Neurōsen
(griech.), Funktionskrankheiten des Nervensystems, s. Nervenkrankheiten.
Neurosen
123 Wörter, 913 Zeichen
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
(griech.), Funktionskrankheiten des Nervensystems, s. Nervenkrankheiten.
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Neurosen
(grch.), Nervenkrankheiten, bei denen man keine materielle (anatom. oder chem.)
Veränderung der Nerven
[* 2] oder ihrer Hüllen als greifbare Ursache nachgewiesen hat, womit indes nicht behauptet
werden soll, daß ihnen auch keine solche zu Grunde liegt. Die Neurosen
treten ebenso auf als Störungen der Empfindung oder der
Bewegungen, wie die übrigen Nervenkrankheiten. Man teilt die Neurosen
weiter ein nach dem erkrankten Organ und
spricht so von einer Neurose des Herzens (mit Herzklopfen oder schmerzhafter Empfindung in der Herzgegend), einer Neurose der
Harnblase, des Darmkanals u. s. w., und trennt von diesen diejenigen Neurosen
, welche, wie der
Veitstanz, die Epilepsie, der Starrkrampf, die Hysterie und Hypochondrie (s.d.), den ganzen Organismus ergreifen. Über die sog.
vasomotorischen Neurosen
(Angioneurosen) s. Nervenkrankheiten.
im weitesten Sinn umfassen alle Krankheiten des Gehirns, des Rückenmarks, des Sympathikus und der peripherischen Nerven, von denen nur die Geisteskrankheiten (s. d.) auch im gewöhnlichen Sprachgebrauch ausgenommen sind. Im engern Sinn versteht man unter Nervenkrankheiten oder Neurosen nur die Anomalien der Empfindungs- und Bewegungsnerven; allein da die Symptome, z. B. Schmerz, Krampf (s. d.), Lähmung (s. d.), sowohl bei Erkrankung der Zentralorgane als auch bei örtlichen Leiden [* 4] der Nerven selbst vorkommen, so kann nur ein wissenschaftlich gebildeter Nervenarzt entscheiden, ob im gegebenen Fall eine Nervenkrankheit im engern oder weitern Sinn vorliegt.
Erkrankte Empfindungsnerven zeigen nun die folgenden Symptome:
1) Abnahme der Gefühlswahrnehmung (Anästhesie), und zwar hat der Arzt zu prüfen, ob diese Unempfindlichkeit die empfindenden Endapparate betrifft, d. h. den Tastsinn, oder den Drucksinn, welcher uns über die Schwere der Körper unterrichtet, oder den Muskelsinn, der uns die Lage und Haltung unsers Körpers zum Bewußtsein bringt und die Kraft [* 5] abschätzt, mit welcher wir zu den verschiedenen Zwecken unsre Hände und Füße in Thätigkeit zu setzen haben, oder ob die Anästhesie im Verlauf der Nervenbahn, z. B. in einer Geschwulst oder in einem Druck, zu suchen ist, welcher den Nervenstamm betroffen hat, oder ob sie endlich zentralen Ursprungs ist, d. h. von einem Leiden des Gehirns (Hysterie, Blutungen etc.) oder des ¶
Rückenmarks (Rückenmarksschwindsucht, Tabes dorsalis) ihren Ausgang nimmt. Die Erscheinungen beginnen mit dem leichtesten Taubsein und können sich zur vollen Gefühllosigkeit, zuweilen mit Ameisenkribbeln, oft verbunden mit heftigen Schmerzen, Ernährungsstörungen der gefühllosen Teile, steigern. Sofern man die Behandlung gegen ein örtliches Leiden oder gegen eine mit dem Beruf zusammenhängende Störung der Haut [* 7] richten kann, wie bei der Anästhesie der Wäscherinnen, nach Karbolgebrauch, Frostschaden, ist eine Aussicht auf völlige Heilung vorhanden, während bei den zentralen Ursachen das Grundleiden kaum je direkt in Angriff genommen werden kann; der Arzt ist alsdann genötigt, sich auf örtliche Reizungen der Haut, namentlich mit dem elektrischen Pinsel, sowie auf Hebung [* 8] des Ernährungszustandes zu beschränken.
2) Nervenschmerzen (s. d.), welche meist mit Unterbrechungen auftreten, sehr heftig, bohrend, stechend, reißend sind und sich genau auf den Verbreitungsbezirk eines ganz bestimmten Nervs beschränken und wegen dieser Abgrenzung zum Unterschied von andern allgemeinen Schmerzen bei Verletzungen, Entzündungen etc. als Neuralgien bezeichnet werden. Die bekanntesten Formen dieses Leidens sind der Gesichtsschmerz (s. d., Tic douloureux), welcher aus einer Neuralgie im Nervus trigeminus beruht, die Ischias oder das Hüftweh (s. d.), der habituelle Kopfschmerz (s. d.), und in neuerer Zeit hat man beobachtet, daß eine Gruppe von Gelenkleiden, welche man früher für entzündliche hielt, gleichfalls als Nervenkrankheiten aufzufassen ist (s. Gelenkneurose). Die Behandlung der sämtlichen Neuralgien erfordert gute Ernährung, zuweilen den Gebrauch von Luftkuren, von Chinin, Eisen [* 9] etc.; am erkrankten Nerv wirken häufig Ableitungen durch Blasenpflaster oder Veratrinsalbe, Einspritzungen von Morphium oder 3proz. Karbolsäure an oder in den kranken Nerven, Elektrizität [* 10] und innerlicher Gebrauch von Bromkalium oder Arsen.
