Mündlichkeit,
im modernen Prozeßrecht der Grundsatz, wonach im Zivil- wie im Strafprozeß die Erkenntnisse nach mündlicher Verhandlung der Sache erteilt werden; im Gegensatz zu dem Prinzip der Schriftlichkeit des frühern gemeinen deutschen Prozesses, wonach auf Grund der Akten entschieden wurde. Im Strafprozeß ist der Grundsatz der Mündlichkeit nach den meisten Strafprozeßordnungen nur für die Hauptverhandlung in erster Instanz durchgeführt; für das Vorverfahren ist er in der deutschen Strafprozeßordnung nicht anerkannt, ebensowenig für die Beschwerdeinstanz. Auch der Antrag auf Wiederaufnahme einer Untersuchung kann ohne mündliche Verhandlung erledigt werden. In der Berufungs- und Revisionsinstanz kommt das Prinzip der Mündlichkeit nach deutschem Strafprozeßrecht wenigstens nicht unbedingt zur Geltung. Dagegen erfordert es der Grundsatz der oder, richtiger gesagt, der Unmittelbarkeit des Verfahrens, daß das Urteil in erster Instanz auf Grund einer vor dem Gericht stattgefundenen mündlichen Beweisaufnahme und nach unmittelbar gewonnener Überzeugung der zur Urteilsfällung berufenen Richter erfolge. Darum muß die Hauptverhandlung in ununterbrochener Gegenwart der Richter und ohne größere Unterbrechungen stattfinden. In der Verhandlung ist alles, was zur Urteilsfällung von Wichtigkeit, von dem Beschuldigten, Staatsanwalt, den Zeugen, Sachverständigen etc. mündlich vorzutragen, und nur das mündlich Vorgetragene ist bei der Urteilsfällung zu berücksichtigen. Abgesehen von der Verlesung der unmittelbar als Beweismittel dienenden Schriftstücke ist die Verlesung von Schriftstücken nach der deutschen Strafprozeßordnung nur ausnahmsweise gestattet. Insbesondere darf die Vernehmung einer Person, auf deren Wahrnehmung der Beweis einer Thatsache beruht, nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden (deutsche Strafprozeßordnung, § 249). Dagegen geht die österreichische Strafprozeßordnung weiter, indem sie (§ 242) insbesondere in dem Fall, wenn geladene Zeugen oder Sachverständige ausgeblieben sind, die Befugnis gewährt, nach Anhörung der Parteien darüber zu entscheiden, ob die Hauptverhandlung vertagt oder fortgesetzt werden und statt der mündlichen Abhörung jener Zeugen oder Sachverständigen die Verlesung der in der Voruntersuchung abgelegten Aussagen derselben erfolgen soll. Im Zivilprozeß war früher in Deutschland das Prinzip der Schriftlichkeit in solchem Maß das herrschende, daß die Gerichte lediglich auf Grund des ihnen in schriftlicher Form, sei es in Parteischriftsätzen, sei es in Protokollen, unterbreiteten Materials erkannten, und daß sie dabei nur dasjenige berücksichtigten, was in den Prozeßakten geschrieben stand. Das moderne Prozeßrecht hat mit diesem Grundsatz vollständig gebrochen. Die deutsche Zivilprozeßordnung (§ 119) stellt im Anschluß an das französische System den Grundsatz auf, daß die Verhandlung der Parteien über den Rechtsstreit vor dem erkennenden Gericht eine mündliche sein müsse. Damit ist auch die strenge Gliederung des Verfahrens in besondere Prozeßabschnitte, namentlich die im frühern gemeinen Zivilprozeß durchgeführte Scheidung in das Stadium des Schriftenwechsels und das Beweisverfahren, hinweggefallen. Vielmehr können die Parteien ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel, ihre Beweismittel und Beweiseinreden bis zum Schluß derjenigen mündlichen Verhandlung geltend machen, auf welche das Urteil ergeht. Zudem ist dem Richter ein ausgedehntes Fragerecht eingeräumt, durch dessen Ausübung er auf möglichste Klarstellung und Ergänzung des Materials hinwirken kann. Auf der andern Seite macht die Mündlichkeit des Verfahrens die Schrift nicht ganz entbehrlich. So erfolgt im Anwaltsprozeß die mündliche Verhandlung auf Grund der vorbereitenden Schriftsätze der Parteien, namentlich der schriftlichen Klage und der Klagebeantwortung. Zur Beurkundung wichtiger prozessualischer Vorgänge und
mehr
des Prozeßstoffs dient ferner das vorschriftsmäßige schriftliche Sitzungsprotokoll. Auch muß jedes Urteil schriftlich zu den Akten gebracht werden, und es muß in seinem »Thatbestand« eine gedrängte Darstellung des Sach- und Streitgegenstandes geben. Vgl. außer den Lehrbüchern des Strafprozesses und des Zivilprozesses: Wach, Vorträge über die Reichszivilprozeßordnung (Bonn 1879).