Normannen
(»Nordmannen«),
die germanische
Bevölkerung
[* 2]
Skandinaviens, vorzugsweise aber jene kühnen Seeräuberscharen,
welche von den skandinavischen
Küsten aus geraume Zeit die
Küsten des
Abendlandes heimsuchten und von den
Deutschen und
Franzosen
Normannen
, von den Engländern
Dänen, von den
Iren Ostmannen genannt wurden. Die Veranlassungen zu jenen Raubzügen,
welche die normännischen »Wikingar«, d. h.
Krieger, wie sie sich selbst nannten, unter Anführern
(See- oder Heerkönigen) in kleinen
Schiffen über das
Meer unternahmen,
waren die
Unfruchtbarkeit der
Heimat, das
Erbrecht, welches die jüngern
Söhne auf Seeraub und
Heerfahrten anwies, dann auch
der angestammte
Wandertrieb der
Germanen, Lust nach Waffenruhm,
Abenteuern und
Beute, endlich auch Unzufriedenheit
mit der Begründung von Königsherrschaften in
Skandinavien.
Kraft [unkorrigiert]
![Bild 60.671: Kraft [unkorrigiert] Bild 60.671: Kraft [unkorrigiert]](/meyers/thumb/60/60_0671.jpeg)
* 3
Kraft.Für ehrenvoll galten nur die Fahrten unter der Führung von Seekönigen, welche an Kraft [* 3] und Abhärtung den Gefährten vorangehen mußten; »nur wer nie unter rauchgeschwärzten Balken schlief, nie am häuslichen Feuer sein Trinkhorn leerte, glaubte Seekönig heißen zu dürfen«. Ihre Schiffe, [* 4] die »schaumhalsigen Wellenrosse«, waren so klein, daß eine Räuberschar oft 300-400 brauchte, und hatten nicht einmal ein Verdeck. Dafür konnten sie mit ihnen die kleinsten Flüsse [* 5] befahren, sie auch über Land tragen. Sie kämpften auch zu Land auf erbeuteten Pferden und erlernten bald die Belagerungskunst. Anfangs zogen sie bloß im Sommer aus; wenn der Winter kam und ihr Durst nach Thaten und Beute gestillt war, kehrten sie in die Heimat zurück. Bald begannen sie jedoch an den Mündungen der Flüsse und auf Inseln feste Niederlassungen zu gründen, und zu größern Kriegsheeren vereinigt, wurden sie kühne Eroberer und Gründer neuer Reiche.
Normannen (in Frankrei

* 8
Seite 12.239. Schon zu
Karls d. Gr.
Zeiten suchten sie die
Küsten des
Frankenreichs heim; der berühmte Normannenheld
Ragnar Lodbrok, der in
England in einer Schlangengrube endete, war ein Zeitgenosse
Karls, der zum
Schutz der
Küsten seines
Reichs
Befestigungen anlegen
und eine
Flotte erbauen ließ. Besonders aber wurden die
Niederlande
[* 6] und
Frankreich nach seinem
Tod von den
Raubzügen der Normannen
betroffen, und zwar drangen dieselben auf ihren leichten, flachen Fahrzeugen die
Flüsse hinauf tief in
das
Innere des
Landes ein, plünderten
Städte und
Dörfer aus und schleppten deren Bewohner als Sklaven mit sich
fort oder mordeten sie. Die innern Zwistigkeiten im fränkischen
Reich und die
Schwäche der karolingischen
Könige, namentlich
Karls des
Kahlen, erleichterte ihnen ihre
Unternehmungen. Unter diesem faßten sie zuerst an verschiedenen
Stellen in
Frankreich
festen
Fuß, auf der
Insel
Oissel an der Seinemündung, auf
Noirmoutier an der Loiremündung, und unternahmen
von beiden
Punkten aus nach allen
Richtungen hin Beutezüge; dreimal eroberten sie
Paris
[* 7] (845, 857, 861),
¶
mehr
drangen auf der Garonne bis Toulouse [* 9] vor und liefen 859 auch in den Rhône ein. Mit großen Summen mußte Karl ihren Abzug erkaufen. Unter Karl dem Dicken errichteten sie auch in Deutschland, [* 10] bei Haslou (Aschloh) an der Maas, eine Verschanzung und plünderten von da aus weit umher das Land, namentlich die Städte Aachen, [* 11] Köln, [* 12] Trier, [* 13] Metz, [* 14] Bingen, [* 15] Mainz [* 16] und Worms; [* 17] ja, sie sollen bis in die Schweiz [* 18] vorgedrungen sein und sich hier im Haslethal angesiedelt haben. 880 vernichteten sie den sächsischen Heerbann unter Liudolf in einer Schlacht an der Elbe.
