Nerven
[* 2]
(Nervi), diejenigen strangartigen Gebilde im menschlichen und tierischen Organismus, welche die einzelnen
Abschnitte
des centralen
Nervensystems:
Gehirn
[* 3] und Rückenmark, mit entsprechenden peripherischen Organen:
Muskeln,
[* 4]
Haut,
[* 5] Schleimhäute
u. s. w. verbinden. (S.
Tafel: Die Nerven
des
Menschen.) Je nach der Thätigkeit, welche die Nerven
verrichten, unterscheidet man
Bewegungs- (motorische), Empfindungs- (sensible) und
Sinnes- (sensorische) Nerven.
Zu letztern gehören
u. a. der
Sehnerv und Gehörnerv. (S.
Gehirn, Bd. 7, S. 677 b fg.) Die Funktion der Bewegungsnerven
besteht darin, daß sie Bewegungsreize (Impulse), welche in der Großhirnrinde ausgelöst und durch die centralen motorischen
Bahnen dem Rückenmark zugeleitet werden, an die Endorgane des gesamten Bewegungsapparates: die quergestreiften
Muskeln, übertragen und dadurch eine Zusammenziehung (Kontraktion) derselben erregen. Da die Bewegungsnerven
Reize vom
Gehirn nach der Peripherie leiten, so gehören sie zu den centrifugalen Nerven.
Ihnen stehen die umgekehrt von der Peripherie
(Haut,
Schleimhaut,
Muskeln,
Sehnen u. s. w.) nach dem Centrum zu leitenden sensiblen Nerven
als
die centripetalen
Bahnen des peripherischen
Nervensystems gegenüber; sie vermitteln dem Rückenmark und
Gehirn die verschiedenen
Eindrücke, welche auf die Nerven
endigungen zur Entstehung einer
Tast-,
Schmerz- oder Wärmeempfindung einwirken.
Neben diesen beiden
Arten giebt es noch sog.
Gefäßnerven (vasomotorische), welche die Erweiterung oder Verengerung der
Blutgefäße
bewirken und dem sympathischen
Nervensystem (s.
Sympathicus nervus) angehören. Ob besondere (trophische)
Ernährungsnerven
existieren oder ob die Regelung des
Stoffwechsels von den sensiblen und motorischen
Bahnen mit versehen wird,
ist ungewiß. Sicher ist hingegen, daß einzelne Nerven
stränge auf die Abscheidung der verschiedenen
Drüsen (z. B. der
Speicheldrüsen)
einen Einfluß haben (sekretorische Nerven
).
Die peripherischen Nerven
beginnen, wenn man von den
Gehirnnerven absieht, am Rückenmark in Form der vordern
und hintern Rückenmarkswurzeln, welche sich in dem Zwischenwirbelnerven
knoten (Intervertebralganglion) zu einem Nerven
stamm
zusammenschließen; von hier ans gelangen die einzelnen Nerven
¶
mehr
auf längerm oder kürzerm Wege zu ihren Endausbreitungen (z. B. in den Muskeln). Aus dem Halsteil des Rückenmarks (s. d.)
treten 8 Nerven
paare, aus dem Rückenteil 12, aus dem Lendenteil 5, aus dem Kreuzbeinteil 5, aus dem Steißbeinteil 2-3 aus.
Jeder so entstehende peripherische Nerv enthält Bewegungs- und Empfindungsnerven
gemischt, von denen die
erstern den schmächtigern vordern, die letztern den dickern hintern Wurzeln entstammen. Das Aussehen der Nerven
ist weiß, ihr
Gefüge ziemlich derb und fest, strangartig, ihr Umfang außerordentlich wechselnd.
Der dickste Nerv ist der Hüftnerv (nervus ischiadicus), welcher die Nervenbahnen für die Beugeseite des Oberschenkels sowie für den Unterschenkel und Fuß enthält. Jeder Nerv besteht aus einer Summe von Nervenfasern, welche ihrem feinern Bau nach in markhaltige oder weiße und marklose oder graue geteilt werden. Die markhaltigen Nervenfasern bestehen aus einer äußern bindegewebigen Scheide (Schwannsche Scheide) und aus einem Hohlcylinder von Nervenmark (einem fettähnlichen Körper), in welchem der Achsencylinder, der die Nervenreize leitende Teil, verläuft; die marklosen Nervenfasern entbehren des Nervenmarkes.
Das Kaliber der einzelnen Markfasern ist sehr verschieden. Der Durchmesser beträgt 0,002 bis 0,02 mm. Die Nervenfasern teilen sich auf ihrem Wege vom Centralorgan nach der Peripherie; hierdurch wird es erklärlich, daß die Zahl der Fasern in einem Nerv mit der Entfernung vom Rückenmark wächst. Aus diesem Verhalten läßt sich ohne weiteres auch noch der Schluß ziehen, daß eine in der Nähe des Rückenmarkes verlaufende Nervenfaser die Reize von mehrern an der Peripherie gelegenen Fasern übernehmen muß. Die Endigung der peripherischen Nerven ist verschieden; die Bewegungsnerven enden an den Muskelfasern mit plattenförmigen Gebilden (motorische Endplatte), die Empfindungsnerven in Form von kolben- oder knopfartigen Ausläufern.
