Titel
Medizīn
(lat.
Medicina,
Heilkunde und Heilkunst), die
Wissenschaft vom
Menschen im gesunden und kranken
Zustand und die
Kunst, die
Gesundheit zu erhalten, der
Krankheit vorzubeugen und die
Heilung zu fördern. Demgemäß kann sie
in wissenschaftlicher (theoretischer) und in praktischer, künstlerischer Hinsicht und Form bearbeitet, dargestellt und gelehrt
werden. Als
Wissenschaft hat die Medizin
von alters her die
Schicksale der
Naturwissenschaften überhaupt geteilt,
und noch heute gibt es keine derselben, welche nicht von Einfluß auf die Medizin
wäre.
Die Medizin
, in ihrer weitesten Bedeutung aufgefaßt, zerfällt in eine Anzahl von
Fächern, die sich wiederum in zwei
Gruppen sammeln,
von denen die eine den gesunden, die andre den kranken menschlichen
Körper zum Gegenstand hat. Zu der
ersten
Gruppe gehören die
Anatomie mit der
Histologie, die
Physiologie, die
Hygieine mit der
Diätetik und
Eubiotik sowie die Prophylaktik.
Die
zweite
Gruppe umfaßt die
Pathologie mit
Nosologie,
Pathogenie und pathologische
Ätiologie, die
Anamnestik, Symptomatologie,
Semiotik, Diagnostik und Prognostik, auch die Texikologie und namentlich die pathologische
Anatomie.
Lehrbegriff - Lehrerin
![Bild 61.37: Lehrbegriff - Lehrerinnen [unkorrigiert] Bild 61.37: Lehrbegriff - Lehrerinnen [unkorrigiert]](/meyers/thumb/61/61_0037.jpeg)
* 3
Lehre.Die Lehre [* 3] von der Heilung der Krankheiten, von den dabei stattfindenden Lebensprozessen, ihren Zeichen, ursachlichen Momenten und der Wahl der dazu erforderlichen Mittel wird Therapie genannt. Sie zerfällt in die allgemeine und spezielle Therapie, von welchen sich die letztere mit der Heilung der einzelnen Krankheitsspezies befaßt. An die Therapie schließen sich die Pharmakologie oder Materia medica, die Pharmakodynamik und die Pharmazie mit der Rezeptierkunst an, welch letztere die Regeln zu angemessenen Vorschriften und Zusammensetzungen der einzelnen Arzneikörper enthält.
Als einzelne
Zweige der
Pathologie und
Therapie stellt man gewöhnlich auf: die
Chirurgie oder
Wundarzneikunst, die sogen. innere
Medizin
(welche sich mit den
Krankheiten und der
Heilung innerer
Organe befaßt), die Geburtshilfelehre, die
Seelenheilkunde,
Augen- und Ohrenheilkunde etc. Die
Chirurgie handelt von der
Kunst, mechanische Hilfsmittel zur Beförderung
der
Heilung in
Gebrauch zu ziehen, beschäftigt sich aber zugleich mit den einzelnen
Krankheiten, welche vorzüglich durch mechanische
Heilmittel kuriert werden, auf der äußern Oberfläche des
Körpers ihren Sitz haben und durch äußere,
besonders mechanisch wirkende,
Ursachen entstanden sind.
Die Geburtshilfelehre (ars obstetricia, franz. accouchement), in welcher alles abgehandelt
zu werden pflegt, was sich auf das Geburtsgeschäft bezieht, ist ein besonderer Teil der
Gynäkologie.
Letztere beschäftigt
sich mit allen denjenigen anatomischen, physiologischen, pathologischen und therapeutischen Verhältnissen,
welche sich auf den weiblichen
Organismus beziehen.
Augen- und Ohrenheilkunde sind nur Unterabteilungen der
Chirurgie. Die
Seelenheilkunde
(Psychiatrie) handelt von den
Störungen des psychischen
Lebens und von der
Kunst, auf die
Seele des
Menschen zum Behuf der
Heilung
einzuwirken, die gerichtliche Medizin
von den Untersuchungen an lebenden
Personen sowie an
Leichen zum
Zweck
der Beantwortung von
Rechtsfragen.
Schon diese Übersicht der
Wissenschaften, aus denen sich die eigentliche Medizin
aufbauen muß, lehrt, daß sie nur eine Tochter
der Zeit ist und sein kann. Sie mußte jahrtausendelang voll
Irrtümer bleiben und eine Unzahl zusammenhangsloser Einzelerfahrungen
und Einzelregeln darstellen, bis die Grundwissenschaften,
Physik,
Chemie,
Naturgeschichte,
Anatomie und
Physiologie,
sich zu dem
Rang wirklich exakter
Naturwissenschaften erhoben, worauf auch die Medizin
angefangen hat, sich auf diese
Stufe zu erheben.
