte
des 18. Jahrh. gesetzt werden. In voller Kraft
[* 9] aber bestehen die Ordalien
noch bei einer Menge außereuropäischer, namentlich afrikanischer
Völker, die sich sehr heftiger organischer Gifte, besonders aus der Klasse der Herzgifte, wie in Sierra Leone
der Rinde des Rotwasserbaums (Erythrophleum judiciale), in Oberguinea
[* 10] der Kalabarbohne (Physostigma venenosum), anderwärts
des furchtbaren Incassagifts etc., bedienen, um sich von irgend welcher Schuld zu reinigen.
Derjenige, dessen Körper hierbei durch Erbrechen den Giftstoff von sich weist, oder der ihn durch Gegenmittel wirksam zu bekämpfen weiß, gilt für unschuldig.
Vgl. Majer, Geschichte der Ordalien
(Jena
[* 11] 1795);
Zwicker, Über die Ordale (Götting. 1818);
Wilda, Ordalien
, in Ersch und Grubers Encyklopädie; Phillips, Über die Ordalien
bei den Germanen (Münch. 1847);
Dahn, Studien zur Geschichte der germanischen Gottesurteile (Münch. 1857);
Pfalz, Die germanischen Ordalien
(Leipz. 1865);
B. Hilse, Das Gottesurteil der Abendmahlsprobe (Berl. 1867).