Martigny
Bourg, deutsch
Martinach Burg (Kt. Wallis,
Bez. Martigny
).
496 m. Gemeinde in der
Ebene von
Martigny, unter der
Combe de
Martigny und
an der Stelle, wo die
Dranse aus den
Bergen heraustritt. Besteht aus dem
Bourg, der 1 km ssw. von
Martigny Ville liegt und mit
diesem letzteren
Ort bis 1841 administrativ vereinigt war, sowie aus einigen bescheidenen Häusergruppen, wie
Le Vivier und
Le Moulin Tornay in der
Ebene und
Chemin d'en Bas und Les
Écoteaux am
Mont Chemin. Zusammen 179
Häuser, 1298 kathol.
Ew. französischer Zunge; der
Bourg allein: 149
Häuser, 1129 Ew. Postbureau, Telegraph, Telephon; Postwagen Bahnhof
Martigny-Orsières-Grosser
St. Bernhard und Bahnhof
Martigny-Sembrancher-Le
Châble-Lourtier. Schiess-, Gesang-, Musik- und landwirtschaftliche Vereine
etc. Elektrizitätswerk und elektrische Beleuchtung. Der
Bourg, ein wichtiger Handels- und Verkehrsmittelpunkt
für die umliegenden Thalschaften, ist nach einem nahezu einheitlichen
Plan erbaut und besteht aus zwei Zwillingsplätzen
und zwei diesen entsprechenden parallelen
Strassen. Den einen
Platz umgeben Verkaufsmagazine, während der andere für den
wöchentlichen Viehmarkt bestimmt ist, und an der einen Strasse stehen gut gebaute
Häuser mit zahlreichen
Läden
und Werkstätten, an der andern dagegen
Scheunen, Ställe und alle Arten von Hintergebäuden. Mit
Martigny Ville ist der
Bourg
seit 1899 durch eine mit Kirschbäumen bepflanzte
Allee verbunden, die den vielfach gekrümmten und von
Nussbäumen beschatteten
einstigen Weg ersetzt hat. Die
Häuser lehnen sich an den Hang des
Mont Chemin an, dessen Waldungen den
Flecken vor den Lawinen schützen und die Dächer noch teilweise überschatten. Holzschlag war in diesem
Wald früher unter
der Strafe verboten «d'avoir le poing droit coupé avec infamie et de soixante
livres d'amende».
Die Gemeinde Martigny Bourg
umfasst ausser der
Ebene noch einen Teil des Bergspornes des
Mont Chemin, um
den die
Dranse vor ihrem Eintritt in die
Ebene herumbiegt und dessen Fuss sie dann auf eine Länge von 8 km folgt. Während
der Berghang zwischen
Bovernier und dem
Bourg nahezu unproduktiv ist, trägt er von der Stelle an, wo sich die
Dranse von ihm
entfernt, bis nahe
zum Dorf
Charrat grosse Waldungen von beträchtlichem Ertrag. Zwischen dem
Bourg und
dem
Weiler
Le Guercet liegt die etwas sumpfige, aber gut angebaute
Ebene, und jenseits der
Dranse befinden sich Weinberge, die
zu einem Teil ebenfalls noch der Gemeinde angehören.
Die nahe Lage der beiden oft an Bedeutung einander gleichstehenden Ortschaften Martigny Bourg
und
Martigny Ville
hat zwischen ihnen einen Wetteifer gezeitigt, der manchmal in eine eifrige und beinahe leidenschaftliche Konkurrenz ausartete.
Der lange Zeit der
Ville an wirtschaftlicher Bedeutung sogar überlegene
Bourg besitzt den Montags-Wochenmarkt und sehr wichtige
Jahrmärkte. Die Berechtigung zum Abhalten der beiden ältesten und zugleich besuchtesten dieser letztern
(derjenigen vom zweiten Montag im Juni und vom dritten Montag im Oktober) geht bis zum zurück, unter welchem
Datum sie dem
Ort von
Bonne de Bourbon, der Vormünderin des
Grafen Amadeus VIII. von Savoyen, verliehen worden war. Sie pflegten
früher jeweilen drei Tage zu dauern.
