Mirabeau
(spr. -boh), Honoré
Gabriel Riqueti,
Graf, franz. Politiker, geb. zu
Bignon bei
Nemours, stammte aus eiuer angeblich im 13. Jahrh. aus
Florenz
[* 2] nach
Frankreich eingewanderten Familie Riqueti, wahrscheinlicher
einer provençalischen Kaufmannsfamilie, die im 16. Jahrh. die später zum Marquisat erhobene
Herrschaft in der Provence erwarb. Sein
Vater, Victor Riqueti, Marquis de Mirabeau
(geb. gest.
hing dem Physiokratischen
System an und schrieb in diesem
Sinne eine Menge Werke, von denen vor allem der «Ami des hommes»
(5 Bde., Par. 1755)
Anerkennung fand.
Ungeachtet seiner philanthropischen Bestrebungen übte der Marquis in seiner Familie ein hartes Regiment. Honoré
Mirabeau
war der zweite Sohn. Er kam, daheim falsch behandelt und verwahrlost, 1764 nach
Paris
[* 3] in ein strenges Militärpensionat
und trat 17jährig als
Lieutenant in das Kavallerieregiment
Berry. Sein wildes Leben hatte jedoch zur Folge, daß ihn der
Vater 1768 auf
die
Insel Ré gefangen setzen ließ, und erst nach sechs
Monaten erhielt Mirabeau
die Erlaubnis, nach Corsica
[* 4] zur franz.
Legion abzugehen. Da ihm der
Vater aber die
Mittel für die militär.
Carriere verweigerte, verließ er 1770 als Hauptmann
den Dienst und ging auf ein Familiengut in
Limousin. Im Juni 1772 heiratete er, um sich seiner Schulden zu entledigen, die
Tochter des reichen Marquis von Marignane.
Sein Schwiegervater verstand sich aber nur zu einem geringen Jahrgeld; Mirabeau
sah sich bald zu
Grunde gerichtet und im Mai 1773 durch
einen Haftbrief in die kleine Stadt Manosque verwiesen.
Weil er sein Exil brach, ließ ihn der
Vater 1774 auf das Schloß If
und von da im Mai 1775 auf das
Fort Joux bei Pontarlier bringen. Seine Gattin, die er dringend rief, folgte ihm nicht dahin,
und Mirabeau
trat mit der schönen
Sophie de Ruffey, der 24jährigen Gattin des alten Marquis von Monnier, in ein Liebesverhältnis,
das eine neue Haft
M.s in Dijon
[* 5] zur Folge hatte.
Von hier entfloh er in die Schweiz, [* 6] von da mit Sophie vereint nach Holland, wo er sich im Okt. 1776 zu Amsterdam [* 7] unter dem Namen Mathieu niederließ und den «Rat an die Hessen [* 8] und andere an England verkaufte deutsche Völker», d. i. ihren Herren lieber den Gehorsam zu kündigen als sich zu Schergen der Tyrannei zu erniedrigen, den «Essai sur le despotisme» und Schmähschriften gegen seinen Vater veröffentlichte. Inzwischen sprach das Gericht zu Pontarlier das Todesurteil über den Entführer aus, und das Parlament zu Besançon [* 9] ließ es in effigie vollziehen, während der Vater die Auslieferung des Sohnes betrieb.
In der That wurde Mirabeau
zu
Amsterdam mit
Sophie verhaftet und auf den Donjon zu Vincennes, seine Geliebte aber in ein
Kloster zu Gien gebracht. In seiner harten Gefangenschaft, die 42
Monate dauerte, schrieb er, wie stets die
Schriften anderer
plündernd, aber das fremde Gut durch Schwung und Leidenschaft umschmelzend, den glänzenden Essay «Des
lettres de cachet et des prisons d’État» (2 Bde., Hamb.
1782). Seine ebendort geschriebenen, von Leidenschaft erfüllten
Briefe an
Sophie veröffentlichte Manuel u. d. T. «Lettres
originales de Mirabeau
, écrites du donjon de Vincennes» (4 Bde.,
Par. 1792 u. ö.), nicht ohne eigenmächtig dabei zu
verfahren.
Hier in Vincennes schulte sich
M.s reicher
Geist. Erst nachdem sein von der rechtmäßigen Gattin geborener Sohn gestorben
lvar, erhielt Mirabeau
die
Freiheit, Im Sept. 1782 bewirkte er mit genialer Keckheit zu Pontarlier die Aufhebung des
gegen ihn und
Sophie ergangenen
Urteils. Hierauf versuchte er vergebens eine
Annäherung an seine Gattin;
er machte deshalb einen Prozeß anhängig, den er aber verlor (1783). In Gesellschaft einer jungen Holländerin,
Henriette
von Nehra, ging er Ende 1784 nach England, wo er 1788 die durch
Franklin und Chamfort veranlaßten «Considérations sur l’ordre
de Cincinnatus» herausgab, die besonders in Nordamerika
[* 10] große Wirkung hervorbrachten. Zu
London
[* 11] schrieb
er auch die gegen die Politik
Kaiser
Josephs Ⅱ. gerichteten «Doutes sur la liberté de l’Escaut», wozu
ihn vielleicht holländ.
