Moralstatistik
,
derjenige Teil der
Statistik, welcher sich mit den aus freier sittlicher Entschließung hervorgehenden
Handlungen der menschlichen
Gesellschaft befaßt. Könnten alle diese
Handlungen genau verzeichnet und im Zusammenhalt mit den
sie bedingenden
Beweggründen beurteilt werden, so würde die Moralstatistik
ein getreues
Bild der
Sittlichkeit einer
Gesellschaft liefern und einen
Vergleich zwischen
Ländern und
Zeiten gestatten. Doch sind die wirklichen
Beweggründe für Dritte
nicht erforschbar, man muß sich mit dem keineswegs immer zuverlässigen Rückschluß aus äußern
Erscheinungen und
Handlungen
auf dieselben begnügen.
Aber auch diese
Erscheinungen und
Handlungen liegen nicht immer offen zu
Tage, und bei vielen derselben
ist nicht festzustellen, ob sie wirklich aus freien Entschließungen hervorgegangen oder ob sie als
Wirkungen andrer
Ursachen
zu betrachten sind
(Selbstmord oder Ermordung durch Dritte, z. B. bei Vergiftungsfällen, oder unglücklicher
Zufall, z. B.
Fall ins
Wasser etc.). Die Moralstatistik
beschränkt sich demgemäß
auf solche
Erscheinungen, welche an die
Öffentlichkeit treten; auf die Einzelfälle geht sie, wie überhaupt die
Statistik,
nur so weit ein, als dies für eine richtige Gruppierung erforderlich ist.
Die Sittenzustände werden nun nicht allein durch die guten, sondern auch durch die sittlich schlechten
Handlungen gekennzeichnet.
Die Moralstatistik
befaßt sich darum mit beiden, ja sie ist sogar vorwiegend eine
Statistik der Unsittlichkeit, weil
das sittlich
Gute sich mehr der
Öffentlichkeit entzieht
und, wenn auch dies nicht der
Fall, oft schwer als solches zu erkennen
ist (z. B.
Wohlthätigkeit aus
Ehrgeiz, aus Berechnung, aus
Furcht oder aus reiner Menschenliebe). Infolgedessen dient die
positive Sittlichkeitsstatistik
(Entwickelung des Sparkassenwesens, gemeinnütziger Anstalten und
Vereine, Gestaltung des geistigen
und religiösen
Lebens) im wesentlichen nur als eine mit Vorsicht zu behandelnde Ergänzung der Unsittlichkeitsstatistik.
In den Bereich der letztern gehört zunächst die Kriminalstatistik (insbesondere Zahl, Art der strafbaren Handlungen, welche vor Gericht anhängig wurden; Alter, Geschlecht, Stand der Angeschuldigten und der Verurteilten, verhängte Strafen etc.), dann aber auch die Statistik von Handlungen, welche zwar als unsittlich angesehen werden, aber nicht strafbar sind oder nicht bestraft werden können (Selbstmord, bei dem die Strafe, wie schimpfliches Begräbnis, doch nur als Strafdrohung, im übrigen als eine Bestrafung der Angehörigen wirken würde).
