Orākel
(lat. oraculum), im
Altertum eins der
Mittel, wodurch die Götterwelt mit den
Menschen in unmittelbar Wechselbeziehung
trat, und als solches einer der wichtigsten
Träger
[* 2] der
Religion, zugleich aber auch durch Priestereinfluß
ein nicht unbedeutendes
Moment in der Geschichte der alten
Völker. Die Orakel
bilden einen
Hauptteil der
Divination, insofern sie
besondere
Offenbarungen eines
Gottes sein sollen, die an einem bestimmten
Orte den Verlangenden gegeben und durch gewisse Mittelspersonen,
meist
Priester des
Gottes, mitgeteilt und verdeutlicht werden.
Die Art und
Weise, wie die
Gottheit ihren
Willen in den Orakeln
mitteilte, war verschieden, weshalb man die ganze
Gattung der
Orakel
zunächst in die drei
Arten der Traumorakel
, der Spruchorakel und der Zeichenorakel einteilt.
In dem berühmtesten aller,
zu
Delphi, erregte ein
Dampf,
[* 3] welcher aus dem
Schlund emporstieg, die
Begeisterung der Wahrsagerin;
in Dodona ward aus der Bewegung der Blätter an der heiligen Eiche, aus dem Ton der aufgestellten Erzbecken, aus dem Murmeln der Quelle [* 4] auf den Willen der Gottheit geschlossen;
in Delos beobachtete man das Rauschen des Lorbeers, im libyschen Ammonium gewisse Erscheinungen an dem aus Edelsteinen zusammengesetzten Bildnis des Gottes;
bei den sibyllinischen Orakeln
schlug man
auf Befehl des
Senats und in Gegenwart eines
Magistrats die von den
Sibyllen herstammenden Sammlungen nach.
Inwieweit die
Priester
selbst von der
Wahrheit dieser
Offenbarungen überzeugt waren, läßt sich schwer entscheiden; jedenfalls aber würde es einseitig
und unhistorisch sein, in denselben lediglich absichtlichen Priesterbetrug zu sehen. Sogar aus der dunkeln
Form der Antworten, welche besonders das delphische Orakel
charakterisiert, darf nicht sofort auf absichtliche Täuschung
geschlossen werden, wenn auch zugegeben werden muß, daß sich die Priesterschlauheit gern durch die zweideutigen Antworten
für alle
Fälle sicherstellte.
Die besondern Anlässe, denen die einzelnen Orakel
sitze ihre Entstehung verdankten, waren in der
Regel
physische, welche wegen ihrer vom Gewöhnlichen abweichenden
Natur den
Glauben an die
Nähe der weissagenden
Gottheit veranlaßten.
Bald war es eine wohlthätige
Quelle, woran das griechische sowohl als auch das germanische
Altertum die
Nähe einer
Gottheit
knüpfte, bald waren es Naturerscheinungen (Wasserdämpfe aus heißen
Quellen etc.), welche begeisternde
Wirkungen hervorbrachten, bald
Orte, wo die Überreste eines berühmten Sehers ruhten. Im letztern
Fall fand in der
Regel auf
den Fragenden selbst noch eine unmittelbar göttliche, begeisternde Einwirkung statt; so mußte z. B.
bei dem Orakel
des
Amphiaraos der Fragende nach eintägigem
Fasten und dreitägiger
Enthaltsamkeit von
Wein im
Tempel
[* 5] des Heiligtums schlafen, damit ihm im
Traum der
Wille der
Gottheit kund würde (sogen.
Inkubation), wobei jedoch eine Deutung
des
Traums durch die
Priester nicht ausgeschlossen war.
Der mit den Orakeln
verbundene
Zweck war übrigens nicht nur, im
Namen der
Gottheit Auskunft über zukünftige
Dinge zu geben, sondern das gesamte
Leben und
Thun einer noch vielfach ratbedürftigen
Bevölkerung
[* 6] durch göttliche
Autorität
da zu leiten, wo die eigne Einsicht den Einzelnen oder ganze
Staaten im
Stiche ließ, oder auch, wo der einzelne, geistig höher
stehende und die Verhältnisse klarer als die
Menge überschauende Mann ohne
Beihilfe des Ansehens der
Religion mit seinem
Rat nicht durchdringen konnte. In diesem
Sinn benutzten Staatsmänner häufig die Orakel
, weshalb man sie nicht
mit Unrecht für gewisse
Perioden der griechischen Geschichte geradezu politische
Institute nennen darf. So übten die Orakel
großen
Einfluß auf
Erhaltung des
Bewußtseins gemeinsamer
Nationalität sowie zur Erreichung allgemeiner vaterländischer
Interessen unter den staatlich sehr geteilten und zwiespältigen Griechen, indem man
¶
mehr
bei allen wichtigen Unternehmungen, Einrichtungen u. dgl. den Rat der Orakel
einholte. Neben ihrer Wirksamkeit für Hebung
[* 8] der religiösen
Kultur, die sich in älterer Zeit nicht wegleugnen läßt, sorgten die Orakel
aber auch für die Beförderung
der Landeskultur, für Aussendung von Kolonien etc.; sie besorgten also auch staatsökonomische und politische,
ja soziale Zwecke. Das älteste Orakel
befand sich zu Meroe in Ägypten,
[* 9] dem die im ägyptischen Theben und zu Ammonium, an welchen
Orten der Dienst des Jupiter Ammon
[* 10] herrschend war, der Zeit nach am nächsten standen. In Griechenland
[* 11] erlangte das Orakel
zu Dodona,
später das zu Delphi den größten Einfluß.
Außerdem hatten Zeus
[* 12] zu Elis, zu Pisa
[* 13] und auf Kreta, Apollon
[* 14] auf Delos und in Klaros unweit Kolophon eigne Orakel;
das der Branchiden
zu Milet war ebenfalls dem Apollon und der Artemis
[* 15] geweiht. Heroenorakel
waren: das des Amphiaraos, des Trophonios und das des
Herakles
[* 16] zu Bura in Achaia. Außerdem sind noch zu erwähnen die Totenorakel
(am See Aornos in Thesprotien
und zu Heraklea in der Propontis). Zu den Orakeln
zu rechnen sind auch die Sprüche der sogen. Sibyllen (s. d.), besonders der
erythräischen und in Italien
[* 17] der cumäischen.
Die Römer
[* 18] hatten, die Sibyllinischen Bücher (s. d.), das Orakel
des Faunus und der Fortuna zu Präneste abgerechnet,
keine einheimischen Orakel; sie befragten die bekanntern griechischen und ägyptischen, weshalb sie oft weite Reisen unternahmen.
In Griechenland verloren die Orakel erst nach dem völligen Untergang der Freiheit und Selbständigkeit ihr Ansehen; doch fristeten
sie nur ein kümmerliches Dasein, bis sie unter der Regierung des Theodosius für immer geschlossen wurden.
Vgl. F. A. Wolf, Beitrag zur Geschichte des Somnambulismus im Altertum (in den »Vermischten Schriften«, Halle [* 19] 1802);
Clavier, Mémoire sur les oracles des anciens (Par. 1819);
Wiskemann, De variis oraculorum generibus (Marb. 1835);
Döhler, Die Orakel (Berl. 1872);
Karapanos, Dodone et ses ruines (Par. 1878);
Hendeß, Oracula graeca (Halle 1877);
Bouché-Leclercq, Histoire de la divination dans l'antiquité (Par. 1879-81, 4 Bde.).