Märchen
,
diejenige Unterart der epischen
Poesie, welche nicht nur (wie das
Epos, im
Gegensatz zur
Erzählung und zum
Roman) das Wunderbare wirklich zuläßt, sondern (im
Gegensatz zum
Epos, welches dasselbe als wunderbar darstellt) auch den
Schein dieser Wunderbarkeit vermeidet (das Wunderbare als nicht wunderbar, das Übernatürliche als natürlich darstellt).
Da nun das Wunderbare darin besteht, daß in demselben der gewohnte Naturzusammenhang der
Dinge aufgehoben
erscheint, so bewegt sich das Märchen
(seinem
Begriff gemäß) in einer phantastischen
Welt, die es (wie
Kinder und gläubige
Gemüter
die ihrige) als eine natürliche ansieht.
Dasselbe kann daher (nach dem treffenden
Ausdruck der
Brüder
Grimm) ȟberall zu
Hause sein« und ist weder
(wie die Geschichte) an die
Bedingungen der wirklichen noch (wie die übrige
Epik) an die einer möglichen
Welt geknüpft, sondern
in zeitlicher, räumlicher und kausaler Beziehung ganz ungebunden. Die Märchen
dichtung ist in poetischer wie in epischer
Hinsicht der reinste
Ausdruck der erzählenden
Dichtung, indem sie nicht nur dasjenige, was sie als geschehen
berichtet, völlig frei erfindet (schafft), sondern auch in der
Verbindung desselben nur an die (zeitliche) Auf-, keineswegs
aber (wie das
Drama und die dem Dramatischen sich nähernden epischen
Formen der
Novelle und des
Romans) an die (kausale) Aufeinanderfolge
des Erzählten gebunden ist.
Dieselbe setzt, da ihre für natürlich ausgegebene
Welt allen
Bedingungen der Natürlichkeit widerspricht, von seiten des
Erzählers und Hörers einen Gemütszustand voraus, in welchem die
Gesetze der letztern entweder noch wirklich unbekannt (wie
bei
Kindern und auf einer tiefen Bildungsstufe stehenden Völkern und Volksschichten) oder künstlich beiseite gesetzt sind,
um sich, frei vom
Zwang des
Wissens, dem ungehemmten
Spiel der
Phantasie hinzugeben. Jenem verdankt das als
Volksdichtung
(Kinder- und Volksmärchen
, orientalisches Märchen), diesem als (selten gelingende) Kunstdichtung
(Tiecks
»Elfen«;
Chamissos
»Peter
Schlemihl«;
Brentanos »Gockel, Hinkel und Gakeleia« etc.)
seine Entstehung.
Sprachlich stammt das
Wort Märchen
von dem altdeutschen maere, das zuerst die gewöhnlichste Benennung für
erzählende
Poesien überhaupt war, während der
Begriff unsers Märchens
im
Mittelalter gewöhnlich mit dem
Ausdruck spel bezeichnet
wurde. Als die
Heimat der Märchen
kann man den
Orient ansehen; Volkscharakter und Lebensweise der
Völker im
Osten bringen es mit
sich, daß das Märchen
bei ihnen noch heute besonders gepflegt wird. Irrtümlich hat man lange
gemeint,
¶
mehr
ins Abendland sei das Märchen
erst durch die Kreuzzüge gelangt; vielmehr treffen wir Spuren von ihm im Occident in weit früherer
Zeit. Das klassische Altertum schon besaß Märchen
haftes oder Anklänge an das Märchen in Hülle und Fülle (von der Homerischen
Kirke an bis zum Ring des Gyges bei Platon), wenn auch noch nicht das Märchen
selbst als Kunstgattung. Dagegen
taucht in der Zeit des Neuplatonismus, welcher als ein Übergang des antiken Bewußtseins zur Romantik bezeichnet werden kann,
eine Dichtung des Altertums auf, welche technisch ein Märchen
genannt werden kann, die reizvolle Episode von »Amor und Psyche« in Apulejus'
»Goldenem Esel«.