Die motorischen Nerven nehmen von den Nervenzellen (Ganglienzellen) [* 7] der grauen Vorderhörner des Rückenmarkes (s. d.) ihren Ausgang in der Weise, daß in einer sehr frühen Entwicklungsperiode von jeder Nervenzelle ein Fortsatz (Ganglienzellenfortsatz) durch die vordern Wurzeln hindurchwächst und sich mit einer bestimmten Muskelfaser verbindet. Die sensiblen Nerven entstehen in ähnlicher Weise von dem Zwischenwirbelnervenknoten, nur gehen von jeder Nervenzelle zwei Fortsätze ab, deren einer durch die hintern Wurzeln in das Rückenmark einwächst, deren zweiter in entgegengesetzter Richtung in die peripherischen Nerven eindringt und sich mit der Haut u. s. w. verbindet. Die marklosen Nervenfasern, welche dem nervus sympathicus angehören, sind in ähnlicher Weise Zellenfortsätze der sympathischen Ganglienzellen und liegen zu beiden Seiten der Wirbelsäule in dem sog. Grenzstrang, der seinerseits mit den aus den Rückenmarkswurzeln entstehenden Nerven vielfache Verbindungen eingeht, vereinigt.
Die Funktion der peripherischen Nerven besteht in der Fortleitung eines vom Gehirn oder Rückenmark oder den Nervenendigungen in der Haut ausgehenden Reizes und Übertragung desselben auf das zugehörige Endorgan. So wird ein Willensreiz, der eine bestimmte Bewegung hervorruft, von der Gehirnrinde durch das verlängerte Mark auf das Rückenmark übertragen, von den Nervenzellen des Rückenmarkes an ihre Fortsätze, die Bewegungsnerven, abgegeben und von diesen den einzelnen Muskeln zugeleitet, in deren Kontraktion der Nervenerregungsvorgang endlich greifbar zu Tage tritt.
Wird hingegen ein Gefühlsnerv in Erregung versetzt oder gereizt (durch Druck seiner Nervenendigungen z. B.), so wird der Reiz nach dem Rückenmark geleitet, gelangt durch dasselbe in das Gehirn, wo er im Bewußtsein das auslöst, was man Schmerz oder Druck nennt. Es ist hiernach begreiflich, daß die Unterbrechung des Leitungsvermögens der Nerven, welches an deren normalen Aufbau gebunden ist, Störungen in der Bewegung und in der Empfindung zur Folge haben muß; so werden, wenn die Erregbarkeit der Nerven nur herabgesetzt ist, die Bewegungen schwächer ausfallen, die Empfindungen undeutlicher sein als normal; ist die Erregbarkeit erloschen durch Unterbrechung der Leitung, so wird jede Bewegung und Empfindung in den zugehörigen Körperteilen aufgehoben sein (motorische und sensible Lähmung). Außer den die Gefühlseindrücke vermittelnden Bahnen giebt es jedoch noch eine große Zahl centripetal leitender Fasern, welche dazu dienen, das Rückenmark und Gehirn von dem jeweiligen Zustand (in Bezug auf Ernährung, Lage, Thätigkeit u. s. w.) der einzelnen Organe zu unterrichten, ohne dabei aber in das Bewußtsein vorzudringen.
Die Schnelligkeit, mit welcher ein Reiz im Nerv sich fortpflanzt, hat man auf 33 m in der Sekunde berechnet. Jeder Nerv antwortet auf einen Reiz, gleichviel wo und wie jener einwirkt, nur mit der ihm eigentümlichen Energie, d. h. der Bewegungsnerv kann auf einen Reiz nur zu einer Bewegung, der Empfindungsnerv nur zu einer Empfindung führen. Für die Empfindungsnerven gilt ferner noch das Gesetz, daß die den Nervenstamm in seinem Verlaufe treffenden Erregungen so empfunden werden, als ob sie die Nervenendigungen getroffen hätten; stößt man sich z. B. an die innere Hälfte des Ellbogens, so spürt man ein Kriebeln und Ameisenlaufen im kleinen und vierten Finger, wo die Nervenfasern des am Ellbogen gequetschten Nervs endigen. (Gesetz von der peripherischen oder excentrischen Lokalisation.) - Die Lehre [* 8] von den Nerven bildet einen eigenen, gewöhnlich Neurologie genannten Zweig der Anatomie.
Litteratur. Foster, Physiologie (deutsch von O. Schmidt, 2. Aufl., Straßb. 1890);
Gegenbaur, Lehrbuch der Anatomie des Menschen (2 Bde., 6. Aufl., Lpz. 1895);
Waldeyer, über einige neuere Forschungen im Gebiete der Anatomie des Nervensystems (in der «Deutschen mediz. Wochenschrift», 1891, Nr. 44 fg.).