Titel
Mensch
enrassen.
[* 3] Seit langem streiten zwei verschiedene wissenschaftliche Richtungen darüber, ob die Menschen als eine Art (Homo sapiens L.) mit verschiedenen Rassen aufgefaßt oder in mehrere Arten abgeteilt werden müssen. Von vornherein schon spricht die bei Kreuzung der Menschen der verschiedensten Abstammung vorhandene Fruchtbarkeit für die erstere Anschauung, und trotz der Größe der vorhandenen Unterschiede und der Konstanz [* 4] derselben deutet doch auch die vollkommene, jede scharfe Grenze vermissen lassende Überbrückung dieser Unterschiede durch auf das feinste abgestufte Zwischenglieder in derselben Richtung.
Der erste, der in der Neuzeit eine wissenschaftliche
Einteilung des Mensch
engeschlechts versuchte, war Linné (Systema naturae, 12. Aufl.,
Stockh. 1766, Bd. 1, S. 28 fg.),
er teilte sein mit
Affen,
[* 5] Halbaffen
[* 6] und Fledermäusen in dieselbe Ordnung der Primaten eingereihtes Geschlecht der
Menschen
(Genus
Homo sapiens L.) in zwei
Arten
(Species): den Tagmenschen
(Homo diurnus
L.) und den Nachtmenschen
(Homo nocturnus L.);
der letztere ist der «Orang-Outang» des Bontius, dessen Menschenähnlichkeit durch die Beschreibung der Reisenden sehr übertrieben war.
Der Tagmensch zerfällt in vier Rassen nach
den bekannten vier Kontinenten mit Berücksichtigung körperlicher und geistiger (ethnogr.) Eigenschaften, unter erstern
namentlich Hautfarbe und die
Farbe und
Bildung der
Haare,
[* 7] unter letztern die vier
Temperamente und die Kleidung: Amerikaner,
Europäer, Asiate, Afrikaner. Außerdem unterschied Linné noch als eine fünfte
Varietät oder Rasse
den monströsen
Menschen
(Homo diurnus var. monstrosus
L.) und als Stammform aller genannten
Varietäten den «wilden
Menschen»
(Homo diurnus ferus L.).
Blumenbach
(De generis humani varietate nativa, 3. Aufl., Gött. 1795)
fügte zu den vier geogr. Rassen Linnés für die neuerschlossene Inselwelt
des fünften Erdteils noch eine fünfte Menschenrasse
, die malaiische.
Bei seiner Rassenaufstellung benutzte er vor allem noch die verschiedenen Kopfformen. Er stellte auf: Kaukasier, Mongolen,
Äthioper, Amerikaner, Malaien. Der engl.
Arzt und Naturforscher Prichard baute auf dieser Grundlage ein ethnolog.
System der
Menschenrassen
aus, ihm folgten Horatio
Hale u. a. Das wichtigste deutsche Werk dieser
Richtung ist die von Gerland
fortgesetzte
«Anthropologie der Naturvölker» von Theod.
Waitz, an die sich Fr. Ratzels
«Völkerkunde» anreiht. In
Deutschland
[* 8] hat man bis zum Ende der sechziger Jahre an der Blumenbachschen
Einteilung der Rassen festgehalten, während man in
Frankreich
noch heute
Cuvier folgt, der die Menschheit nach ihrer Hautfarbe in drei Rassen (nach den drei
Söhnen
Noahs) einteilt: in eine weiße, gelbe und schwarze, wobei für feinere Abgrenzungen auch Gewicht auf die Sprachunterschiede
und ethnogr. Verhältnisse gelegt wird, die
Blumenbach unberücksichtigt gelassen hatte.
Unter den neuesten Systemen unterscheidet man solche, die auf rein körperlichen (somatischen) Merkmalen fußen, und andere, die neben und vor diesen die sprachlichen (linguistischen) Unterschiede ins Auge [* 9] fassen. Unter den rein somatischen Systemen ist das wichtigste das allein auf den Schädelbau sich gründende kraniologische System von A. Retzius. Er verwandelte die schätzende Methode Blumenbachs in eine messende, mathematische, indem er zunächst das Verhältnis der Länge zur Breite [* 10] des Hirnschädels in einen zahlenmäßigen Ausdruck (Schädelindex) brachte; die relativ schmalen Schädel nannte er Langköpfe, Dolichokephalen, die relativ breiten Schädel Kurzköpfe, Brachykephalen, zu welchen dann später, durch Welcker und Broca, noch die Gruppe der zwischen diesen Extremen stehenden Mittelköpfe, Mesokephalen, kam.
Schon P.
Camper hatte am Ende des 18. Jahrh. bei den
Negern ein schnauzenförmiges Vorspringen der Mundpartie der
Kiefer beobachtet
und die Messung derselben in seinem
«Camperschen
Gesichtswinkel» gelehrt; Prichard sah das gleiche Vorspringen der Mundpartie
bei andern niedern Menschenrassen
und erfand dafür die Bezeichnung Schiefzähner (Prognathen), welchen die
Menschen
mit senkrecht übereinander stehenden Schneidezähnen, die Geradzähner
(Orthognathen), gegenüberstehen.