3) Lähmung, welche entweder nur den Verbreitungsbezirk eines einzigen Bewegungsnervs betrifft (Monoplegie), oder halbseitig ist (Hemiplegie), oder beide Seiten betrifft (Paraplegie). Auch diese Form der Nervenkrankheiten ist nur als ein Symptom anzusehen, welches nur in einer gewissen Anzahl von Fällen, namentlich der Monoplegien, auf eine Erkrankung oder Verletzung im Lauf des Nervenstammes selbst zu beziehen ist, während die Ursache der halbseitigen Lähmungen, z. B. des Gesichtsnervs (Nervus facialis), im Gehirn, [* 11] diejenige der doppelseitigen im Rückenmark zu liegen pflegt.
Namentlich die letzte Gruppe der reinen Rückenmarkslähmungen ist oft von einem auffallenden Muskelschwund begleitet, ein Umstand, aus welchem man auf einen eigentümlichen Einfluß der grauen Rückenmarkshörner auf die Ernährung der Muskeln [* 12] schließt. Ist der gelähmte Teil leicht beweglich durch den untersuchenden Arzt, so liegt eine schlaffe Lähmung vor; wenn der gelähmte Muskel einen gewissen Widerstand entgegensetzt, so ist die Lähmung eine spastische. Über die von der neuern Nervenheilkunde aufgestellten typisch wiederkehrenden Krankheitsbilder vgl. Lähmung.
4) Krämpfe, d. h. Reizerscheinungen im Gebiet der Bewegungsnerven, welche sich in Bewegungen der Muskeln kundgeben, die ohne den Einfluß des Willens, ja gegen denselben zu stande kommen (s. Schreibkrampf). Unter mannigfachen technischen Bezeichnungen unterscheidet man: a) epileptiforme Konvulsionen, bei welchen der ganze Körper in stoßende oder schüttelnde Krämpfe gerät (s. Epilepsie); b) rhythmische Zuckungen in einzelnen Muskelgebieten, welche in regelmäßigem Tempo erfolgen, z. B. nach Gehirnschlag; c) Zitterbewegungen, wie sie bei chronischem Alkoholismus (s. Trunksucht), bei der Paralysis agitans vorkommen (s. Lähmung); d) einzelne Zuckungen, welche vom Rückenmark ausgehen; e) fibrilläre Muskelzuckungen, welche keine Bewegungen auslösen, sondern nur in kleinen Gruppen von Muskelfasern sich abspielen und in atrophierenden Muskeln beobachtet werden; f) choreatische Bewegungen (s. Veitstanz); g) athetose (»gesetzlose«) Bewegungen, d. h. langsam ablaufende, meist an den Händen vorkommende Spreizungen mit nachfolgendem krampfartigen Zusammen- oder Übereinanderlegen der Finger, welche zuweilen bei Kindern neben halbseitigen Lähmungen vorkommen; h) Zwangsbewegungen, welche sich als Lachkrämpfe, Schreikrämpfe, Weinkrämpfe, in Fällen schwerer Erkrankungen oder Verletzungen der Gehirnrinde auch in drehenden, wälzenden, überschlagenden Bewegungen des ganzen Körpers äußern; i) tonische Krämpfe (s. Krampf u. Wundstarrkrampf); k) kataleptische Starre, ein Zustand, bei welchem die Muskeln nicht dem Willen unterliegen und in der Stellung, in welche sie durch einen andern gebracht werden, verharren.
5) Störungen der Koordination der Bewegungen (Ataxie), wobei die Muskeln zwar ihre volle Kraft noch besitzen, aber ihr harmonisches Zusammenwirken gestört ist. Die Ataxie wird besonders bei Krankheiten des Kleinhirns und der Rückenmarksschwindsucht beobachtet.
6) Störungen der Reflexerregbarkeit, welche im Verschwinden der Reflexerscheinungen sich äußert, so daß z. B. beim Kitzeln der Fußsohlen, Stechen mit einer Nadel keine reflektorischen Bewegungen erfolgen, wie man es bei Lähmungen des Rückenmarks an Haut und Sehnen (Sehnenreflexe, s. Kniephänomen) antrifft.
7) Als vasomotorische oder trophische Neurosen faßt man eine Gruppe von Nervenkrankheiten zusammen, welche in ihrem Wesen noch wenig bekannt sind, wahrscheinlich aber in besonders naher Beziehung zum sympathischen Nervengeflecht stehen. Hierhin gehört die Migräne (s. d.), ferner die erst in letzter Zeit näher beobachtete halbseitige Gesichtsatrophie (Hemiatrophia facialis) und die Basedowsche Krankheit (s. d.). Die Bezeichnung Neurose ist für alle Nervenkrankheiten im Gebrauch, vor allem für solche Nervenkrankheiten, bei denen anatomische Veränderungen nicht nachgewiesen werden können, welche wir demnach als funktionelle Nervenkrankheiten anzusehen pflegen (s. Nervenentzündung).
Vgl. Romberg, Lehrbuch der Nervenkrankheiten (3. Aufl., Berl. 1857);
Pierson, Kompendium der Krankheiten des Nervensystems (Leipz. 1876);
Strümpell, Krankheiten des Nervensystems (das. 1884).