Niederdeutsche
Litteratur
, die in niederdeut
scher Mundart geschriebene Litteratur
stand in ihren ältesten
Erzeugnissen (etwa 800-900) nicht unebenbürtig neben der ihr an
Ausdehnung
[* 2] freilich überlegenen hochdeutschen (s.
Deutsche Litteratur).
[* 3] Ein so umfängliches allitterierendes Epos wie den Heliand (s. d.)
kennt das übrige
Deutschland
[* 4] nicht; eine epische altsächs. Behandlung der «Genesis»
ist leider nur in Bruchstücken auf uns gekommen; auch das überaus wertvolle Hildebrandslied (s. d.),
der einzige Rest des altdeutschen Heldensanges, war ursprünglich wohl niederdeutsch;
die freilich sehr geringfügigen Überbleibsel
niederdeut
scher
Prosa
(«Kleinere altniederdeutsche
Denkmäler», hg. von Heyne, 2. Aufl., Paderb. 1877;
Gallée,
«Altsächsische Sprachdenkmäler»,
Leid. 1895), meist
Übersetzungen aus dem
Lateinischen geistlichen
Inhalts, zeigen
mehr deutsches Sprachgefühl als die meisten hochdeutschen Versionen derselben Zeit. Aber unter den Ottonen, im 10. Jahrh.,
wird auch hier die
deutsche Litteratur durch das höfische Latein zurückgedrängt.
Von da an verstummt die niederdeutsche Litteratur
bis in die Mitte des 13. Jahrh. Inzwischen hatte die mittelhochdeutsche höfische
Sprache
[* 5] und
Dichtung eine solche modische Macht gewonnen, daß noch im ganzen 13. bis tief ins 14. Jahrh.
diejenigen, zumal adligen Dichter niederdeut
scher Herkunft, die
Stoffe des
Minnesanges und des höfischen
oder antikisierenden Epos behandelten, sich meist nicht der heimischen, sondern der dem Hochdeutschen nahe stehenden mitteldeutschen
Mundart bedienten.
Mit der wachsenden Bedeutung der
Hansa und damit des niederdeut
schen
Bürgerstandes geht freilich auch ein Steigen der mittelniederdeutschen
Litteratur
Hand
[* 6] in
Hand; doch besteht sie größtenteils aus Umdichtungen aus dem Hochdeutschen und
Niederländischen
und entfaltet ein starkes selbständiges Leben eigentlich nur in wenigen
Poesien von derb realistischem
Humor, in vereinzelten
Erzeugnissen inniger
Lyrik und namentlich in einer Prosa, die der hochdeutschen in vielem vorangeht. An ihrer
Spitze steht
um 1230
Eike von Repkow mit seinem «Sachsenspiegel» (s. d.),
einem ausgezeichneten
Codex des echten sächs.
Land- und Lehnrechts von fast unabsehbaren Wirkungen, der
auch in
Niederdeutschland, zumal in
Hamburg
[* 7] und Lübeck,
[* 8] zahlreiche niederdeutsche
Rechtsbücher hervorrief.
Ebenso eröffnet die sog. «Repkowische Weltchronik»
(vor 1250) die prosaische Geschichtschreibung in deutscher
Sprache; früher hatte man im
Süden und Norden
[* 9] die Geschichte nur
in lat. Prosa behandelt oder in deutschen Reimpaaren, wie z. B.
in der niederdeutschen
Gandersheimer Reimchronik des Priesters
Eberhard (1216) u. a.; Weiland hat die ältesten niederdeutschen
Chroniken im 2.
Bande der
«Deutschen
Chroniken und andern Geschichtsbücher des Mittelalters» (in den «Monumeta
Germaniae historica. Scriptores, qui vernacula lingua usi sunt») gesammelt.
Von
Dichtungen anderer Art gehört nur noch der «Kaland»
des
Pfaffen Konemann aus Dingelstedt am Huy (1250, hg. von Euling im «Niederdeutschen
Jahrbuch», 1893) dem 13. Jahrh. an, ein Lobgedicht auf jene religiöse
Brüderschaft, die Konemann als einen
Bund der Liebe
und
Treue rühmt. Indessen ist nicht zu bezweifeln, daß der Heldensang in unaufgeschriebenen Liedern
seit ältester Zeit und noch damals zumal in den untern
Kreisen fortlebte; dafür zeugt die nordische
Thidrekssaga, die großenteils
auf
Berichten sächs.