Schweden und Norwegen

* 20
Norwegen.
Karl erkaufte 886 ihren Abzug durch Geld und Gebietsabtretung. Hierdurch nur zu neuen Unternehmungen angelockt,
erlitten sie erst durch Arnulf bei Löwen
[* 19] an der Dyle eine Niederlage (891), die wenigstens Deutschland vor ihren seinen Raubzügen
sicherstellte. Um so schlimmer hausten sie nun in Frankreich. Seit 900 drang eine Schar Normannen
unter einem Häuptling, Rollo (Rolf)
aus Möre in Norwegen,
[* 20] auf der Seine zu wiederholten Malen bis Paris vor und setzte sich in Rouen
[* 21] fest. Um
sich vor ihnen zu sichern, vermählte Karl der Einfältige 912 seine Tochter Gisela mit Rollo und überließ diesem zugleich
das Gebiet der untern Seine zur Niederlassung (s. Normandie), nachdem derselbe den Lehnseid geleistet und mit
dem Christentum den Namen Robert angenommen hatte. Fortan dienten die Normannen
als eine starke Schutzwehr gegen feindliche Angriffe
und nahmen sehr rasch französische Sprache und Sitten an.
Vgl. Depping, Histoire des expéditions maritimes des Normands et leur établissement en France au X. siècle (2. Aufl., Par. 1843).
Königreich Sachsen

* 22
Sachsen. Länger als Frankreich hatte England von den Raubzügen der Normannen
zu leiden. Nach dem Tode des angelsächsischen
Königs Egbert (836) setzten sie sich in Northumberland und Mercia fest, und ihre Macht wuchs durch neue Ankömmlinge aus der
Heimat zu einer für die Unabhängigkeit der Sachsen
[* 22] sehr gefährlichen Höhe empor. Die Tapferkeit und Weisheit
des Königs Alfred d. Gr. (871-901) beseitigte dies Übergewicht der fremden Eindringlinge, doch
brachen dieselben unter seinen Nachfolgern von neuem herein.
Der dänische König Sven entriß nach der großen Niedermetzelung der Normannen
in England in der St. Bricciusnacht dem
angelsächsischen König Ethelred (978-1016) den größten Teil des Landes, und Svens Sohn Knut d. Gr.,
der schon König von Dänemark
[* 23] und Norwegen war, ward nach der Ermordung des Königs Edmund Eisenseite (1016) alleiniger Herrscher
von England. Nach seinem Tod 1035 ward von der Nation Ethelreds Sohn Eduard der Bekenner auf den Thron
[* 24] von England erhoben.
Dieser aber, welcher keinen Leibeserben hatte, ernannte den ihm befreundeten und verwandten Herzog Wilhelm von
der Normandie, einen Nachkommen Rollos, zu seinem Nachfolger, der 1066 mit 60,000 normännischen Kriegern in England landete,
den von den Angelsachsen auf den Thron erhobenen König Harald bei Hastings 14. Okt. besiegte und England der Herrschaft der französischen
Normannen
unterwarf. Die Sachsen traf das Los der Knechtschaft, bis im Lauf der Zeit beide Völker in eins verschmolzen.
