bei den Griechen und später auch bei den
Römern Geheimkulte, eine besondere Art von nur den Eingeweihten
zugänglichen
Gottesdiensten, denen teils objektiv das
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Geheimnisvolle in den rituellen Gebräuchen (Mysteria), teils subjektiv eine besondere Gemütsstimmung und daraus folgende
religiöse Erbauung charakteristisch war. Reinigungen, Sühnungen und Büßungen, Opfer, Prozessionen, Gesänge, Tänze, kurz alle
Gebräuche der übrigen Gottesdienste (Teletai) waren auch Bestandteile der Mysterien, hatten hier aber stets einen ekstatischen Charakter
und wurden meist bei Nacht unter Fackelschein und betäubender Musik vorgenommen.
Schon bei den Eleusinien und den Thesmophorien finden wir diesen Orgiasmus, obgleich derselbe bei den eigentlich hellenischen
Religionen ein gehaltener und würdiger, im alten Rom
[* 3] aber durch das Staatsgesetz gänzlich ausgeschlossen war. Später drang
von Thrakien und Phrygien, dann von dem tiefern Asien
[* 4] her jener düstere Fanatismus ein, wo die Seele in religiöser
Erregung gegen den Leib rast, was gewöhnlich in Unsittlichkeit ausartete. Die Gottheit wird nach dieser Vorstellungsweise
als die unendliche geistige, mit der Natur verschlungene und hinter ihr verborgene Macht gesetzt, welcher man sich nur durch
gänzliche Versenkung des Geistes, durch Ertötung des Leiblichen annähern könne.
Die Festfeier (Orgia) selbst war bei den Mysterien ebenfalls größtenteils symbolischer Art. Sie
bestand aus mimisch-dramatischen Aufführungen der Göttergeschichte, z. B. des Raubes der Persephone,
[* 11] des Leidens und Sterbens
des Dionysos
[* 12] etc. Die Aufnahme in die Mysterien erfolgte mittels feierlicher Weihe, wobei der Mystagog dem Aufzunehmenden den Eid der
Verschwiegenheit abnahm, und durch verschiedene Grade. Die, welche die Vorweihe erhalten hatten, hießen Mysten, die
völlig Eingeweihten Epopten. In manche Mysterien konnten alle, in andre bloß Frauen aufgenommen werden; noch andre waren auf streng
geschlossene Kreise
[* 13] beschränkt.
Über die den Eingeweihten mitgeteilte Lehre
[* 14] steht nur so viel fest, daß den Kern der berühmtesten Mysterien, der Eleusinischen,
der Unsterblichkeitsglaube als der Glaube an ein Leben im Jenseits bildete, wogegen die von dem PhysikerSchweigger in zahlreichen Schriften niedergelegte Ansicht, physikalische Lehren
[* 15] und Experimente, namentlich elektrischer Natur,
hätten den Grund insbesondere der samothrakischen Mysterien ausgemacht, sicher das Richtige verfehlt hat. Über das negative Resultat
andrer Bemühungen, den Grund der Mysterien zu erforschen, liefert Lobecks »Aglaophamus« (Königsb. 1829)
erschöpfenden Aufschluß.
Was die Geschichte der Mysterien betrifft, so sind unter den sporadisch vorkommenden Gebräuchen vor allen die Reinigungen und Sühnungen
sehr alt und eigentlich das Grundelement der Mysterien Zusammenhängendere Gebräuche mystischen Charakters haben sich besonders früh
in den chthonischen Götterdiensten entwickelt, z. B.
zu Ephyra in Thesprotien, zu Phigalia in Arkadien,
zu Hermione etc. Als bestimmtere Arten mystischen Dienstes treten zuerst innerhalb der Demeterreligion die Thesmophorien und
Eleusinien hervor.
Jene sind rein cerealisch und beruhen auf der religiösen Auffassung der Erde als fruchtbarer Mutter und des aus der Pflege
des Erdbodens hervorgehenden sittlichen Gewinns, während sich in diesen mit dem cerealischen Glauben noch
ein Element des Dionysosdienstes verbunden hat. Nächst den Eleusinien galten die samothrakischen Mysterien für die
heiligsten, besonders unter den asiatischen und thrakischen sowie allen seefahrenden Griechen. Sehr alt und angesehen waren
auch die Mysterien des Zeus
[* 16] auf Kreta, deren Feier gewöhnlich auf hoch gelegenen Punkten unter freiem Himmel
[* 17] und
bei Tag stattfand.