Außer dem Selbstmord gehört hierher insbesondere die auf geschlechtliche Verhältnisse sich beziehende Statistik wie die der Ehescheidungen, der Prostitution, des Findelwesens und der unehelichen Geburten. Die Zahlen, zu welchen die Massenbeobachtung auf diesem Gebiet führt, weisen gewisse Regelmäßigkeiten auf. So schwankte die Zahl der unehelichen Geburten im Deutschen Reich in den einzelnen Jahren von 1879 bis 1885 nur zwischen den Grenzen [* 2] 150,645 (in 1872: 3,66 pro Mille. der Bevölkerung) [* 3] und 170,688 (in 1884: 3,68 pro Mille). Die Zahl der unehelichen Geburten, welche auf je 10,000 Lebendgeborne kamen, war im Durchschnitt der Jahre in
Preußen | Bayern | Sachsen | Württemberg | |
---|---|---|---|---|
1866-70 | 812 | 1991 | 1439 | 1429 |
1871-75 | 740 | 1378 | 1273 | 960 |
1876-80 | 752 | 1286 | 1249 | 831 |
1881-85 | 811 | 1362 | 1305 | 923 |
Im Gebiet des Deutschen Reichs kamen auf 1000 Geborne im Durchschnitt jährlich 1841-50: 108, 1851-60: 114, 1866-70: 115, 1871-80: 89 und 1881-85: 93 uneheliche. Zu ähnlichen Ergebnissen führte die auch in andern Ländern. Auch die Selbstmordstatistik, dann die Statistik der Verehelichungen, der Ehescheidungen etc. weisen Zahlen auf, deren Schwankungen als verhältnismäßig klein erscheinen. Bereits Süßmilch (»Göttliche Ordnung in den Veränderungen des Menschengeschlechts«, Berl. 1741, 4. Aufl. 1775) hatte solche Regelmäßigkeiten beobachtet und als Ergebnis einer göttlichen Ordnung erklärt. Quételet (»Sur l'homme«, Brüssel [* 4] 1835) faßte diese Regelmäßigkeiten als etwas Naturgesetzliches auf, eine Anschauung, welche unter andern Buckle, dann auch früher Ad. Wagner (»Die Gesetzmäßigkeit in den scheinbar willkürlichen menschlichen Handlungen«, Hamb. 1864) teilten.
Dieselbe führt folgerichtig zur Verleugnung der Willensfreiheit und der Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine Handlungen, denn das »Budget der Schafotte und Gefängnisse« (Quételet) müßte naturnotwendig erfüllt werden. Nun lassen aber gerade die oben mitgeteilten Zahlen über die unehelichen Geburten eine bemerkenswerte Erscheinung wahrnehmen. Die relative Häufigkeit dieser Geburten nahm ab, als durch die Gesetzgebung die Niederlassung und die Eheschließung erleichtert wurden und für die Zahl der Eheschließungen, welche auf 1000 Einwohner entfallen, berechnet sich für die Jahre 1841-85 ein Bestreben zur Erhöhung, wenngleich diese Zahl im übrigen naturgemäß eine gewisse Grenze nicht überschreiten kann. Hier trat also der ¶
mehr
freie Wille in Bethätigung, während z. B. für die wenig schwankende Relativzahl der Totgebornen
(Verhältnis der Totgeburten zur Zahl aller Geburten) im Deutschen Reich im gleichen Zeitraum sich zwar eine mäßige Tendenz
zur Minderung berechnet, welche aber nach den Regeln der mathematischen Statistik als zweifelhaft zu bezeichnen ist. Ebenso
kann auch die Moralstatistik
auf andern Gebieten darthun, daß die Menschen thatsächlich, wenn sie nicht gerade als
krank anzusehen sind, nach Beweggründen handeln, daß die Willensrichtung nicht eine notwendig gegebene ist, sondern sich
ändern kann (z. B. bei einer Änderung der Strafgesetzgebung).
Die Moralstatistik
kann wohl zeigen, daß äußere Umstände (Naturumgebung, gesellschaftliche Verhältnisse)
einen großen Einfluß auf Entschließungen und Handlungen ausüben, doch vermag sie eine zwingende Notwendigkeit für solche
Handlungen weder für den Einzelnen noch eine solche für die Masse nachzuweisen. Das ist auch in der neuern Zeit allgemein
als Thatsache anerkannt worden.
Vgl. hierüber insbesondere Drobisch, Die moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit (Leipz. 1867);
v. Öttingen, Die Moralstatistik
in ihrer Bedeutung für eine Sozialethik (3. Aufl., Erlang. 1882);
Knapp,
Die neuern Ansichten über Moralstatistik
(Jena
[* 6] 1871);
Lexis, Zur Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen Gesellschaft (Freiburg [* 7] 1877).