Retzius gruppierte nun die Menschen nach ihrer Schädelbildung und zwar nach der relativen Länge und Breite des Hirnschädels, wobei er zugleich die Ausbildung der Kiefer berücksichtigte. Als orthognathe Dolichokephalen bezeichnete er: Germanen, Kelten, Altrömer, Altgriechen, Hindu, Perser, Araber, Juden;
als prognathe: Australier, Neger, Tungusen, Chinesen, Eskimo, mehrere Indianerstämme;
als orthognathe Brachykephalen: Slawen, Letten, Lappen, Finnen, europ. Türken und Ungarn; [* 11]
als prognathe die beiden letztern Stämme in Asien, [* 12] Cirkassier, Afghanen, Mongolen, Malaien, Polynesier, Papua, mehrere Indianerstämme. R. Virchow, Welcker, Broca, J. Kollmann u. v. a. bauten dieses Retziussche System noch weiter systematisch aus.
Im nähern Anschluß an Linné und den franz. Naturforscher Geoffroy Saint-Hilaire u. a. stellte E. Haeckel, die Beschaffenheit der Behaarung der Menschen zu Grunde legend, folgendes System auf: I. Wollhaarige Rassen: a. Büschelhaarige, b. Vließhaarige. II. Schlichthaarige Rassen: a. Straffhaarige, b. Lockenhaarige. - Andere suchen die verschiedenen körperlichen Merkmale für ihr System zusammen zu benutzen, wie der franz. Forscher P. Topinard und der englische Hurley: Größe und Proportion des Körpers, Haut- und Haarfarbe, Haarform, Haarreichtum, Schädelform und sonstige Skeletteigentümlichkeiten u. a. Demnach unterscheidet Hurley vier resp. fünf Rassen oder Typen:
1) australoider Typus (V, X, XI F. Müllers, s. unten);
2) negroider Typus (I-IV F. Müllers);
3) mongoloider Typus (VI-IX F. Müllers);
4) und 5) der weiße Typus (XII F. Müllers) und zwar 4) der xanthochroische Typus, die Blond-Weißen und 5) der melanochroische Typus, die Brünett-Weißen; welche letztere Hurley für eine Mischung der Blond-Weißen mit dem australoiden Typus hält. Diesen rein somatischen Systemen stehen linguistische und gemischt somatisch-linguistische Systeme gegenüber.
Der wichtigste Versuch einer systematischen Anordnung der Völker vorwiegend nach dem Gesichtspunkt der Sprache [* 13] wurde von F. Müller gemacht, er findet sich in dem anthropol. Teil der «Reise der Fregatte Novara um die Erde» (Wien [* 14] 1868) und in Behms «Geogr. Jahrbuch», Bd. 3 (Gotha [* 15] 1870). Dem ersten Werk ist auch eine ethnogr. Weltkarte beigegeben. (Vgl. auch Gerland, Atlas [* 16] der Völkerkunde, in Berghaus' «Physik. Atlas», Gotha 1892.) Dieses System hat in Deutschland sehr weite Verbreitung gefunden, namentlich in Vereinigung mit dem obenerwähnten System von E. Haeckel. F. Müller hat dieses System («Allgemeine Ethnographie», Wien 1873; 2. Aufl. 1879) bis ins einzelne durchgeführt und folgende Übersicht (12 Rassen) ¶
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aufgestellt (hierzu Karte: Die Verbreitung der Menschenrassen
nach F. Müller und O. Peschel): A. Wollhaarige Rassen, a. Büschelhaarige:
I. Hottentotten und Buschmänner, II. Papua, b. Vließhaarige: III. Afrik. Neger, IV. Kaffern (Bantu). B. Schlichthaarige Rassen.
a. Straffhaarige: V. Australier, VI. Hyperboreer, VII. Amerikaner, VIII. Malaien, IX. Mongolen oder Hochasiaten, b.
Lockenhaarige: X. Nuba-Fulbe, XI. Drâvida, XII. Mittelländer. Müllers Einteilung wurde von O. Peschel («Völkerkunde», Lpz.
1874; 6. Aufl., bearbeitet von A. Kirchhoff, 1885), jedoch mit Hinweglassung des Einteilungsgrundes
nach der Beschaffenheit der Behaarung und unter Zusammenziehung mehrerer Rassen in eine, angenommen. Peschel stellte folgende
sieben Rassen auf (s. Karte): I. Australier, II. Papua, III. Mongolen, IV. Drâvida, V. Hottentotten und
Buschmänner, VI. Neger, VII. Mittelländische Rasse. In neuester Zeit arbeiten namentlich R. Virchow und seine anthropol. Schule
an den notwendigen exakten Grundlagen für ein wahrhaft natürliches System der Menschheit, diesen bisher genannten mehr oder
weniger künstlichen Systemen gegenüber. (S. Mensch.)