Gold
[* 12] bewogen hatte.
Nach
Paris zurückgekehrt, begann er, von den großen
Bankiers unterstützt, die heftigsten
Angriffe gegen die Finanzverwaltung
Calonnes. Dieser suchte den gefürchteten Publizisten zum Schweigen zu bringen, indem er ihm 1785 den
Auftrag erteilte, eine
Schrift gegen die span. St.
Karls-Bank zu verfassen, zu der Clavière Material lieferte. Als ihn eine
Schrift
«Sur les actions de la Compagnie des eaux de
Paris» mit
Calonne, bei dem er den erhofften Lohn nicht fand, wieder
entzweite und ihn auch mit
Beaumarchais in
Fehde verwickelte, ging Mirabeau.
Mit Empfehlungen des Ministers Vergennes, der ihm nachträglich
die Mission eines geheimen
Agenten übertrug, nach
Berlin.
[* 13] Als solcher drängte sich an den Prinzen
Heinrich und den Thronfolger,
den spätern
Friedrich Wilhelm Ⅱ., heran, verfaßte pikante Depeschen und sammelte, unterstützt von
dem deutschen Offizier
Mauvillon, eine Menge wichtiger Materialien, die er zur Abfassung des Werkes
«De la monarchie prussienne
sous Frédéric-le-Grand» (4 Bde., Lond.
1787; 8 Bde., ebd. 1788) benutzte. Nach seiner Rückkehr Anfang 1787 schrieb
Mirabeau
aufs neue gegen
Calonnes
Verwaltung, da er die gehoffte
Stellung als Sekretär
[* 14] der Notablen nicht fand.
Unter seinen Flugschriften brachte hauptsächlich die «Dénonciation de l’agiotage au roi et à l’assemblée des notables» (1787) eine schlagende Wirkung hervor. Auch Necker erlitt durch ein ähnliches Pamphlet: «Suite de la dénonciation de l’agiotage» (1788), einen empfindlichen Angriff.
Mirabeau
galt bereits als ein Hauptvertreter der Interessen des Dritten
Standes, als die Zusammenberufung der
Reichsstände vorbereitet wurde. Um
¶
mehr
seine Reise nach der Provence zu bestreiten, wo er vom Adel gewählt zu werden hoffte, verkaufte er seine Berliner
[* 16] Berichte als
«Histoire secrète de la cour de Berlin», die dann freilich der Hof
[* 17] verfolgen ließ. Der Adel der Provence wies Mirabeau
unter dem
Vorwand zurück, daß er kein Lehngut besäße. Mirabeau
schied mit der Drohung, daß er gleich Marius die Aristokratie
zertrümmern werde, und trat bei dem Dritten Stande als Wahlkandidat auf, der ihn zugleich zu Aix und zu Marseille
[* 18] wählte.
Er entschied sich für Aix und hob sich durch energisches Einschreiten bei einem durch Hungersnot veranlaßten Aufruhr auf
den Gipfel der Popularität.
Nach der Eröffnung der Nationalversammlung beherrschte M.s Persönlichkeit, trotz eines tiefen Mißtrauens, mit dem man dem berüchtigten Manne entgegentrat, bald die Verhandlungen durch seine ebenso dialektisch scharfe, wie hinreißend feurige Beredsamkeit. Doch war sein polit. Ideal nicht die ins Grenzenlose fortschreitende Revolution, er wollte eine Monarchie, in der die ständische Organisation der alten Zeit vernichtet sein sollte, der er aber immerhin ein ziemliches Maß von Selbständigkeit zuerkennen wollte.
Freilich den Hauptsatz der Revolution von der Souveränität des nationalen Willens, der sich revolutionär äußern dürfe, gab er nicht auf. So waren seine Reden, die übrigens oft nicht seine eigenen Worte, sondern die anderer wiedergaben, stets aus Pathos und Welterfahrenheit, aus Idealismus und praktischer Klugheit gemischt. Verhängnisvoll für die Regierung war es, daß sie Ende Mai, als er ihr seinen Einfluß zur Verfügung stellte, wenn sie im Sinne konstitutioneller Reform davon Gebrauch machen wollte, ihn hochmütig behandelte.
Verhängnisvoll für ihn wurde der Umstand, daß seine polit. Tendenzen stets von persönlichem Ehrgeiz
und der Rücksicht auf die Befriedigung seiner pekuniären Bedürfnisse durchkreuzt wurden. Als der Hof nach Paris übersiedelte,
suchte Mirabeau
mit Hilfe Lafayettes das parlamentarische Ministerium zu erlangen. Sofort aber vereinigten sich in der
Versammlung die Anhänger mit den Gegnern der Revolution zum Widerstande, und ein Dekret vom verhinderte,
daß ein Deputierter Minister werden konnte. Mirabeau
sah hierdurch seine Popularität wie seine polit.
