Titel
Murawjew
,
alte russ. Bojarenfamilie, die, ursprünglich im Großfürstentum Moskau [* 2] ansässig, 1488 durch Iwan Wasiljewitsch I. Ländereien im Nowgorodschen erhielt. Namhaft sind:
1) Nikolai Jerofejewitsch, war Kapitän im Geniekorps und gab 1752 das erste Werk über Algebra in russischer Sprache [* 3] heraus. Er starb als Generalleutnant und Gouverneur von Livland [* 4] auf einer Reise in Montpellier [* 5] 1770.
2) Michail Nikititsch, Fürst, geb. zu Smolensk, ward 1785 von der Kaiserin Katharina zum Gouverneur der Großfürsten Alexander und Konstantin, 1796 zum Kurator der Universität Moskau, 1800 zum Senator von Rußland, 1801 zum Staatssekretär und 1802 zum Staatsrat im Ministerium der Volksaufklärung ernannt; starb Seine »Opyty«, historischen, moralischen und litterarischen Inhalts, die er in seiner Stellung als Gouverneur geschrieben und die in der russischen Litteratur für klassisch gelten, wurden von Karamsin herausgegeben (Mosk. 1810, 3 Bde.); ein Nachtrag, »Emiliewy pisma«, erschien Petersburg [* 6] 1815.
3)
Nikolai Nikolajewitsch, Sohn von Murawjew
1), geb. 1768 zu
Riga,
[* 7] studierte in
Straßburg
[* 8] und wurde, 1788 nach
Rußland zurückgekehrt,
Leutnant bei der Ostseeflotte. In der
Schlacht bei Rotschensalm gefangen und erst nach dem
Frieden
von
Werelä wieder in
Freiheit gesetzt, erhielt er das
Kommando des sogen. goldenen Jachtschiffs der
Kaiserin
Katharina, ging
aber 1796 in die
Armee über und nahm 1797 als
Oberstleutnant seinen
Abschied. Er gründete nun auf einem
Gut bei
Moskau eine Privatlehranstalt für
Offiziere des
Generalstabs, machte die
Feldzüge von 1812 bis 1814 als Oberst und Stabschef
des
Grafen
Tolstoi mit, schloß mit dem französischen
General
Dumas die
Kapitulation von
Dresden
[* 9] ab und nahm an der Belagerung
von
Hamburg
[* 10] teil. Mit dem
Rang als
Generalmajor kehrte er zu seiner
Militärakademie zurück, die 1816 für
kaiserlich erklärt wurde, gab aber 1823 die Leitung derselben auf und widmete sich der
Landwirtschaft. Er starb in
Moskau.
4) Alexander, ältester Sohn des vorigen, geb. 1792, ward als Oberst, der Teilnahme an der Verschwörung von 1825 verdächtig, nach Sibirien verbannt, später jedoch von dort zurückberufen. Beim Ausbruch des orientalischen Kriegs von 1853 trat er wieder in aktiven Dienst, ward Generalmajor und 1856 Gouverneur von Nishnij Nowgorod. Mit großem Eifer wirkte er in dieser Stellung für Aufhebung der Leibeigenschaft. Er starb als Generalleutnant und Senator im Januar 1864 in Moskau.
5)
Nikolai Nikolajewitsch Murawjew
Karskij,
Bruder des vorigen, geb. 1794, trat 1810 in die
Armee, ward
Kapitän im
Generalstab, diente
im
Kaukasus und erhielt 1819 vom
General
Jermolow eine
¶
mehr
Sendung nach Chiwa, über welches Land er durch seine »Puteschestwie w'Turkmeniju i Chiwu« (Petersb. 1822) schätzenswerte Aufschlüsse gab. Im persischen Krieg avancierte er zum Generalmajor, focht mit Auszeichnung 1828 bei Kars und Achalzych, 1829 bei Kalila und Milli Djus und erhielt 1830 im polnischen Feldzug das Kommando der litauischen Grenadierbrigade, mit welcher er den Sieg bei Kasimiersh entschied. Hierauf zum Generalleutnant befördert, befehligte er 6. und beim Sturm auf Warschau [* 12] den rechten Flügel und erstürmte die Verschanzungen von Rakoviec.
Ende 1832 ging er als außerordentlicher Bevollmächtigter Rußlands nach Ägypten, [* 13] um Mehemed Ali zum Einstellen der Feindseligkeiten zu bewegen, kommandierte dann die am Bosporus [* 14] gelandeten russischen Truppen und ward 1835 Befehlshaber des 5. Infanteriekorps. Seit 1838 verabschiedet, trat er erst 1848 wieder in Dienst und ward Mitglied des Militärkonseils, im Dezember Chef des Grenadierkorps und 1855 an die Spitze der kaukasischen Armee gestellt, mit welcher er Kars nach mehr als halbjähriger ruhmreicher Belagerung (Anfang Juni bis Ende November) eroberte.
Dieser Erfolg gestattete Rußland, trotz des Verlustes von Sebastopol
[* 15] den Frieden anzunehmen. Murawjew
ward hierauf in den Fürstenstand
erhoben und zum Generaladjutanten des Kaisers und Mitglied des Reichsrats ernannt, war auch Mitglied der Kommission, welche
die Mißbräuche während des Krimkriegs untersuchen sollte, lebte aber die nächsten Jahre teils zurückgezogen
in Rußland, teils auf Reisen im südlichen Europa.
[* 16] Er starb in Petersburg.
