Naturell
(franz. naturel), der Inbegriff der ganzen leiblichen
Eigentümlichkeit des
Individuums, sofern seine geistige dadurch bleibend beeinflußt wird. Dasselbe unterscheidet sich sowohl
von der leiblichen
Natur, bei welcher von deren Einfluß auf den
Geist abgesehen, als von dem
Temperament (s. d.), bei welchem
nur der Einfluß des
Nervensystems auf denselben berücksichtigt wird. Streng genommen hat jeder
Mensch,
weil unter besondern äußern physikalischen Einflüssen
(Boden,
Klima,
[* 2] Nahrungsverhältnissen etc.) und von besondern Eltern
(Goethes »Frohnatur« von der
Mutter,
»Statur« und »des
Lebens ernste
Führung« vom
Vater) geboren, sein eignes Naturell.
Wird im weitern
Sinn die ganzen
Familien,
Stämmen, Völkern, die unter gemeinsamem Himmelsstrich und verwandten physischen
Bedingungen leben,
sowie die Geschlechtern und
Lebensaltern allenthalben gemeinschaftliche leibliche
Beschaffenheit in Betracht gezogen, so läßt
sich von einem
Familien-,
Stammes-,
Volks- sowie von einem
Geschlechts- und Altersnaturell
sprechen.
Südlichen Völkern wird ein hitziges, nördlichen ein kälteres Naturell
beigelegt;
gewisse
Familien, z. B. die der ersten römischen
Cäsaren, zeichneten sich durch ein erbliches Naturell
(»Cäsarenwahnsinn«)
aus;
große Herrscherinnen, wie
Elisabeth,
Maria Theresia,
Katharina II., vermochten doch niemals vollständig das Naturell
des
Weibes
zu verleugnen;
im
Knaben,
Jüngling, Mann und
Greis äußert sich nach der berühmten Schilderung der
Lebensalter in
Horatius'
»Brief an die Pisonen« ein verwandeltes Naturell.
Da sich die leibliche
Konstitution bis zu einem gewissen
Grade
durch künstliche
Mittel
(Diät, ausschließlicher
Genuß gewisser
Nahrungsstoffe, Vegetarismus) bleibend umstimmen läßt, wodurch
auch deren Einfluß auf das geistige und Gemütsleben sich ändert, so kann man im
Gegensatz zum ursprünglichen (angebornen)
auch von einem anerzogenen (erworbenen) Naturell
reden.