Wirksamkeit für die Zukunft gelähmt. Sein Versuch, wenigstens mittelbar auf die Regierung einzuwirken, indem er den Grafen von Provence, den nachmaligen Ludwig ⅩⅧ., in die Stellung eines Premierministers bringen und ihn durch seinen Rat lenken wollte, scheiterte an der Achtsamkeit der übrigen Minister. Da veranlaßte die Königin ihn unter Mitwirkung des Grafen Mercy-Argenteau, des österr. Botschafters, und von M.s Freunde, dem Grafen La Marck (s. Arenberg), zu einer geheimen Zusammenkunft in den Gärten zu St. Cloud.
Ein Bund ward geschlossen. Aber man hörte nicht ihn allein und folgte auch seinen Ratschlägen nicht. Die großen Geldsummen,
die er jetzt vom Hofe erhielt, gaben seinen Feinden Gelegenheit, ihn als Verräter zu bezeichnen. Mirabeau
verstand es zwar, in
dem wachsenden Sturm immer noch seinen Einfluß machtvoll geltend zu machen, der Prozeß über den Anteil
M.s an den Oktoberereignissen des Vorjahres stärkte seinen Anhang, er erhielt im Dez. 1790 die Präsidentschaft im Klub der
Jakobiner, im Febr. 1791 sogar in der Nationalversammlung.
Der Sturz Neckers, der zum Teil infolge von
M.s Auftreten zu Gunsten einer Vermehrung der Assignaten Sept. 1790 erfolgt
war, hatte diesen mit neuen Hoffnungen auf eine leitende Stellung erfüllt. Doch hat er nur erreicht, daß der Minister Montmorin
sich ihm näherte und sich insgeheim seines Rates bediente. Ob Mirabeau
noch helfen konnte, ist bei der Lage und den Persönlichkeiten
äußerst fraglich. Seine Geltung bei den Jakobinern ging ihm allerdings wieder verloren, aber sein Name
war populär geworden wie kaum ein zweiter in Frankreich.
Als er vom Übermaß geistiger Erregungen und Anstrengungen im Bunde mit ununterbrochenen Ausschweifungen überwältigt starb,
war die Trauer allgemein, und als seine Leiche in der Kirche Ste. Geneviève (Pantheon) neben Descartes, Voltaire
und Rousseau beigesetzt wurde, war die Nation eins in der Verehrung seines Genies. Der liberalen Nachwelt wurde Mirabeau
die Verkörperung
des konstitutionellen Princips. Sie hat ihn unzweifelhaft oft idealisiert und weit überschätzt.
Eine Ausgabe seiner «Œuvres» mit einer Biographie veranstaltete Mérilhou (9 Bde., Par. 1825‒27). Chaussard veröffentlichte einen Auszug aus M.s Schriften und Reden u. d. T. «L’esprit de Mirabeau» (2 Bde., 1797). Schon 1791 und 1792 erschien eine «Collection complète des travaux de Mirabeau l’ainé à l’assemblée nationale, recueillie par E. Méjan» (5 Bde.),
1806 «Lettres inédites de Mirabeau», hg. von Vitry. Eine außerordentlich wichtige Quelle [* 19] für die parlamentarische Wirksamkeit M.s sind seine «Lettres à ses commettants» (Par. 1791),
ein Bericht über die Verhandlungen, den er in der Wochenschrift «Courier de Provence» 1789‒91 veröffentlichte. Nachrichten über M.s Leben und Wirksamkeit teilte sein natürlicher Sohn Lucas Montigny mit in den «Mémoires biographiques, littéraires et politiques de Mirabeau» (8 Bde., Par. 1834); Bacourt gab die wichtige «Correspondance entre le comte de et le comte de Lamarck» (3 Bde., ebd. 1851; deutsch, 3 Bde., 2. Ausg., Brüss. 1854). –
Vgl. außerdem Peuchet, Mémoires sur Mirabeau (4 Bde., Par. 1824);
Dumont, Souvenirs sur Mirabeau (ebd. 1832);
Joly ^[Aristide Joly], Les procès de Mirabeau en Provence (ebd. 1863);
Plan, Un collaborateur de Mirabeau (ebd. 1873);
de Loménie, Les Mirabeau (2 Bde., ebd. 1878; neue Ausg., 3 Bde., 1889);
Guibal, et la Provence en 1789 (ebd. 1887);
Stern, Das Leben M.s (2 Bde., Berl. 1889);
Gradnauer, M.s Gedanken über die Erneuerung des franz. Staatswesens (Halle [* 20] 1889);
Schwarz, Mirabeau und Marie Antoinette (Bas. 1891);
Mézières, Vie de Mirabeau (Par. 1892);
Jobez ^[Alphonse Jobez], La France sous Louis ⅩⅥ (Bd. 3. ebd. 1893).