6) Michail Nikolajewitsch, Bruder des vorigen, geb. 1795, zeichnete sich früh durch seine Leistungen in der Mathematik aus,
machte die Feldzüge von 1812 bis 1813 mit, wurde später Generalgouverneur von Grodno, dann von Kursk, 1842 Oberdirektor
des Feldmesserkorps, 1850 Mitglied des Reichsrats und gab, zum Vizepräsidenten der Russischen Geographischen Gesellschaft gewählt,
den Anstoß zu einer bedeutenden wissenschaftlichen Expedition nach Sibirien. Bei der Krönungsfeier ernannte
ihn Alexander II. zum General der Infanterie, 1857 zum Minister der Reichsdomänen und zum Präsidenten des
Verwaltungsrats der kaiserlichen Apanagen. Murawjew
ließ sich namentlich die Hebung
[* 17] der Landwirtschaft angelegen sein, stiftete unter
anderm auch die agronomische Akademie zu Petrowsk bei Moskau.
Der Aufhebung der Leibeigenschaft aber trat er entschieden entgegen. 1861 und 1862 fühlte sich Murawjew
durch seine
geringe Popularität zum Rücktritt von seinen Ämtern bewogen. Als jedoch der polnische Aufstand mehr und mehr um sich griff
und bis nach Litauen reichte, schickte ihn der Kaiser 1863 als Generalgouverneur nach Wilna,
[* 18] wo er eine solche Härte, ja Grausamkeit
(er ließ Edelleute und Priester henken) entwickelte, daß sein Name in ganz Europa verhaßt ward. Aber
dafür war ihm die Unterdrückung des Aufstandes gelungen. Der Kaiser belohnte ihn mit dem Andreasorden und dem Grafentitel.
Er starb auf seinem Gut Syrez bei Luga.
Vgl. »Der Diktator von Wilna. Memoiren des Grafen Murawjew
N. (aus dem Russ., Leipz.
1883).
7) Andrei Nikolajewitsch, bekannt als Reisender und Schriftsteller, Bruder des vorigen, geb. 1798 zu Moskau, bereiste 1830 Syrien und Palästina, [* 19] später Südrußland sowie den Kaukasus nebst Armenien, endlich Italien [* 20] und wiederholt den Orient und starb als Staatsrat und kaiserlicher Kammerherr in Kiew. [* 21] Unter seinen (in russischer Sprache geschriebenen) Reisewerken sind besonders namhaft zu machen: »Wallfahrt nach der Heiligen Stadt« (Petersb. 1830);
»Schilderung Grusiens und Armeniens« (das. 1848) und »Eindrücke aus der Ukraine und Sebastopol« (das. 1859).
Ein starrer Anhänger der orthodoxen Kirche, hat er sich auch nach dieser Richtung schriftstellerisch bethätigt. Außerdem veröffentlichte er einige dramatische Versuche, eine »Geschichte von Jerusalem« [* 22] (Petersb. 1844),
eine »Geschichte der russischen Kirche« (3. Aufl., das. 1845) u. a. Andern Zweigen der Familie gehören an:
8) Sergei Murawjew
Apostol, Sohn von Iwan Matwejewitsch Murawjew
Apostol (geb. 1769, gest. als
Senator), war 1825 Oberstleutnant im Regiment Tschernigow und einer der Hauptleiter der Verschwörung der
Dekabristen von 1825 gegen Nikolaus I. Nach der Entdeckung derselben ließ Murawjew
den zu seiner Verhaftung abgeschickten Obersten
Gebel festnehmen, rief mit sechs Kompanien den Großfürsten Konstantin zum Kaiser aus und bemächtigte sich der Stadt
Wassilkow, wurde aber 15. Jan. geschlagen und schwer verwundet gefangen genommen. Er ward in
Petersburg gehenkt. Sein Bruder Matwei, verabschiedeter Oberstleutnant, ward zu 20jähriger Verbannung nach Sibirien verurteilt.
9) Nikolai Nikolajewitsch, Graf Murawjew
Amurskij, geb. 1803 zu Petersburg, widmete sich dem Militärdienst, ward aber zeitig auch
in der Zivilverwaltung beschäftigt. Von 1836 bis 1840 fungierte er als Generalmajor und Zivilgouverneur
von Kursk, bis 1847 von Grodno u. bis 1848 von Tula, von wo er in demselben Jahr zum Gouverneur von Ostsibirien berufen wurde.
Murawjew
warf sein Auge
[* 23] sofort auf die fruchtbaren und wohlbewässerten Ebenen zwischen dem Amur und der Jablonowoikette, legte 1850 unweit
der Amurmündung einen stark befestigten Posten, Nikolajewsk als Stütz u. Ausgangspunkt der beabsichtigten
friedlichen Eroberung an, erforschte die Ufer des Amur und seiner Quellenarme und gründete an ihnen zahlreiche russische Kolonien.
China
[* 24] zog eben ein starkes Heer gegen Murawjew
zusammen, als es auch mit England in Konflikte geriet, die es bestimmten, durch
den Vertrag von Aigun vom das Amurgebiet an Rußland abzutreten. Murawjew
erhielt hierauf von seinem Kaiser den Ehrentitel
Amurskij. 1859 unternahm er eine Expedition gegen Japan, erzwang von diesem die nämlichen Vertragsbedingungen, die es den
übrigen großen Seemächten bewilligt hatte, und nahm die an Kohlen reiche japanische Insel Sachalin vor der
Amurmündung vertragsmäßig in Besitz. Daneben hatte sich auch die Konsolidierung seiner Erwerbungen eine stete Sorge sein
lassen, unter anderm durch die Konstituierung der Handelsgesellschaft des Amur (1856). 1861 legte er seine Stelle nieder und
wurde Mitglied des Reichsrats.