Man nennt diese die »neuere Medizin«
, weniger richtig die »neuere
Schule«, indem hier von keiner dogmatischen
Schule, sondern nur von der Gesamtheit der echt naturwissenschaftlich
denkenden und forschenden
Ärzte die
Rede sein kann.
Medizin (im Altertum u

* 4
Seite 11.402. Geschichte der Medizin.
Die Geschichte der Medizin
beginnt mit dem ersten
Versuch einer rationellen
Beobachtung und Behandlung der
Krankheiten und bewegt
sich auch ferner ganz auf diesem Gebiet, indes sie die rein empirischen Bestrebungen beiseite liegen läßt. Diese haben
zu allen
Zeiten und besonders im
Altertum unter dem
Volk existiert, während die eigentliche als
Beruf immer
von einem bestimmten
Stand gepflegt und weitergebildet wurde. Bei den Völkern des
Altertums stand die Heilkunst wesentlich
mit dem religiösen
Kultus
¶
mehr
im Zusammenhang; sowohl bei den Indern, Arabern, Ägyptern als bei den Griechen galt die Heilkunst für eine den Priestern
von der Gottheit gemachte Offenbarung, welche sich dann durch Tradition weiter vererbte. Über das Alter der vor nicht gar langer
Zeit entdeckten Sanskritschriften streiten die Philologen; man verlegt ihre Entstehung teils 1000-1400
Jahre v. Chr., teils in das erste Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung. Der Agur-Weda ist das für die Medizin
wichtigste Sanskritwerk
und von Susrutas abgefaßt.
Bei den Griechen konzentrierte sich der Inbegriff alles ärztlichen Wissens auf Asklepios [* 5] (Äskulap), einen Sohn des Apollon, [* 6] und seine Tempel [* 7] (Asklepien) waren lange Zeit die einzigen Orte, wo Kranke sich hinwenden konnten, um Genesung zu erlangen. Die Heilmittel, welche man anwendete, waren teils psychischer, teils physischer Art. Sie wurden den Kranken durch Träume offenbart, welche die Priester auslegten. Die eigentliche Umbildung und tiefere Entwickelung der Heilkunde aber ging von Hippokrates (geb. 460 v. Chr.) aus, bei welchem die Beobachtung in ihrer vollen Reinheit und Konsequenz, frei von den Vorurteilen der Priesterschule auftritt.
Mit den Schülern des Hippokrates begann die dogmatische Schule, von welcher zwar eine Menge philosophischer Theoreme und Spitzfindigkeiten
in die Medizin
hineingetragen, aber auch neue Entdeckungen gemacht wurden, und Dogmatiker waren es, die zuerst größere
Operationen unternahmen. Unter Ptolemäos I. lebten in Alexandria Erasistratos und Herophilos, die beiden größten Kenner der
menschlichen Anatomie im Altertum. Seit 280 v. Chr. trat nun die empirische Schule dem Dogmatismus entgegen, welche sich wieder
auf genaue Beobachtung legte und die Hauptquelle der ärztlichen Erkenntnis in der Erfahrung suchte.
Von Alexandria wanderte die griechische Heilkunde zu den Römern, bei denen ebenfalls ursprünglich nur
die Priester im Besitz medizin
ischer Kenntnisse waren. Die Richtung des Asklepiades erhielt ihre theoretische Begründung durch
die Schule der Methodiker, als deren Stifter Themison von Laodikea (63) angeführt wird. Er strebte, das Gemeinsame in den verschiedenen
Krankheiten aufzusuchen, diese auf wenige Typen zurückzuführen und für jeden Typus eine einfache Heilindikation
zu finden.
Lehrbataillon - Lehren

* 8
Lehren.
Zwischen 30 v. Chr. und 38 n. Chr. lebte Aul. Corn. Celsus (s. d.), von dessen Werk »De artibus« der erhaltene medizin
ische Teil
sich durch eine im allgemeinen verständige Zusammenstellung und Kritik gleichzeitiger und früherer Lehren
[* 8] auszeichnet. Der
atomistischen Lehre des Asklepiades und der Methodiker trat die dynamische der Pneumatiker entgegen, die
das Pneuma, das luftartige Prinzip, von dem alle Thätigkeit im Körper, Krankheit und Gesundheit ausgehe, in den Vordergrund stellte.
