Niembsch
von
Strehlenau,
Nikolaus, gewöhnlich nur mit seinem Dichternamen
Nikolaus
Lenau genannt, ausgezeichneter Dichter,
geb. zu Czatad in
Ungarn,
[* 2] studierte zu
Wien
[* 3]
Jurisprudenz und wandte sich dann der
Medizin zu,
ohne jedoch zur Ausübung der letztern zu gelangen. Von
früh auf eine eigentümliche, zu gleicher Zeit feurige und melancholisch
gestimmte
Natur, deren innerste poetische
Ideale mit der umgebenden Wirklichkeit in
Konflikt gerieten, der
Bewegung und
Gärung
der Zeit mit hoffendem
Blick zugewandt und doch zu elegischer
Trauer über den verlornen
Frieden harmloser
Tage gestimmt, leidenschaftlich und wiederum von
krankhafte Weichheit der
Empfindung, sprach
Lenau die wechselnden
Stimmungen
seines Innern in lyrischen und lyrisch-epischen
Dichtungen aus. Die beabsichtigte Herausgabe seiner »Gedichte« (Stuttg.
1831, 4. Aufl. 1840) führte ihn nach
Stuttgart,
[* 4] wo er im
Kreis
[* 5] der schwäbischen Dichter große
Sympathien
gewann und sich besonders eng an
Justinus
Kerner,
Schwab und K.
Mayer anschloß.
Doch konnten zunächst weder die neuen
Freunde noch die Aussichten auf litterarischen
Ruhm
Lenau bewegen, von
der beabsichtigten
Reise nach
Amerika
[* 6] abzustehen; er hoffte in den Urwäldern die Befriedigung zu finden, die ihm daheim selbst
die
Einsamkeit der
Alpen
[* 7] versagte. Er trat die
Reise nach den
Vereinigten Staaten
[* 8] 1832 an, kaufte dort etwas Land an, das
er an
einen seiner Reisegefährten verpachtete, und bereiste zu
Pferde
[* 9] den
Westen der
Union. Der
Eindruck der amerikanischen Zustände
konnte auf eine tieflyrische
Natur wie die
Lenaus nur ein abstoßender sein; amerikamüde kehrte er nach
Verlauf einiger
Monate nach
Europa
[* 10] zurück, wo inzwischen seine Gedichte ihre erste Verbreitung gewonnen hatten.
Die Dichtererscheinung Lenaus mußte in einer gärenden Übergangsepoche, wie die 30er Jahre waren, das höchste Interesse wachrufen. Neben der tiefen Innigkeit des Gefühls, dem melodischen Reiz seines lyrischen Ausdrucks wirkte bei seinen frühern und spätern Gedichten auch die Eigentümliche des Kolorits. Die Bilder aus seiner ungarischen Heimat verliehen namentlich den kleinern epischen Dichtungen Lenaus ihren unwiderstehlichen Reiz, und die Mischung kräftiger Züge der Wirklichkeit und elegischer Grundstimmung kam ¶
mehr
auch den erzählenden Dichtungen ohne ungarischen Hintergrund zu gute, welche neben zahlreichen lyrischen Gedichten in der
ersten Zeit nach der Rückkehr aus Amerika entstanden. Das Jahrzehnt zwischen 1833-43 verbrachte der Dichter abwechselnd in
Wien und in Schwaben. Seine erste größere Dichtung: »Faust« (Stuttg. 1836; für die Bühne eingerichtet von
Gramming,
Münch. 1869), weder eine eigentlich epische noch eine dramatische Dichtung, sondern eine Reihe zum Teil farbenprächtiger Lebensbilder,
durch welche eine skeptische, unselig mit Gott und Welt zerfallene Natur hindurchgeht, vermehrte den Ruf, dessen sich der Dichter
bereits erfreute. In ihm selbst aber nagte, trotz allen poetischen Gelingens, eine schmerzliche Unbefriedigung,
die auch in der wachsenden Schwermut seiner Dichtungen zu Tage trat. Vielfache Herzenserlebnisse, Erschütternden und Enttäuschungen,
die Rastlosigkeit eines beständigen Reiselebens und der nie ruhende Widerspruch seiner persönlichen Neigungen und seiner
Geistesziele steigerten die nervöse Reizbarkeit des Dichters Schritt für Schritt. Außer den »Neuern Gedichten« (Stuttg.
1838, 2. vermehrte Auflage 1840) erschienen die größern Dichtungen: »Savonarola« (das. 1837, 5. Aufl.
1866) und »Die Albigenser« (das. 1842, 4. Aufl. 1873), welche beide alle
Vorzüge des Lenauschen Talents: die Tiefe der Empfindung, die Glut und Farbenpracht der Schilderung, den Schwung echter Begeisterung,
in einer Reihe glänzender Situationen und Bilder aufweisen, aber beide mehr geniale Fragmente als geschlossene
Kunstwerke sind. Im »Savonarola« hielt Lenau wenigstens noch die einheitliche Form fest, in den »freien Gesängen« der »Albigenser«
verzichtete er auch auf diese und erzielte darum nur fragmentarische Eindrücke.
Sein letztbegonnenes Gedicht: »Don Juan« (im »Nachlaß« erschienen),
schloß sich in der Kompositionsweise völlig dem »Faust« an.
Die Vollendung desselben war Lenau leider nicht beschieden. Im Sommer 1844 überraschte der Dichter seine Freunde durch
die Nachricht von
seiner glücklichen Verlobung;
wenige Monate später aber ward er im Hause seines Freundes, des Hofrats Reinbeck in Stuttgart, vom Wahnsinn ergriffen.
Seine Geisteskrankheit erwies sich als völlig unheilbar; Lenau ward
daher nach der Irrenanstalt Oberdöbling bei Wien gebracht, wo ihn erst der Tod von
seinen Leiden
[* 12] erlöste. Seine
»Gedichte« (Vereinigung der beiden obigen Sammlungen) sind seitdem in zahlreichen
Auflagen erschienen; sonst ist von seinen Publikationen noch der »Frühlingsalmanach« (Stuttg.
1835-36, 2 Jahrg.) zu erwähnen. Seinen dichterischen »Nachlaß« (Stuttg. 1851) und seine »Sämtlichen
Werke« (das. 1855, 4 Bde.;
illustriert Ausg. 1881, 2 Bde.) gab
Anastasius Grün, dem Dichter im Leben eng befreundet, heraus.
Von den neuern Ausgaben sind die vom Bibliographischen Institut in Leipzig [* 13] veranstaltete (mit Anmerkungen etc., 1882, 2 Bde.) und die Hempelsche (Berl. 1883, 2 Bde.) zu nennen.
Vgl. Schurz, Lenaus Leben, großenteils aus des Dichters eignen Briefen (Stuttg. 1855, 2 Bde.);
E. Niendorf, Lenau in Schwaben (Leipz. 1853);
K. Mayer, Lenaus Briefe an einen Freund (Stuttg. 1853);
Frankl, Zu Lenaus Biographie (2. Aufl., Wien 1885);