Nachahmung
(Imitation), in der Musik wie in den andern Künsten der wesentlichste Form gebende Faktor. Wie in der Architektur ein Säulenkapitäl, eine Rosette und letzten Endes der ganze Kunstbau eines Doms sich aus der Verarbeitung einer beschränkten Anzahl von Motiven ergibt, so läßt sich auch in der Musik ein prägnantes Thema, ein ganzer Satz in der Regel aus der Wiederholung weniger kleiner Motive erklären. Diese Wiederholung ist freilich nicht nur eine schlichte Reproduktion, wie sie es in der Architektur häufig ist, wo ein Achtel oder Viertel der Rosette oder des Kapitals den andern völlig kongruent ist, oder wo Dutzende von Säulen, Türmchen, Fenstern etc. die gleichen Dimensionen aufweisen; vielmehr tritt an Stelle der Gleichheit eine mehr oder minder hervortretende Ähnlichkeit, an Stelle der Wiederholung die Nachahmung. Da eine größere Anzahl ästhetischer Gesetze gleichzeitig die musikalische Bildung bestimmt, so erscheint auch die eigentliche Nachahmung in sehr verschiedenartiger Gestalt. Das melodisch-rhythmische Motiv kann ganz getreu wiederholt werden, aber durch die begleitende Harmonie jedesmal einen andern Sinn erhalten, oder das Motiv wiederholt sich genau, aber mit verschiedener dynamischer Ausstattung, besonders wenn es sich nicht mit dem Takte deckt, oder es wiederholt sich von andrer Tonstufe aus etc. Die Wiederkehr eines Motivs auf andrer Tonstufe ist bei weitem die häufigste Form der Nachahmung; ihr entspringen ebensowohl die kunstvollen Formen des Kanons und der Fuge (s. d.) wie die als dilettantisch oder handwerksmäßig verurteilten sogen. Schusterflecke (s. d.). Die wichtigsten Arten der Nachahmung sind außerdem: 1) die Nachahmung in paralleler Bewegung, 2) die Nachahmung in Gegenbewegung (Umkehrung), 3) die Nachahmung in der Verlängerung (Augmentation), 4) die Nachahmung in der Verkürzung (Diminution); jede der beiden letztgenannten kann mit jeder der beiden ersten kombiniert werden. Die Kontrapunktiker des 15.-16. Jahrh., welche die Kunst der Nachahmung zu einer übertriebenen Künstelei entwickelten, benutzten außerdem noch die umgekehrte Notenfolge (Krebskanon) und ersannen sonst noch allerlei Spielereien (Überspringen der Pausen etc.).