Vgl. Wheaton, History of the Northmen from the earliest times to the conquest of England (Lond. 1831);
Worsaae, Dänen und Nordmänner in England etc. (deutsch, Leipz. 1852);
Thierry, Histoire de la conquête de l'Angleterre par les Normands (neue Ausg., Par. 1883, 4 Bde.);
Freeman, History of Norman conquest of England (2. Aufl., Lond. 1877, 5 Bde.).
Die wichtigsten Forsch

* 25
Afrika. Ins Mittelmeer waren
die Normannen
bereits im 9. Jahrh. vorgedrungen, hatten die Küsten der Iberischen Halbinsel geplündert, wo ihnen
aber die Westgoten und Araber mit Mut und Erfolg entgegentraten, und die Balearischen Inseln, Afrika,
[* 25] Italien,
[* 26] ja Griechenland
[* 27] und Kleinasien mit Raub und Mord heimgesucht. Im Anfang des 11. Jahrh. unterstützte eine normännische Pilgerschar
aus Frankreich, welche die heilige Grotte am Berge Garganus besucht hatte, die Fürsten von Capua, Neapel,
[* 28] Benevent und Salerno in
ihren Kämpfen widereinander und gegen die Griechen und Sarazenen und erlangte durch ihre Tapferkeit und
Klugheit allmählich großen Einfluß. 1027 verlieh ihnen Herzog Sergius von Neapel einen fruchtbaren Landstrich, wo sie Aversa
bauten und unter dem Grafen Rainulf eine unabhängige Grafschaft gründeten.
Durch Zuzug aus der Heimat verstärkten sie sich, und namentlich unter den zehn Söhnen Tancreds von Hauteville dehnten sie ihre kriegerischen Unternehmungen aus. 1038 verbanden sie sich mit den Griechen, um den Sarazenen die Insel Sizilien [* 29] zu entreißen. Durch ihre ritterliche Tapferkeit gelang es ihnen, die Sarazenen zu überwinden; als aber die Griechen ihren tapfern Bundesgenossen allen Anteil an der Beute verweigerten, bemächtigten sich diese mit Waffengewalt Apuliens (1040-1043) und teilten es als erobertes Land unter sich, wobei sie den tapfern Wilhelm Eisenarm zum Grafen von Apulien erwählten.
Palencia - Palermo

* 30
Palermo.
Nach Wilhelms Tod (1043) trat sein Bruder Drogo, nach dessen Ermordung der dritte Bruder, Humfred, an die Spitze der Normannen
, die in der
Schlacht bei Civitella den Papst Leo IX. besiegten und gefangen nahmen, dann aber von dem gefangenen Papst in Benevent gegen Zusicherung
eines Erbzinses an den apostolischen Stuhl mit allen Ländern Unteritaliens, die sie bereits erobert oder noch erobern würden,
belehnt wurden. Robert Guiscard (1056-1085) eroberte das ganze Festland und nahm den Herzogstitel an, während
sein Bruder Roger I. Sizilien den Sarazenen entriß. Rogers Sohn Roger II. vereinigte nach seines Vetters Bohemund Tode das gesamte
normännische Gebiet und ward 1130 von Papst Anaklet II. in Palermo
[* 30] als König von Neapel und Sizilien gekrönt. Seine Nachkommen
haben bis 1189 das schöne Reich beherrscht, das dann an die Hohenstaufen überging.
Vgl. Delarc, Les Normands en Italie (Par. 1883);
Barlow, History of the Normans in South Europe (Lond. 1886).