Aus dem Dionysosdienst gingen die Triëterischen Nächte hervor, ein durch ganz Griechenland
[* 18] verbreitetes, höchst fanatisches
Frauenfest. Nachmals gehörten die Mysterien der Kybele
[* 19] zu den verbreitetsten und ausgebildetsten. Eine Weihe der Hekate
[* 20] kannte man inÄgina, Thessalien und auf Samothrake.
AuchMysterien derAphrodite
[* 21] gab es, die jedoch denen der Kybele insofern gerade
entgegengesetzt waren, als in diesen die Verstümmelung der Geschlechtsteile, in jenen der Geschlechtsgenuß bis zur Prostitution
heiliges Gesetz war. Sie wurden auf Cypern
[* 22] sowie in vielen griechischen Staaten, später namentlich zu Athen,
[* 23] begangen. Auch
die ägyptische Isis
[* 24] mit der zu ihr gehörigen Umgebung war ein allgemeines Naturwesen derart, wie es
nur in mystischer Weise ausgedrückt und verehrt werden konnte.
Die Orphischen Mysterien entstanden zuerst aus dem thrakischen Dionysosdienst, zogen aber später gleichfalls den
verschiedenartigsten Aberglauben in ihren Bereich. Sie machten sich in Athen bereits zur Zeit der Peisistratiden geltend und
verbreiteten sich dann besonders im Lauf des Peloponnesischen Kriegs. Orphisch und mystisch wurde zuletzt
fast gleichbedeutend und Orpheus
[* 25] als der Stifter sämtlicher Mysterien des Altertums angesehen. Mit der Ausbreitung der christlichen
Religion verschwanden im 2. und 3. Jahrh. allmählich die Mysterien.
Vgl. Sainte-Croix, Recherches historiques et critiques sur les
mystères du paganisme (2. Aufl. von de Sacy, Par. 1817, 2 Bde.; deutsch,
Gotha
[* 26] 1790);
Muth, Über die Mysterien der Alten (Hadamar 1842);
In der frühsten Zeit bestanden sie fast ausschließlich in pantomimischen Darstellungen; der Dialog kam erst später hinzu,
und der Text war anfangs, solange nur Geistliche die Spielenden waren, ganz oder zum größten Teil lateinisch abgefaßt, erst
später in deutscher Sprache;
[* 27] übrigens wechselten Gesänge mit der Rede. Zu den ältesten der auf uns gekommenen
deutschen Dramen dieser Art gehören Bruchstücke eines Passionsspiels aus dem Anfang des 13. Jahrh.
(hrsg. von Bartsch in der »Germania«,
[* 28] Bd. 8),
sodann das »Spiel von den klugen und thörichten Jungfrauen«
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(grch., d. i. Geheimnisse), bei den Griechen gewisse Kultgebräuche, an denen nur
solche Personen teilnehmen durften, die nach gewissen Vorbereitungen, ja bei einzelnen erst nach Bestehung gewisser Prüfungen
und nach Ablegung des Gelübdes der Verschwiegenheit in den Kreis
[* 36] der Eingeweihten aufgenommen waren. Der besondere Inhalt
dieser Mysterien war, soweit die nur mangelhafte Kunde davon reicht, ein doppelter: teils eigentümliche Legenden
über die Thaten und Schicksale der Gottheiten, denen die Mysterien geweiht waren, teils symbolische Gebräuche, indem an den Festversammlungen
der Teilnehmer unter Leitung des priesterlichen Personals der Inhalt jener Legenden durch sinnbildliche Aufführungen dargestellt
wurde.
Von einer religiösen Belehrung in unserm Sinne, d. h. lehrhafter Mitteilung von reinern Vorstellungen
über die Gottheit, Ausdeutung der Mythen des Volksglaubens im philos. Sinne, findet sich in den alten Mysterien keine Spur. Vielmehr
beruhte ihre Bedeutung wesentlich auf den ohne Zweifel zum Teil sehr mächtigen Eindrücken, welche jene Schaustellungen,
deren Wirkung besonders durch Beleuchtungseffekte noch gesteigert wurde, auf die Phantasie und das Gemüt
der «Schauenden» (Epopten) ausübten, indem sie in denselben das Gefühl
der Reinigung und Heiligung und die tröstliche Hoffnung auf ein Fortleben nach dem Tode in einem seligen Jenseits erweckten.
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Den ersten Rang unter allen griechischen Mysterien nahmen die attischen Eleusinien ein (s.
