Mitternach
tssonne,
das Verweilen der
Sonne
[* 2] oberhalb des
Horizonts auch bei ihrer tiefsten
Stellung,
zwölf
Stunden nach ihrem höchsten, mittägigen
Stande. Die
Sonne scheint eine kurze Zeit zu ruhen, ehe sie sich wieder erhebt,
und erzeugt eigentümliche Beleuchtungseffekte, namentlich sehr warme
Schatten
[* 3] und ein besonderes Zwielicht, von dem es in der
Frithjofssage heißt: »Die Mitternach
tssonn' auf den
Bergen
[* 4] lag, blutrot anzuschauen; es war nicht
Nacht,
es war nicht
Tag, es war ein eignes
Grauen.« Um dieses
Phänomen zu schauen, werden zahlreiche
Reisen nach dem
Nordkap angetreten
und regelmäßige Dampferfahrten dafür eingerichtet, die aber freilich häufig unter der Ungunst des
Wetters leiden, wenn
man sich nicht für einen verlängerten Aufenthalt in den betreffenden
Regionen einrichtet.
Die Mitternach
tssonne steht
natürlich für
Orte verschiedener
Breite
[* 5] ungleich hoch am
Horizont,
[* 6] und die Dauer ihrer Sichtbarkeit nimmt mit der
Annäherung
nach dem
Pole zu; sie beträgt für
Hammerfest,
Europas nördlichste Stadt, und für das
Nordkap fast drei
Monate (von Mitte Mai
bis Ende Juli). Doch ist die
Beobachtung in den spätern Sommertagen, an denen die
Sonne für einige
Minuten
untergeht, um alsbald wieder etwas östlicher aufzugehen, nicht weniger lohnend. Die
Erscheinung würde auf die
Regionen innerhalb
der
Polarkreise beschränkt sein, wenn die
Erde nicht von einer
Atmosphäre umgeben wäre;
infolge der atmosphärischen
Strahlenbrechung
[* 7] kann sie aber auch noch ein
Stück außerhalb der
Polarkreise beobachtet werden.
Sie tritt ein, wenn der Abstand der Sonne vom Himmelspol (90° weniger der Deklination) kleiner ist als die geographische Breite des Beobachtungsortes. Solange diese Bedingung erfüllt ist, herrscht immerwährend Tag, dessen Dauer um so größer ist, je höher die geographische Breite des Ortes ist (vgl. Tag, Bd. 15, S. 490). Mit zunehmender Breite nimmt aber auch der Unterschied zwischen dem höchsten und niedrigsten Sonnenstand im Laufe von 24 Stunden ab; der Kreis, [* 8] den die Sonne (wenn man von der Änderung der Deklination absieht) in dieser Zeit beschreibt, nimmt mehr und mehr eine horizontale Lage an, je mehr man sich dem Pole nähert.
Seine Neigung ist nämlich gleich der Äquatorhöhe (90° weniger der geographischen Breite) des Beobachtungsortes, und doppelt so groß ist der Unterschied zwischen der größten und kleinsten Sonnenhöhe in 24 Stunden; während zur Zeit des höchsten Sonnenstandes in 66½° Breite die Sonne mittags in 47° Höhe, 12 Stunden später aber am Horizont steht, betragen zu derselben Zeit die größte und kleinste Sonnenhöhe in 70° Breite 43½ und 3½°, in 75° Br. 38½ und 8½°, in 80° Br. 33½ und 13½°, in 85° Br. 28½ und 18½°, endlich am Pole sind beide 23½°. Selbst zur Zeit des höchsten Sonnenstandes fallen also die Strahlen der Sonne nur unter einem kleinen Winkel [* 9] auf die horizontale Bodenfläche, und ihre Wirkung ist hier nur gering.
Anders auf geneigtem
Boden, wo die
Strahlen mehr senkrecht auftreffen und daher wirksamer sind. Dazu kommt, daß hier das Schmelzwasser
des Wintereises abfließt, welches in den
Ebenen stehen bleibt. Deshalb entwickelt sich an den Abhängen, unterm Einfluß
des beständigen
Sonnenscheins, eine ungleich reichere
Vegetation als in der
Ebene, und
Baer hat mit
Recht von
Nowaja Semlja gesagt,
daß die ebene Polarfläche einer
Wüste, der geneigte
Boden am
Fuß der
Berge aber, wo er nicht von
Geröll
oder Schneelagern eingenommen wird, einem
Garten
[* 10] gleichen könne.
In den höhern
Breiten bleiben die
Strahlen der Mitternach
tssonne so kräftig,
daß man mit einem
Brennglas
Feuer anzünden kann; sie lassen die
Sterne nicht hervortreten und beeinträchtigen den
Glanz des
Mondes beträchtlich.