Als Stifter dieser (neuern) pneumatischen Schule wird Athenäos aus Kilikien um 69 genannt. Sein Schüler Agatinos ^[richtig: Agathinos]
aus Sparta wich von der einseitigen Richtung seines Meisters ab und gründete 90 die eklektische Schule, die letzte unter den
ärztlichen Schulen des Altertums.
Am Ausgang der römischen Periode der Medizin
steht Galenos, der in seinen Werken noch einmal das ganze medizinische Wissen des Altertums
zusammenfaßte und namentlich in der speziellen Physiologie wichtige Angaben hinterlassen, in Bezug auf
Pathologie sich aber besonders um die Theorie einzelner Krankheiten und krankhafter Symptome verdient gemacht hat. Für alle
nach ihm lebenden Ärzte des Altertums blieb er fast unbedingte Autorität, und für die Heilkunde des Mittelalters dienten seine
Schriften als
Grundlage und Ausgangspunkt.
Persien

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Persien.Unmittelbar nach ihm verfiel die medizinische Kunst und Wissenschaft. Magische Heilungen kamen an die Tagesordnung und brachten das Bedürfnis wissenschaftlicher Bildung fast völlig zum Schweigen. Zu gleicher Zeit machte sich die blindeste Empirie breit, welche vornehmlich nach neuen Arzneimitteln haschte und zu diesem Behuf namentlich das Tierreich ausbeutete. Von den Griechen gelangte die Medizin über Persien [* 9] und Ägypten [* 10] nach der Eroberung dieses Landes zu den Arabern, welche sich des überlieferten Schatzes mit Glück bemächtigten.
Ganz besonders wurde im 9. Jahrh. durch Übersetzung griechischer Schriften die Litteratur der Heilkunde bei den Arabern erweitert. Durch Vielseitigkeit des Wissens ragte besonders der gelehrte Abu Jusuf Jakub ben Izhak el Kindi (Alkindus) hervor, von dessen zahlreichen Übersetzungen und eignen Werken (deren man 200 angibt) nur eins: »Über die zusammengesetzten Arzneien«, in Europa [* 11] bekannt geworden ist, worin die Grade und Qualitäten der Arzneien nach mathematischen Prinzipien und nach den Gesetzen der musikalischen Harmonie bestimmt sind.
Auf die Männer, die größtenteils sammelten und übersetzten, folgten im 10. und 11. Jahrh. die Koryphäen der arabischen Heilkunde, welche im Orient noch heutzutage als solche angesehen werden: Rhazes, Haly Abbas und Avicenna. Besonders war es der letztere (eigentlich Abu Ali Alhossain ebn Abd Allah ebn Sinah), der jahrhundertelang mit Aristoteles und Galenos die Despotie im Reich der Wissenschaften teilte. Sein »Kanon« galt bis ins 16. Jahrh. herab als das umfassendste und beste Lehrgebäude der Heilkunde in den Schulen der Ärzte. Mit Avicenna erreichte die arabische Heilkunde ihren Höhepunkt, von welchem aus sie, von fremden, abendländischen Einflüssen mehr und mehr berührt, ihrem Verfall entgegeneilte. Was den allgemeinen Charakter der arabischen Heilkunde betrifft, so war dieselbe zwar ganz auf die griechische basiert, aber doch in vieler Hinsicht eigentümlich.
In der christlichen Welt des Mittelalters geriet wie alle andern Wissenschaften die Medizin in die Hände der Mönche, welche wenig Förderliches an ihr geleistet haben. Der erste berühmtere Mann ist Konstantin der Afrikaner (gest. 1087), durch den vornehmlich die Kenntnis der arabischen Medizin im Abendland verbreitet ward, der aber auch zahlreiche eigne Werke schrieb, unter denen das »Breviarium viaticum« geraume Zeit ein geschätztes Lehrbuch war. Die uns erhaltenen Werke der salernitanischen Schule sind meist in gereimten Hexametern, den sogen. leoninischen Versen, geschrieben.