Eleusis). Ihnen stehen an Alter und Heiligkeit zunächst die samothrakischen Mysterien, deren Mittelpunkt der ursprünglich vielleicht
phöniz. Kultus der Kabiren bildete, mit welchem phryg. und griech. Religionselemente verschmolzen waren. Andere Mysterien, wie namentlich
die orphischen, waren nur an die Personen der Teilnehmer geknüpft, also durchaus Privatsache und dadurch
leicht Mißbräuchen ausgesetzt.
Vorzüglich gilt dies von den religiösen Weihen fremdländischen Ursprungs, die besonders seit der Zeit des PeloponnesischenKrieges sich in Griechenland und hernach in Rom undItalien
[* 38] verbreiteten. Schon die orphischen Mysterien, welche vorzugsweise dem mit
thraz., phryg. und vorderasiat. Gottheiten verschmolzenen Dionysos (s. d.)
galten, enthielten solche Elemente. Dazu kamen dann insbesondere die Weihen der kleinasiat. Kybele (s. d.),
der ägypt. Isis und in spätererZeit des pers. Mitra
[* 39] (s. d.).
Auch in Rom und mit der Zeit im ganzen RömischenReich fanden griech. und fremdländische Mysterien große Verbreitung. Jedoch
nahmen speciell die bacchischen Weihen schon im 2. Jahrh. n. Chr. einen so bedenklichen
Charakter an, daß der röm. Senat 186 v. Chr. durch das «Senatus consultum de Bacchanalibus» die Teilnahme an denselben untersagte.
(S. Bacchanalien.) Beim Auftreten des Christentums suchte das Heidentum vergeblich seine als Bollwerk gegen die Angriffe der
neuen Religion zu benutzen. -
Vgl. Sainte-Croix, Recherches historiques et critiques sur les mystères du paganisme (Par. 1784; 2. Aufl.
von Silvestre de Sacy, Par. 1817; deutsch von Lenz, Gotha 1790);
Lobeck, Aglaophamus (2 Bde., Königsb.
1829);
Petersen, Der geheime Gottesdienst bei den Griechen (Hamb. 1848);
Haupt, De mysteriorum graecorum
causis et rationibus (Königsb. 1853);
Foucart, Des associations religieuses chez les Grecs (Par. 1873);
In Frankreich nannte man Mysterien (mystères) etwa seit 1400 die Weihnachts- und Osterspiele, in denen die geistliche Geschichte
des Alten und des NeuenTestaments dramatisch behandelt wurde. Die Bezeichnung, die von neuern Literarhistorikern
auch auf die gleichartigen deutschen und engl. Spiele (mysteries) übertragen wird, entstand aus dem lat. ministerium (in der
Bedeutung «geistliche Verrichtung», «Funktion»,
daher auch vielfach Misterium genannt) und entspricht dem ital. funzione, dem span.
auto.
Eine halbgelehrte Anlehnung an das griech. μυςτήριον («Geheimnis») rief die gebräuchliche Form
mysterium hervor, denn es handelte sich in diesen Spielen hauptsächlich um die Darstellung der geheimnisvollen Geburt und Auferstehung
des Erlösers. Die älteste Benennung der Stücke ist lat. ludus repraesentatio (deutsch: Spiel; frz. jeu; engl. play). Diese
Spiele gingen hervor aus den gottesdienstlichen Handlungen des Weihnachts- und Osterfestes.
Wechselgesänge, die als Keim eines dramat. Dialogs zu betrachten sind, fanden sich in dem Ritual fast aller Feste.
So entstand ein Cyklus von Weihnachtsspielen aus dem Vortrag einer mit Unrecht Augustinus beigelegten Weihnachtspredigt, in
welcher nacheinander die Weissagungen von der Ankunft des Messias vorgeführt werden; frühzeitig ließ man Kleriker, welche
die einzelnen Propheten darstellten, während der Lesung der Predigt vorüberziehen; bald auch legte man den einzelnen Personen
lat.
Verse in den Mund.
Wenn die Worte der Weissagung sich mit einer Handlung verbanden, stellte man diese Handlung im Chor der Kirche durch junge Kleriker
als wirkliche Scenen dar: es erschien Bileam mit seinem Esel, Daniel in der Löwengrube u. a. m. Seit dem 11. Jahrh.
wurden einzelne Propheten, wie z. B. Daniel, besonders behandelt («Historia de Daniel repraesentanda»). Bald nahmen diese liturgischen
Dramen in lat. Sprache auch Verse in der Volkssprache auf, eine Neuerung, die schließlich zu Stücken führte, die vollständig
in der Volkssprache geschrieben waren.