Männer aus dem 13. Jahrh. beruht, dafür zeugen trotz ihrer erheblich jüngern Überlieferung
Lieder wie «Koninc Ermenrîkes dôt» (hg. von
Goedeke, Hannov. 1851) und das ursprünglich wohl auch niederdeutsche
jüngere Hildebrandslied, die schon durch ihre geringe Strophenzahl ein
Bild von dem lebendigen Volksgesange geben.
Die sehr viel reichere niederdeutsche Litteratur
des 14. und 15. Jahrh. ist überwiegend
geistlich;
die Legende blüht, zumal in mystischer Färbung, am Niederrhein;
mehrere in Klöstern angelegte Liederbücher (das älteste die Ebstorfer Handschrift) überliefern geistliche Lieder, darunter das beliebte «Mühlenlied», die Schilderung ¶
mehr
der Erlösung unter der gequälten Allegorie einer Mühle;
durch Predigten und Erbauungsbücher ragte hervor der zu den Brüdern vom gemeinsamen Leben gehörige Joh. Veghe (hg. von Jostes, Halle [* 11] 1883);
die Bibel
[* 12] war seit 1480 in niederdeutschen
Drucken weitverbreitet
und viel gelesen;
allegorische Lehrgedichte, z. B. Friedr. von Hennenbergs «Geistliche Rüstung», [* 13] spenden billige geistliche Weisheit;
das Motiv des Totentanzes fand, zumal im Anschluß an ein berühmtes Lübecker Bild, mehrfache poet.
Behandlung. Eine Hauptquelle dieser geistlichen Litteratur
ist uns das sog.
«Hartebok» (Herzbuch), das wie viele ähnliche niederdeutsche
Sammlungen
angelegt war für die Bedürfnisse von Kaufleuten, die in die Fremde ziehend Lesestoff mitnahmen. Denn
nur in Ausnahmefällen entfaltete die deutsche Kolonie im Ausland so reges geistiges Leben, daß sie selbst produzierte; so
scheinen freilich in einem Brügger Kreise
[* 14] niederdeutscher
Kaufleute die Romane «Valentin und Namelos» (hg. von Seelmann, Norden
1884),
«Flos und Blankflos» (hg. von Wätzoldt, Brem. 1881) und manche kleinere Erzählungen entstanden
zu sein, von den ähnliche Stoffe behandelnden hochdeutschen Romanen schon durch ihre lakonisch sachliche Knappheit unterschieden.
Die auf sächs. Boden erwachsene weltliche poet. Litteratur
gehört, abgesehen von unbedeutenden didaktischen Dichtungen, wie
dem medizinischen «Spiegel
[* 15] der Natur» von Eberh. von Wampen, Botes «Boek van veleme Rade» und zahlreichen polit.
Liedern, unter denen besonders die Lieder der für ihre Freiheit kämpfenden Dithmarschen berühmt sind,
wesentlich der Tierdichtung und dem Drama an; mehrere Bearbeitungen Äsopischer Fabeln, die ältere von dem Mindener Dekan
Gerhard von Minden
[* 16] um 1370 verfaßt (hg. von Hoffmann von Fallersleben, Berl. 1870; vgl.
Seelmann, Gerh. von Minden, Brem. 1878), dazu die beliebte Gattung der sog. Vogelparlamente, befriedigen
eine litterar. Liebhaberei, die ihre Krönung findet in der niederdeutschen
Übersetzung des niederländ. Tierepos, im «Reinke
de Vos» (Lübeck 1498). Während dieses weit verbreitete Gedicht im Grunde nur die genaue Wiedergabe des niederländ. «Reinaert»
in Hinriks von Alkmar Bearbeitung ist, während «Dat nye Schip van Narragonien» (hg. von Schröder, Schwerin
[* 17] 1892) lediglich Brants Narrenschiff übersetzt, darf mindestens in seinem Kern das prosaische Volksbuch vom «Eulenspiegel»
(s. d.) Anspruch auf originell niederdeutsche Erfindung machen.
Die unflätige Komik dieses Buches fehlt dem niederdeutschen Fastnachtspiel (vgl. Mittelniederdeutsche Fastnachtspiele, hg. von Seelmann, Norden 1885) im 15. Jahrh. noch fast ganz; die Lübecker Zirkelbrüder bevorzugten lehrhafte Stücke zur Fastnacht, etwa einen Dialog zwischen Leben und Tod u. ähnl. Dagegen hat das geistliche Drama in Arn. Immessens «Sündenfall» (hg. von Schönemann, Hannov. 1855),
im «Redenthiner Osterspiel» (hg. von K. Schröder, Norden 1893; Faksimile von Freybe, Schwerin 1892) und vor allem in dem in mehrfacher Fassung erhaltenen «Theophilus» (s. d.), der sogar als Trilogie behandelt wurde, entschiedene Höhepunkte reich und realistisch belebter Handlung erreicht. Daneben gedeiht die prosaische Geschichtschreibung zumal in Lokalchroniken fort, unter denen die Magdeburger «Schöppenchronik» (hg. von Janicke, Lpz. 1869) und die Lübische Chronik des Franziskaner-Lesemeisters Detmar zu Lübeck (hg. von Grautoff, Hamb. 1830; von Koppmann, Lpz. 1884) erwähnt seien.