Gleicherweise deuten Stellen in der altdeutschen Heldensage auf das Vorhandensein von Märchen
bei den Germanen in uralter Zeit. Gesammelt
begegnen uns Märchen
am frühsten in den »Tredeci piacevoli notti«
des Straparola (Vened. 1550),
im »Pentamerone« des Giambattista Basile (gestorben um 1637 in Neapel), [* 3]
in den »Gesta Romanorum«
(Mitte des 14. Jahrh.) etc. In Frankreich beginnen die eigentlichen Märchen
sammlungen erst zu Ende des 17. Jahrh.;
Perrault eröffnete sie mit den als echte Volksmärchen
zu betrachtenden »Contes de ma mère l'Oye«; 1704 folgte Gallands gute
Übersetzung von »Tausendundeine Nacht« (s. d.), jener berühmten, in der Mitte des 16. Jahrh.
im Orient zusammengestellten Sammlung arabischer Märchen.
Besondern Märchenreichtum haben England, Schottland
und Irland aufzuweisen, vorzüglich die dortigen Nachkommen der keltischen Urbewohner.
Die Märchen
der skandinavischen Reiche zeigen nahe Verwandtschaft mit den deutschen. Reiche Fülle von Märchen
findet sich bei den Slawen.
In Deutschland
[* 4] treten Sammlungen von Märchen seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts auf. Die »Volksmärchen«
von Musäus (1782) und Benedikte Naubert sind novellistisch und romantisch verarbeitete Volkssagen. Die erste wahrhaft bedeutende,
in Darstellung und Fassung vollkommen echte Sammlung deutscher Märchen sind die »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm (zuerst
1812-13, 2 Bde.; ein 3. Band,
[* 5] 1822, enthält litterarische Nachweise bezüglich der Märchen). Unter den sonstigen
deutschen Sammlungen steht der Grimmschen am nächsten die von L. Bechstein (zuerst 1845); außerdem sind als die bessern
zu nennen: die von E. Märchen Arndt (1818), Löhr (1818), J. W. ^[Johannes Wilhelm] Wolf (1845 u. 1851), Zingerle (1852-54), E. Meier
(1852), H. Pröhle (1853) u. a. Mit Märchen des Auslandes machten uns durch Übertragungen bekannt: die Brüder
Grimm (Irland, 1826), Graf Mailáth (Ungarn,
[* 6] 1825), Vogl (Slawonien, 1837), Schott (Walachei, 1845), Asbjörnson (Norwegen),
[* 7] Bade (Bretagne,
1847), Iken (Persien,
[* 8] 1847), Gaal (Ungarn, 1858), Schleicher (Litauen, 1857), Waldau (Böhmen,
[* 9] 1860), Hahn
[* 10] (Griechenland
[* 11] und Albanien,
1863), Schneller (Welschtirol, 1867), Kreutzwald (Esthland,
[* 12] 1869), Wenzig (Westslawen, 1869), Knortz (Indianermärchen, 1870 und
1879), Gonzenbach (Sizilien,
[* 13] 1870), Österley (Orient, 1873), Carmen Sylva (Rumänien,
[* 14] 1882), Leskien und Brugman (Litauen, 1882),
Goldschmidt (Rußland, 1882), Veckenstedt (Litauen, 1883), Krauß (Südslawen, 1883-84), Brauns (Japan,
[* 15] 1884), Poestion (Island,
[* 16] 1884; Lappland, 1885) u. a. Unter den Kunstpoeten haben sich im M. mit dem meisten
Glück versucht: Goethe, L. Tieck, Chamisso, E. T. A. Hoffmann, Fouqué, Kl. Brentano, der Däne Andersen, R. Leander (Volkmann) u. a.
Vgl. Maaß, Das deutsche Märchen (Hamb. 1887).