Solche Spiele wurden nicht mehr in der Kirche, sondern vor dieser aufgeführt. Das anglonormann. Spiel«Adam» ist das älteste
Beispiel für ein derartiges Mysterium (s. Französische Litteratur, Bd. 7, S. 161 a). Wahrscheinlich
schon vor dem Cyklus dieser Weihnachtsspiele entstand in ähnlicher Weise aus der liturgischen Darstellung der
Auferstehung ein Cyklus von Osterspielen (s. d.). Ein franz. Bruchstück
einer «Résurrection du Sauveur» ist noch aus dem 12. Jahrh.
erhalten.
Die Aufführung von Heiligenleben und Wundern nannte man Mirakel (s. d.), im
spätern Mittelalter hießen auch die Dramatisierungen weltlicher Geschichten (Mystère du siège d'Orléans, 15. Jahrh.)
Mysterien. Die Blütezeit des geistlichen Schauspiels fällt in das 15. Jahrh.
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. wird es durch die Vorstellungen der berufsmäßigen Schauspieler verdrängt. Das älteste
durchaus deutsche Mysterium, ein Osterspiel, rührt von einem höfisch gebildeten Dichter her und gehört dem 13. Jahrh.
an. Mehr ist aus dem 14. Jahrh. erhalten, darunter das berühmte Spiel von den klugen und thörichten
Jungfrauen (1322 aufgeführt). Unter den zahlreichen deutschen Mysterien des 15. Jahrh.
treten das Alsfelder und HeidelbergerPassionsspiel hervor. Nachahmungen der in Deutschland waren die Bauernspiele (s. o.), deren
Pflege besonders von den Jesuiten begünstigt wurde.
In Paris
[* 41] bildete sich um 1380 eine Gesellschaft, die Confrérie de la passion (s. d.), deren Stücke eine
große Anzahl von Abteilungen zu umfassen pflegten, die an verschiedenen Tagen nacheinander aufgeführt wurden.
Die Mysterien wurden unter freiem Himmel gegeben, die Spieler waren Personen aus allen Ständen, Geistliche und Schüler, Handwerker
und andere Bürger. Die Bühne bestand nicht, wie man früher annahm, aus drei Stockwerken, sondern war
eben. Im Vordergrund (champ) spielte sich der größte Teil der Handlung ab. Hier befand sich hinter einem Vorhang (coulisse),
auf dem ein Drachenschlund abgebildet war, eine Fallthür, der Eingang zur Hölle. Im Hintergrund der Bühne waren die mansiones
(maisons), etwa der Palast des Herodes, das Haus der Maria, der Tempel
[* 42] zu Jerusalem
[* 43] u. a., deren Örtlichkeit
auf das einfachste angedeutet wurde.
Hinter den mansiones erhob sich als Abschluß der Bühne, die bisweilen 30 m in der Länge und ebenso viel in der Tiefe maß,
das Paradies; von diesem aus schaute Gott mit den Engelscharen auf die Handlung herab. Es fand also kein
Scenenwechsel statt,sondern die ganze Scenerie des Stückes war von Anfang an auf der Bühne. Auch die Schauspieler waren von
Beginn an auf der Bühne und blieben dort bis zum Ende des Stückes. Der Zuschauerraum, von der Bühne durch Schranken getrennt,
zerfiel in Parterre und Galerien (Logen). Diese scenische Einrichtung, die auch für Deutschland ähnlich bezeugt
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ist, hat sich an vielen Orten bis heute erhalten, z. B. die Bauernspiele in Oberammergau in Bayern.
[* 45] (S. Oberammergau, Passionsspiele
und Lutherfestspiele.) Sammlungen französischer Mysterien veranstalteten Monmerqué und Michel (Théâtre français au moyen âge,
Par. 1840) und Jubinal (2 Bde., ebd.
1837); deutsche Mysterien veröffentlichte Mone, Altdeutsche Schauspiele (Quedlinb. 1841) und Schauspiele des
Mittelalters (2 Bde., Karlsr. 1846)
und Kummer, ErlauerSpieleWien 1882).
Vgl. Hase, Das geistliche Schauspiel (Lpz. 1858);
Wilken, Geschichte der geistlichen Spiele in Deutschland (Gott. 1872);
Das
Drama des Mittelalters, hg. von Froning, Bd. 1-3 (in der
«Deutschen Nationallitteratur», XIV, Bd. 1-3, Stuttg.
1892);