Nach dem Osten gingen die Züge der Normannen
aus dem Land »Rhos« (Schweden),
Normännische Inseln -

* 32
Seite 12.240. und früh hatten sie sich die das Baltische Meer umwohnenden
Völker, Finnen, Esthen, Slawen, zinspflichtig gemacht. Sie wurden hier »Eidgenossen«, Varinger
(Waräger), genannt. Die slawischen Stämme im Südosten des Finnischen Meerbusens, unter sich uneins, beschlossen im 9. Jahrh.,
sich freiwillig unter die Herrschaft der Normannen
zu stellen. Sie schickten eine Botschaft an die Waräger-Russen und luden sie ein,
über sie zu gebieten. Die Russen, unter Führung der drei Brüder Rurik, Sineus und Truwor, folgten dem
Ruf, und nach dem Tod seiner Brüder wurde Rurik (gest. 879), der seinen Sitz in Nowgorod (Holmgard) aufschlug, der alleinige
Gebieter des neuen, »Rußland« genannten Reichs, über welches seine Nachkommen 700 Jahre geherrscht haben. Die
Varinger bildeten den bevorzugten Kriegsstand, der sich durch neue Zuzüge aus der Heimat immer wieder verstärkte, die Chasaren
unterwarf, Kiew
[* 31] (Kiänugard) eroberte und bereits 865, auf 200 Ruderbooten den Dnjepr
¶
mehr
hinabfahrend, über das Schwarze Meer bis in den Bosporus [* 33] vordrang und Konstantinopel [* 34] bedrohte; Oleg und Igor wiederholten diese Kriegszüge gegen das griechische Kaiserreich, die dortigen Kaiser nahmen die kühnen Seeräuber endlich in Sold, um sich zu schützen, und die »Baranger« waren seitdem die tapfersten und treuesten Truppen des kaiserlichen Heers. Als unter Wladimir d. Gr. (980-1015) in Rußland das Christentum eingeführt wurde, verloren die Waräger ihre Vorrechte und verschmolzen mit den Slawen, deren Sprache [* 35] und Sitten sie annahmen.
Vgl. Russisches Reich, Geschichte.
Von höchstem Interesse sind auch die Fahrten der Normannen
im nördlichen Atlantischen Ozean. Nachdem sie die Orkney- und Shetlandinseln
besetzt hatten, entdeckten sie die Färöerinseln, und von hier gelangte um 860 Naddodd zuerst nach Island,
[* 36] das infolge der
Gewaltherrschaft Harald Harfagars in Norwegen durch die unzufriedenen Auswanderer rasch bevölkert wurde. Aber noch weitere
kühnere Wikingsfahrten unternahmen die Normannen
von Island aus. Erich der Rote siedelte sich 986 in dem bereits 876 entdeckten
Grönland an, und sein Sohn Leif besuchte von hier »Vinland«, die Küste Nordamerikas (Neuengland), die wegen der dort vorgefundenen
wild wachsenden Reben so genannt wurde.
Thorfinn Karlsafna versuchte 997 auch eine feste Ansiedelung daselbst, welche sich jedoch gegen die Angriffe der Skrälinger (Eskimo) nicht behaupten konnte. Andre Isländer drangen noch weiter nach Süden bis Hvitramannaland (das jetzige Carolina) vor; doch konnten diese Fahrten ihrer großen Gefahren halber nicht oft gemacht werden, und die Entdeckungen versanken wieder in völlige Vergessenheit. Auch die Ansiedelungen in Grönland gingen im 14. Jahrh. zu Grunde.
Nur in Island entwickelte sich die Kolonie zu einer bedeutenden Kultur.
Vgl. außer den angeführten Werken noch: Strinnholm, Wikingszüge, Staatsverfassung und Sitten der alten Skandinavier (deutsch, Hamb. 1839-41, 2 Bde.);
Munch, Das heroische Zeitalter der nordisch-germanischen Völker etc. (deutsch, Lübeck [* 37] 1854);
Steenstrup, Normannerne (Kopenh. 1876-82, 4 Bde.);
K. Wilhelmi, Island, Hvitramannaland, Grönland und Vinland (Heidelb. 1842);
Dondorff,
Die Normannen
und ihre Bedeutung für das europäische Kulturleben im Mittelalter (Berl. 1875).