Naturgefühl
,
die
Empfänglichkeit für das
Schöne,
Erhabene und die verborgene Gesetzmäßigkeit der
Natur, welche bei
den einzelnen Völkerstämmen und in verschiedenen Zeitepochen den mannigfachsten
Wandlungen und Kultureinflüssen unterliegt.
Man hat in neuerer Zeit behauptet, daß das Naturgefühl
eine neuere Errungenschaft und ein Erbteil des germanischen
Geistes sei, welches den
Romanen und andern
Stämmen mehr oder weniger abgehe; doch zeigt schon eine geringe Vertiefung in die
Weltlitteratur, daß diese
Ansichten unhaltbar sind, und wenn z. B. die Alpenlandschaft erst seit wenigen
Jahrhunderte Besucher
anzieht, so haben die verbesserten Wege und gewisse Kulturbedürfnisse ihren wesentlichen
Anteil dabei.
Bereits in der
Dichtung Altindiens, namentlich aber bei
Kalidasa, spricht sich ein überaus lebhaftes Naturgefühl
aus, das
Buch
Hiob bezeugt,
daß dasselbe den
Semiten nicht mangelte, die zu
Delphi gesungenen Frühlingspäane und zahlreiche Schilderungen
griechische Dichter und
Prosaiker von
Homer
an lassen die
Stärke
[* 2] desselben bei den Griechen erkennen, was ja auch bei dem engen
Anschluß ihrer
Religion an Naturkultus nicht anders erwartet werden kann. Im spätern
Rom
[* 3] machte sich, wie
in jeder sich verfeinernden
Kultur, zunächst eine Abkehr von der
Natur fühlbar: der im
Gegensatz zu dem naiven Naturgefühl
der Naturvölker
ein sentimentaler
Rückschlag folgte, eine erkünstelte
Übertragung des Naturgefühls
, welche sich in der Vorliebe für bukolische
Dichtungen, gekünstelte
Gärten- und Villenanlagen kundgab, wie
sie der jüngere
Plinius in seinen
Briefen
schilderte und in
Hadrians Villa (s. d.) zu
Tivoli mit allem
Raffinement (Tempethal) verwirklicht ward.
Von den germanischen
Stämmen hat man daher auch behauptet, ihr Naturgefühl
sei noch frischer, weil sie nicht durch eine so alte
Kultur
hindurchgegangen wären. Das aufsteigende
Christentum wirkte in gewisser
Weise auf Ertötung des Naturgefühls
hin, sofern seine Verkünder die
Natur als mit dem
Fluch behaftet und die
Freude selbst nur am Nachtigallgesang als
Sünde und
Ableitung von der notwendigen
Buße hinstellten und die
Schönheit des
Paradieses auf
Kosten des irdischen Jammerthals erhoben.
Das
Jahrhundert der
Entdeckungen belebte dann das Naturgefühl
durch die Schilderungen der Üppigkeit fremder
Zonen, die schon
Kolumbus, der mehrmals das irdische
Paradies entdeckt zu haben glaubte, begeistert pries. Es begann eine Zeit
der romantischen Naturbegeisterung, die sich namentlich in den farbenprächtigen Schilderungen des
Calderon und in den
»Lusiaden«
des
Camoens ausprägte. Die
Erhebung der
Landschaftsmalerei (s. d.) zur selbständigen
Kunst im 16. und 17. Jahrh.
darf als äußeres Zeichen der damaligen
¶
mehr
gesunden Wandlung des Naturgefühls
betrachtet werden; sie lenkte aber mit den Poussins und Claude Lorrain wieder in eine idealisierende
und schließlich sentimentale Richtung ein. Die Befreiung von dem »falschen Regelzwang« ging diesmal thatsächlich
von den germanischen Stämmen aus, namentlich von England, wo Shakespeare als Bahnbrecher gewirkt und der neue Geist
besonders in der Gartenkunst zum Durchbruch kam. Inzwischen hatte das Naturgefühl
eine beständige Vertiefung durch die steigende
Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit alles Geschehens gewonnen: Kopernikus, Kepler, Newton und Herschel hatten die Wirksamkeit der
irdischen Naturgesetze bis in die fernsten Himmelsräume dargethan;
ein innerer Zusammenhang zwischen Bodenbildung, Klima, [* 5] Pflanzen-, Tier- und Menschenleben drängte sich ins Bewußtsein, und wenn auch die romantische Schule nochmals eine märchenhafte, unheimliche Naturbelebung heraufbeschwor, die in der zeitgenössischen Philosophie ihren Widerhall weckte, so wurde diesen Auswüchsen durch das Gewicht Goethes und A. v. Humboldts bald wieder der Boden entzogen, während durch Darwin die Erkenntnis des Zusammenhangs alles Lebens unter sich und mit der Umgebung angebahnt wurde.
Vgl. Humboldt,
Kosmos, Bd. 2; Biese, Die Entwickelung des Naturgefühls
bei den Griechen und Römern (Kiel
[* 6] 1882-84, 2 Bde.);
Derselbe, Die Entwickelung
des Naturgefühls
im Mittelalter und in der Neuzeit (Leipz. 1888).