Martigny Ville hat ehemals öfters Versuche gemacht, den Wochenmarkt
selbst zu erhalten, konnte aber gegen den hierfür günstiger gelegenen
Bourg nicht aufkommen, während sie dagegen als Bahnstation
in anderer Richtung wieder grössere Vorteile erlangt hat, so dass sie sich rascher entwickelt als der
Bourg. Es zeigen dies
folgende Bevölkerungsziffern:
1850 | 1860 | 1870 | 1880 | 1888 | 1900 | . | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Bourg | 1076 | 1110 | 1266 | 1303 | 1242 | 1298 | Ew. |
Ville | 1066 | 1403 | 1490 | 1525 | 1542 | 1827 | Ew. |
Die Ville wird diesen Vorsprung in Zukunft wohl stets festhalten können, besonders da sie in nächster Zeit auch die Kopfstation der Eisenbahn nach Salvan-Finhaut-Châtelard erhält; weil aber der Bourg ebenso sicher der eigentliche Schlüssel zu den benachbarten Alpenthälern bleibt, wird die gegenseitige Rivalität bis zu einer künftig sich vielleicht einmal vollziehenden Vereinigung beider Orte fortdauern. Diesem Ziel leisten Vorschub der Bau der neuen Verbindungsallee, die vorgesehene Anlage einer Strassenbahn und endlich auch gemeinsame Lebensinteressen.
An bemerkenswerten Bauten besitzt der
Bourg vor allem die beiden Rathäuser, ein altes und ein neues. Jenes ist in italienischem
Renaissancestil gehalten und zeigt eine Säulenreihe aus schwarzem Marmor, sowie Arkaden, unter denen die Händler aus dem
Entremont an den Jahr- und Wochenmärkten ihre Waren auslegen; es war zuerst ein Ursulinerinnenkloster
und nachher ein Gefängnis mit Folterkammer. Das an derselben Strasse stehende neue Rathaus stammt aus 1842, trägt den Namen
La Grenette und dient als Sitz der Gemeindebehörden, des Hypothekenbureaus, als Schulhaus etc. Am obern Ende des
Bourg befindet
sich die
Kapelle
Saint
Michel, die 1606 erbaut worden ist und seit 1787 auch einen Glockenturm hat. Kirchlich
gehört Martigny Bourg
zusammen mit den übrigen 1839 und 1841 administrativ selbständig gewordenen Gemeinden zur Pfarrei
Martigny Ville. Das interessanteste aber vielleicht am wenigsten
¶
mehr
bekannte Baudenkmal ist das Le Vivier genannte römische Amphitheater, eine von Mauern umgebene grosse Ellipse, die von den Alluvionen der Dranse zum grösstenteil aufgefüllt worden ist und an die sich mit der Zeit einige kleine Häuser angelehnt haben. Der Name des Bauwerkes (Le Vivier = Fischteich) stammt davon her, dass man es einst für ein grosses Wasserreservoir hielt, in welchem die römischen Beamten die für ihre Festmähler bestimmten Fische gezüchtet haben sollten. In die Mauer eines Hauses an der Hauptstrasse des Bourg ist in Handhöhe ein mächtiges römisches Kapitäl eingelassen, in dem ein abwechselnd für einen Jupiter oder Vespasian gehaltener Kopf mit Torso ausgehauen ist.
Martigny Bourg
ist in erster Linie eine agrikole Gemeinde; es hat daneben mehr Handels- als industrielle Tätigkeit. Ausser
einem Gasthof finden sich zahlreiche Verkaufsläden und Gastwirtschaften. Erst in neuerer Zeit beginnt sich auch die Industrie
zu entwickeln; neben einer Teigwarenfabrik beschränkt sie sich bis jetzt auf Sägen, Gerbereien, Mühlen
und eine Oelmühle, die alle blos die landwirtschaftlichen und forstlichen Produkte der nächsten Umgebung verarbeiten.
