Nachahmung
strieb,
die bei begabtern
Tieren und auch beim
Menschen bestehende
Neigung, öfters vernommene
Klänge und
Wörter,
wahrgenommene
Bewegungen und Gebärden sowie schließlich
Handlungen und
Gewohnheiten, deren
Vorstellung
auf irgend eine
Weise erweckt wird, zu wiederholen. Unter den
Tieren sind es nur geistig besonders begabte
Wesen, die zugleich
scharfe Beobachter sind, wie gewisse
Sing-,
Raub- und Krähenvögel,
Papageien und
Affen,
[* 2] welche sich dadurch auszeichnen; beim
Menschen ist der Nachahmung
strieb namentlich in früher Kindheit und bei mangelnder
Erziehung ungemein stark entwickelt;
es ist bekannt, daß kleine
Kinder alles nachmachen müssen, was sie sehen, und von Naturvölkern haben viele Reisende berichtet,
daß sie lange
Sätze in der ihnen fremden
Sprache
[* 3] der Neuangekommenen fehlerfrei wiederholen sowie auch letztere außerdem
in allen ihren
Bewegungen und zufälligen Äußerungen
(Husten,
Niesen,
Stottern etc.) überraschend getreu
nachahmen konnten.
Aber auch im erwachsenen Kulturmenschen, bei welchem die Erziehung auf möglichste Unterdrückung dieses leicht lästig werdenden Triebes hingewirkt hat, tritt die elementare und unwiderstehliche Macht desselben bei gewissen Gelegenheiten immer von neuem hervor, und die »ansteckende Kraft« [* 4] des Lachens, Weinens, der Begeisterung, des Gähnens, gewisser Nervenzufälle und Krankheiten (wie Veitstanz, Lach- und Weinkrampf, Konvulsionen in Kinderschulen etc.) beruht darauf.
Natürlich sind nerven- und willensschwache
Personen dem Nachahmung
strieb am meisten unterworfen, aber die
Erfahrungen des
Hypnotismus (s. d.)
haben gezeigt, daß auch kräftige und gesunde
Menschen demselben sofort im höchsten
Grad verfallen und jede
beliebige
Handlung, deren
Vorstellung in ihnen erweckt wird, nachahmen müssen, sobald in ihnen das
Selbstbewußtsein und damit
das
Vermögen, dem Nachahmung
strieb entgegenzuwirken, eingeschläfert wird. Es handelt sich somit im N. um eine Grunderscheinung
des
Intellekts, deren Bedeutung für alles Lernen und für die
Entwickelungsgeschichte
[* 5] des
Geistes erheblich ist.
Vgl. C. Sterne, Die Krone der Schöpfung, Essays über die Stellung des Menschen in der Natur (Teschen 1884).