Normannen
,
in älterer Form Nordmannen, die german. Bewohner
Skandinaviens und
Dänemarks, die als
Seeräuber vom 8. bis 11. Jahrh. Europa
[* 2] heimsuchten; nach ihrer Festsetzung in der nach ihnen
benannten
Normandie (s. d.) bezeichnet der
Name gewöhnlich deren Bewohner.
Die erste Veranlassung zu den Seezügen dieser skandinav.
Vikinger (d. h.
Krieger) war wohl
Übervölkerung; dann aber lockte das abenteuerliche, Ruhm und
Beute versprechende
Kriegsleben. Auch trieben
Ächtungen, Familienfehden und Bürgerkriege viele Normannen
aus der
Heimat.
Am frühesten, schon 787, erschienen dänische Normannen
an den
Küsten Englands, wo man sie Ostmannen oder Dänen nannte. Seit 832 wiederholten
sich alljährlich ihre Raubzüge, 851 überwinterten sie zum erstenmal in der Themsemündung, und seit 866 faßten
sie festen Fuß im
Lande. Erst
Alfred d. Gr. (871-901) wurde ihrer nach langen Kämpfen Herr. Er mußte ihnen zwar
Ostangeln und
Teile von Mercia und
Northumberland überlassen, aber sie erkannten seine Oberhoheit an, ließen sich taufen
und verschmolzen teilweise mit den alten Bewohnern Britanniens.
Ernstliche Einfälle begannen erst 980 wieder; man suchte sie anfangs durch Tribut (das sog. Dänengeld) abzukaufen. Dann ließ König Ethelred II. (Bricciusnacht) alle im Lande befindlichen Dänen ermorden. Zur Rache unternahm der dän. König Svend Gabelbart viele verwüstende Züge und eroberte fast ganz England, starb aber schon 1014. Sem Sohn Knut d. Gr. vollendete die Eroberung Englands, das von 1016 bis 1042 unter dän. Herrschaft blieb. Dann folgte wieder ein angelsächs. König, Eduard III. der Bekenner. Dessen Nachfolger Harold II. verlor bei Hastings Reich und Leben gegen den Herzog der Normandie, Wilhelm den Eroberer. (S. Großbritannien [* 3] und Irland, Bd. 8, S. 426 a.) -
Vgl. Freeman, History of the Norman conquest of England, its causes and its results (6 Bde., Oxf. 1867-79 u. ö.);
ders., A short history of the Norman conquest of England (ebd. 1880);
Winkelmann, Geschichte der Angelsachsen (Berl. 1883); ¶
mehr
Thierry, Histoire de la conquête de l’Angleterre par les Normands (Limoges 1877).
Ähnlich litten die Küsten des Fränkischen Reichs von der Elbe bis zur Garonnemündung. Schon 810 hatte der dän. König Gottfried
Friesland überfallen, und in der Zeit der Bürgerkriege unter Ludwig dem Frommen wurden die Normannen
zu einer furchtbaren
Geißel. Sie verheerten 836 Antwerpen,
[* 5] 837 Duerstede, 841 Rouen,
[* 6] 843 Nantes,
[* 7] 845 Paris
[* 8] und Hamburg,
[* 9] 847 Bordeaux
[* 10] u. s. w. Bald
setzten sie sich auch fest (so bei Dorstadt unweit Utrecht)
[* 11] oder drangen mit ihren kleinen leichten Schiffen die Flüsse
[* 12] aufwärts,
raubten Pferde
[* 13] und streiften bis in die Moselgegend und nach Burgund.
Auch die Küsten Spaniens wurden seit 843 wiederholt von normann. Seeräubern beunruhigt. Einzelne Scharen kamen bis ins Mittelmeer
und drangen die Rhône aufwärts bis Valence. In Italien
[* 14] wurde 859 die Stadt Luna (jetzt Sarzana) und 860 Pisa
[* 15] von Normannen
geplündert
und verbrannt. Am schlimmsten gestalteten sich die Dinge unter der schwachen Regierung des Kaisers Karl III. 880 erlitten
die Sachsen
[* 16] südlich von der Elbe eine furchtbare Niederlage, wobei der Herzog Bruno mit elf Grafen fiel. 881 und 882 drangen viele
Tausend Normannen
längs des Rheins und der Maas vor. Die Städte Maastricht,
[* 17] Lüttich,
[* 18] Aachen,
[* 19] Jülich, Köln
[* 20] und viele andere gingen
in Flammen auf, bis der Kaiser mit Geld den Frieden erkaufte. Eine andere Schar belagerte Paris 885–886, das aber durch Graf
Odo gerettet wurde. Seitdem aber König Arnulf ein starkes normann. Heer an der Dyle (bei Löwen)
[* 21] vernichtete (Sept. 891),
hatte Deutschland
[* 22] vor den Normannen
ziemlich Ruhe.
Norwegische Normannen
fuhren außerdem nach Irland, Schottland, den Shetlandsinseln, den Orkneys, Hebriden und Färöer,
und diese Inseln wurden von unzufriedenen Häuptlingen und Freibauern, die sich der Alleinherrschaft des Königs Harald I.
von Norwegen
[* 23] nicht unterwerfen wollten, kolonisiert. Andere norweg. Auswanderer gingen nach Island,
[* 24] von hier aus ward Grönland
besiedelt und das nordöstl. Amerika,
[* 25] Vinland (d. i. Weinland), entdeckt. (S. Amerika, Bd. 1, S. 518a.)