Man geht mit dem Gedanken um, am S.-Ende des Bourg bei der Brücke über die Dranse an der Stelle einer heutigen Mühle eine grosse Fabrik zur elektrischen Verarbeitung von Metallen zu errichten. Zu diesem Zweck wird bereits am Bau eines 200 m langen Stollens durch den Mont Chemin gearbeitet, der das Wasser der Dranse von Bovernier hierher führen und mit einer Fallhöhe von mehr als 100 m zu einer mächtigen Kraft verwendbar machen soll. Am s. Ausgang dieses Stollens finden sich Lager von Graphit und Bleierzen.
Die geschichtliche Entwicklung von Martigny Bourg
deckt sich zu einem grossen Teil mit derjenigen von Martigny Ville. Nach
einigen Historikern soll der Bourg von Bewohnern des alten Octodurum (Martigny Ville) gegründet worden sein, die nach dessen
Vernichtung durch die Hochwasser sich rechts der Dranse und näher am Berg eine neue sicherere Heimat gesucht
hätten. Aber auch diese Stelle - der heutige Bourg Vieux, eine kleine Häusergruppe vor dem jetzigen Flecken - entging den
Verheerungen nicht, die die beiden grossen Ueberschwemmungen von 1595 und 1818 anrichteten.
Ueber die Katastrophe von 1595 berichtet Bridel, dass hier nur 3 Häuser verschont geblieben seien, während
eine noch nicht veröffentlichte private Aufzeichnung darüber folgendes meldet: L'eau a rasé le bourg
de Martigny, les toycts
[toits] duquel lieu a tous surmontés;
il a emmené nos parents et amis qu'il a tués au nombre de trois à quatre-vingts, sans épargner la planere du lieu qu'il a ruiné sans rien de résidu;
il a occupé d'un mont jusqu'à l'autre à la grandeur d'une lance de hauteur.
Bridel erzählt ferner, dass das Hochwasser vom in Martigny Bourg
alle Hammerschmieden, Mühlen und Wasseranlagen und im Bourg Vieux alle Holzbauten weggeschwemmt habe, dass
die Strasse zwar erhalten geblieben sei, aber alle an ihr stehenden Steinbauten bis zum ersten Stockwerk voller Schlamm und
Schutt, alle Läden vernichtet und alle Türen und Fenster zerstört seien und dass endlich auch die Mehrzahl der Häuser am
Weg vom Bourg nach der Ville verschwunden oder zum wenigsten stark beschädigt wäre. Im Bourg und in der
Ville wurden damals zusammen 80 Gebäude zerstört.
Die damalige Höhe des Wasserstandes zeigt eine Marke mit Inschrift an der Innenmauer der Kapelle. Heute ist dank der Kanalisation und Eindämmung der Dranse und der in ihrem Oberlauf durchgeführten grossen Verbauungsarbeiten jede Gefahr dieser Art verschwunden, und es ist jetzt dieser Fluss, der so oft der ganzen Gegend Verderben gebracht hat, durch seine Nutzbarmachung für industrielle Unternehmungen und die Kolmatierung der Sumpfböden zu einem der wohltätigsten Faktoren in der Entwicklung des Landes geworden.
Seit dem 15. Jahrhundert residierten in Martigny Bourg die Statthalter oder Vitztume (vidomnes oder vidames) der Bischöfe von Sitten. Das Amt eines Statthalters von Martigny befand sich seit dem 12. Jahrhundert in den Händen der gleichen Familie, die sich nach ihm den Namen der Edeln von Martigny beilegte und es während 6 Generationen verwaltete. 1400 war ein Pierre de Martigny Bürgermeister (syndic) von Martigny Bourg. Hier zogen 1439 die Edelfrau Marie de Martigny und 1446 ihre Nachkommen, die Edeln von Exchampéry, von ihren Lehnsleuten die Gefälle ein. Sitz der Vitztume im Bourg war seit 1607 das jetzige Hôtel des Trois Couronnes, das als einstiges Eigentum des Bischofes von Sitten noch heute über dem Toreingang dessen Wappen trägt.