Medizin (im 15.-17. Ja

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Seite 11.403.Ein Hauptverdienst dieser Schule ist, daß sie die Medizin von der hierarchischen Bevormundung und Klausur zuerst frei zu machen begann; die Mönche verwandelten sich nach und nach in Laienärzte, unter denen häufig auch Juden, namentlich als Leibärzte von Fürsten, erscheinen. Nun mußte aber auch die weltliche Obrigkeit sich veranlaßt finden, das Treiben der aus der Obhut der Kirche entlassenen Ärzte zu überwachen, und so entstand eine Reihe von Medizinalgesetzen, unter denen die des Kaisers Friedrich II. von Hohenstaufen (1238) die wichtigsten sind. Auch das Gewerbe der Droguisten und Apotheker ward durch bestimmte Vorschriften geordnet. Ein höchst wichtiges und folgenreiches Ereignis war es, daß 1315 ein Professor zu Bologna, Mondini de' Luzzi (Mundinus), das wagte, was Kaiser Friedrich II. vergeblich gewünscht und Papst Bonifacius VIII. eben noch mit dem strengsten Kirchenbann verpönt hatte, indem er öffentlich zwei ¶
mehr
weibliche Leichname zergliederte und damit die Anatomie in die Reihe der Universitätsstudien einführte.
Wormditt - Worms

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Worms.Eine neue Epoche in der Geschichte der Heilkunde beginnt mit dem Umschwung, welcher in fast allen Wissenschaften und Künsten unter Vermittelung der Reformation und der Erfindung der Buchdruckerkunst sowie des erwachenden kritischen Geistes sich vollzog. Es begann die Naturbeobachtung wieder in ihr Recht zu treten und sich von den Fesseln der Scholastik, wenn auch langsam und allmählich, zu lösen. Vor allem war es die Wiederbelebung, man kann fast sagen die Wiederentdeckung der Anatomie und die von nun an rastlos fortschreitende Ausbildung dieser Wissenschaft, welche den Boden ebnete. Sylvius, Vesalius, zu dessen berühmtem Werk über den Bau des menschlichen Körpers vielleicht Tizian selbst, sicher aber sein Schüler Johann von Kalkar die Zeichnungen fertigte, Fallopia (gest. 1562), Eustachio (gest. 1579) wurden die Begründer unsrer heutigen Anatomie. Auch die Geburtshilfe blühte zu dieser Zeit auf; zu Anfang des 16. Jahrh. (1513) schrieb Eucharius Rößlein (Rhodion), Arzt zu Worms [* 13] und Frankfurt, [* 14] »Der schwangern Frauen Rosengarten«, ein aus ältern Schriften kompiliertes, aber mit deutscher Sinnigkeit verfaßtes Hebammenbuch, das aller Mangelhaftigkeit ungeachtet lange Zeit im Gebrauch blieb. In dieser Zeit kam auch zuerst die gerichtliche Medizin auf, die aber erst später weitere Ausbildung fand.
Der skeptisch-kritische Ton wurde dem herrschenden Galenischen und arabischen System gegenüber besonders durch Theophrastus Bombastus Paracelsus (gest. 1554) angeschlagen, welcher der Heilkunde eine ideale Richtung erteilte und die schon längst wankenden Pfeiler der Herrschaft Galenos' vollends niederriß. Seine Erscheinung bezeichnet die eigentliche Grenzscheide des Mittelalters und den Anbruch der für die Heilkunde lange schon vorbereiteten neuen Zeit.
Der Grundgedanke dieses Mannes ist die Auffassung der Natur als eines großen lebendigen Ganzen, in welchem weder Stillstand noch Tod, sondern stets fortschreitende, durch ein inneres Prinzip bedingte organische Entwickelung besteht. Demgemäß gilt ihm die Krankheit als ein lebendiges Wesen, als eine parasitische Pflanze mit einem selbständigen, individuellen Lebensprozeß, der im Schoß eines andern, höhern sich bilde. Die Heilung erschien ihm als ein aus dem gesunden Leben entsprungener, spezifisch individueller Vorgang, den die Natur und öfters die Kunst hervorrufe, um die Krankheit dadurch zu bekämpfen.
Schijaku - Schild

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Schild.Die wahren Heilmittel (arcana) sind ihm daher samenähnliche Wesen, aus denen im Schoß des Organismus eine neue individuelle Lebensentwickelung behufs der Überwältigung der krankhaften hervorgehe. Auch Laien begannen unter Paracelsischem Schild [* 15] sich mit einer mystischen Medizin zu befassen, und die Heilkunst ward wieder völlig in das Gebiet der Mystik entrückt, als die Gesellschaft der Rosenkreuzer (s. d.) den Namen des Paracelsus zu ihrem Losungswort erhob. Als Verteidiger der alten Schule gegen die Paracelsischen Neuerungen trat mit besonderm Erfolg Andr. Libavius aus Halle [* 16] auf, dessen chemische Arbeiten das Irrige und Phantastische in vielen Paracelsischen Behauptungen bloßstellten.