–
Vgl. Gravier, Découverte de l’Amérique par les Normands (Par. 1874) und The Norman People and their existing descendants in the British Dominions and the United States of America (Lond. 1874).
In Frankreich setzten sich die Normannen
nach Odos Tod an der Seinemündung fest; 912 erhielt ihr Anführer Rolf
oder Rollo von Karl dem Einfältigen Rouen mit den nächsten Gauen (s. Normandie), wogegen er sich taufen ließ und den Lehnseid
leistete. Die mit ihm eingewanderten Normannen
nahmen gleichfalls das Christentum und sehr bald auch die franz. Sprache
[* 26] und Sitte
an; aber sie bewahrten dabei den kriegerischen und abenteuerlichen Sinn ihrer skandinav. Vorfahren. Ein Nachkomme Rolfs, Wilhelm
der Eroberer, unterwarf 1066 England. –
Vgl. Depping, Histoire des expéditions maritimes des Normands et de leur établissement en France (2. Aufl., 2 Bde., Par. 1843; deutsch von Ismar, 2 Bde., Hamb. 1829);
Keary, The Vikings in Western christendom, 789–888 (Lond. 1890).
Aus der Normandie zogen auch viele nach dem südlichen Italien, wo damals die einheimischen Großen, die Byzantiner und die Araber
in langwierigen Fehden einander bekämpften. Die Normannen
kamen zuerst als Wallfahrer zum Heiligtum des Erzengels Michael auf dem
Monte-Gargano, dann nahmen sie Söldnerdienste, allmählich faßten sie
festen Fuß. Am Ende begründete
die Nachkommenschaft des normann. Ritters Tancred von Hauteville hier ein Königreich, indem Robert Guiscard 1059 zum Herzog
von Apulien, Roger II. 1130 zum König von Sicilien durch den Papst erhoben wurde. (S. Sicilien, Königreich.) Die Normannen
entwickelten
sich in Frankreich und Italien zu den einflußreichsten und glänzendsten Vertretern des christl.-ritterlichen
Geistes, waren die hauptsächlichsten Träger
[* 27] der Kreuzzugsbewegung (s. Bohemund) und bildeten die Einrichtungen des Feudalstaates
in vollkommenster Weise aus.
Sie haben aber auch mit diesem System zuerst gebrochen und in ihrem ital. Reiche die Grundlagen des centralisierten Beamtenstaates gelegt, der hier dann von den Staufern Heinrich VI. und Friedrich II. ausgebildet wurde. –
Vgl. de Blasiis, La insurrezzione pugliese e la conquista normanna (3 Bde., Neap. 1864–73);
Schack, Geschichte der Normannen
in Sicilien (2 Bde., Stuttg. 1889);
L. von Heinemann, Geschichte der Normannen
in Unteritalien und Sicilien bis zum Aussterben des normann.
Königshauses (Bd. 1, Lpz. 1894).
Auch in der Ostsee spielten die normann. Vikinger eine wichtige Rolle. In der Nähe der alten Handelsstadt Julin (s.
Vineta) auf Wollin begründeten im 10. Jahrh, dänische Normannen
unter dem in Sagen hoch gefeierten Palnatoki (s. d.)
den Seeräuberstaat Jomsburg (Vineta), der aber 1043 durch König Magnus den Guten von Dänemark
[* 28] und Norwegen
zerstört wurde. Sonst herrschten hier wohl meist schwedische Normannen
vor. Bei den benachbarten Finnen und Slawen hießen sie Ros
oder Rus, wahrscheinlich von der schwed. Küstengegend Roslagen (den Älandsinseln gegenüber) abgeleitet.
Diese machten die östl. Küsten der Ostsee unsicher und zinsbar. Die slaw. Völkerschaften riefen, um dem innern Hader ein Ende zu machen, 862 drei Führer der Ros: Rurik, Sineus und Truvor, ins Land und übertrugen diesen die Herrschaft. (Vgl. Kunik, Berufung der schwed. Rodsen durch die Finnen und Slawen, Petersb. 1844–45.) Von diesen hat Rußland seinen Namen;
sie bildeten lange einen bevorzugten Kriegerstand, später verschmolzen sie mit der einheimischen Bevölkerung. [* 29] Es war aber hier auch der Name Waräger üblich, d. h. die Fremden oder Gäste, und damit wurden auch die in byzant.
Kriegsdienst getretenen Normannen
bezeichnet, die zahlreich durch Rußland zogen. Die Waräger-Russen drangen längs der Flüsse
bis ins Schwarze Meer vor und dehnten ihre Raubzüge sogar bis in die Umgegend von Konstantinopel
[* 30] aus (866,
906, 941 und 1043). Schon um 935 bestand in Konstantinopel eine fremde Leibwache, die Waranger (ßαραγγστ), die anfangs
aus Normannen
, seit dem 11. Jahrh. aber vorzugsweise aus ausgewanderten Angelsachsen ergänzt wurde. –
Vgl. Dondorff, Die Normannen
und
ihre Bedeutung für das europ. Kulturleben im Mittelalter (Berl.
1875);
Steenstrup, Normannerne (4 Bde., Kopenh. 1876–82);
Thomsen, The relations between ancient Russia and Scandinavia (Oxf. 1877).