Mit der Reformation gewinnt die mitteldeutsche Sprache als die Sprache Luthers schnell wachsenden Einfluß auf niederdeutschem Boden. Las man zunächst noch Luthers Bibel, sang man Luthers Lieder in niederdeutscher Bearbeitung, so wird schon 1621 zu Goslar [* 18] die letzte niederdeutsche Bibel, werden um 1630 in Hamburg und Greifswald [* 19] die nahezu letzten plattdeutschen Gesangbücher gedruckt; ebenso weicht seit 1550 in der Kanzlei, der Predigt u. s. w. die Muttersprache vor der hochdeutschen Schriftsprache sichtlich zurück.
Mit wenigen Ausnahmen (H. Bonn) [* 20] haben auch Dichter niederdeutschen Stammes prot. Kirchenlieder stets hochdeutsch verfaßt. Hatte in den ersten Zeiten der reform. Kämpfe das niederdeutsche satir. Tendenzdrama noch treffliche Vertreter in dem Lutheraner Bado (1523) und dem genialen Papisten Daniel von Soest [* 21] (1534), so wird seit dem letzten Viertel des Jahrhunderts das Niederdeutsche fast nur noch in komischen Zwischenspielen ernster hochdeutscher Dramen verwandt, z. B. von Gabr.
Rollenhagen, Joh. Rist, J. ^[Johann] Lauremberg und noch in den Hamburger Opern, oder in derben Bauernkomödien (hg. von Jellinghaus in der «Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart», [* 22] Stuttg. 1880; «Niederdeutsche Schauspiele älterer Zeit», hg. von Bolte und Seelmann, Norden 1895); ernste Dramen in niederdeutscher Sprache, wie Strickers «Dudescher Schlömer» (1584; Neudruck von Bolte, Norden 1889) oder gar Köks «Elias» (1630) sind isolierte Erscheinungen.
Schon 1538 wurde Kantzows ursprünglich plattdeutsch geschriebene pommersche Chronik hochdeutsch umgegossen, und so ging es
im Laufe des Jahrhunderts noch manchem andern niederdeutschen Original. Mit dem Dreißigjährigen Kriege ist der Untergang der
niederdeutsche Litteratur
trotz des Widerstrebens mancher patriotisch gesinnten Niedersachsen
entschieden; Spätlinge, wie des Neocorus «Chronik von Dithmarschen», die harte Sektiererin Anna Owena Hoyers mit ihrem «Dänischen
Dörppapen» (1650),
die Satyriker Lauremberg, (s. d.) mit seinen ausgezeichneten «Scherzgedichten» (1652) und Abel (1696 und 1717; Neudruck Münch. 1891), der humoristische Prediger Jak. Sackmann u. a. konnten daran nichts ändern.
Seitdem ist alle Litteratur
in niederdeutscher Sprache eben nur Dialektlitteratur.
Warmer gemütlicher
Humor, derbkräftiges Behagen eignet zumal den Dichtungen Fritz Reuters, hinter dem andere Humoristen, wie Brinckman u. s. w.,
zurücktreten;
in Klaus Groths «Quickborn» zeigt sich die niederdeutsche Sprache vereinzelt auch ernster lyrischer Wirkungen fähig;
doch ist auf diesem Gebiete schwerlich Großes von ihr zu erwarten;
sie hat von jeher, seit «Eulenspiegel»
und «Reinke», ihre Triumphe in der humoristischen Dichtung gefeiert. - Material für die Geschichte der niederdeutsche Litteratur
enthält namentlich
das «Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung» (Bd.
1-18, Brem. und Norden 1875-94),
die «Niederdeutschen Denkmäler» (6 Bde., Brem. 1876 fg.) und die «Drucke des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung» (Norden 1885 fg.);
vgl. ferner Jellinghaus in Pauls «Grundriß der german. Philologie», Bd. 2, 1 (Straßb. 1890);
Gädertz, Das niederdeutsche Schauspiel (2 Bde., Berl. 1884).