Sein Verdienst ist es, daß von nun an die Chemie immer größern Einfluß auf die Heilkunde gewann, die spagirische und die spagirischen Mittel der Paracelsisten sich ihrer geheimnisvollen Hüllen mehr und mehr entäußerten und zu ihrer wissenschaftlichern Schätzung und Gewinnung die Bahn gebrochen ward. Unter den großen Philosophen des 17. Jahrh. haben vornehmlich Baco von Verulam und Descartes, die beiden Hauptwortführer der Erfahrung und Spekulation, den entschiedensten Einfluß auf die Heilkunde ausgeübt.
Namentlich bot letzterer durch seine Korpuskularlehre den dogmatischen Bestrebungen der Ärzte einen willkommenen Stoff dar, während der Einfluß des erstern erst später die starre Einseitigkeit der Schule überwinden half. Ehe dies aber geschah, führte der Dogmatismus in der Medizin noch das Zepter, indem er sich in zwei Schulen, die chemiatrische und iatromathematische, teilte. Die chemiatrische Schule schloß sich zum Teil den Lehren des Paracelsus an, und es ging daraus hervor, daß man die Chemie nicht bloß zur Bereitung der Arzneien, sondern auch zur Erklärung des organischen Lebens mehr und mehr zu Rate gezogen wissen wollte.
Schon zu Anfang des 17. Jahrh. wurden auf den Universitäten eigne Lehrstühle der »Chymiatria« errichtet. Diese Chemiatrie bestand aber lediglich in der Darstellung und Anwendung der neuen mineralischen Arzneimittel, von denen nach und nach zweckmäßigere Formen und Zusammensetzungen bekannt wurden. Eine andre und zwar spiritualistische Gestaltung erhielt die Chemiatrie durch van Helmont (gest. 1644), welcher Mystik und Naturforschung miteinander zu verbinden strebte und als Hauptgedanken die Beseelung der ganzen Natur durch geistige Schöpfungskräfte aufstellte. An der Spitze dieser Kräfte stand ihm der Archeus oder das schaffende Prinzip der Natur, und seine Therapie zielte auf Beruhigung und Zurechtleitung des erzürnten oder verirrten Archeus hin, wozu er geistige Einwirkungen und Arkana, aber auch Wein, Opium, Spießglanz- und Quecksilbermittel benutzte.
Kreislauf des Blutes

* 17
Kreislauf.Die zweite Schule des Dogmatismus, die iatromathematische oder iatromechanische, suchte das Leben aus den Gesetzen der Statik und Hydraulik zu begreifen und wollte die als einen Teil der angewandten Mathematik und mechanischen Physik angesehen und behandelt wissen. Indem wir aus der Enge dieser Schulen auf das große offene Feld der Erfahrung heraustreten, begegnen uns zunächst die glänzenden Namen eines Harvey und Sydenham. William Harvey (1578-1657) machte die große Entdeckung vom Kreislauf des Bluts, [* 17] verkündigte das omne vivum ex ovo gegen die Anhänger der Generatio aequivoca und ward dadurch der wahre Schöpfer der neuern Physiologie.
Die Anatomie erfreute sich in diesem Jahrhundert besonders eifriger Bearbeitung, und namentlich trug die Verbesserung der Mikroskope [* 18] mächtig dazu bei, »die Verhältnisse im kleinsten Raum aufzuschließen«, was zunächst durch Malpighi und Leeuwenhoek geschah. Unter den Krankheiten des 17. Jahrh. nehmen einen Hauptplatz die Seuchen ein, welche durch Krieg, Hungersnot, Elend aller Art und durch ungewöhnliche kosmische und tellurische Einflüsse begünstigt wurden.
Von chronischen Krankheiten lernte man die Rhachitis kennen, deren erste Erscheinung in das Jahr 1630 fällt; auch der Kretinismus in den Alpenthälern regte zuerst die Aufmerksamkeit der Ärzte an. Der größere Verkehr mit entfernten Weltteilen vermehrte die Erfahrungen über den klimatischen Unterschied der Krankheiten, und auch der Beobachtung der Epidemien und der epidemischen Konstitution wurde größere Aufmerksamkeit zugewendet, nach dem Vorgang Thomas Sydenhams (1624-89), der, die Idee des Lebens in ihrer ganzen Reinheit fassend; die dem Leben entfremdete Heilkunde wieder auf den Weg der Natur leitete. Die Heilkunde des beginnenden 18. Jahrh. fand ihre beiden größten Koryphäen, Stahl und Hoffmann, auf ¶