Märchen
,
Volkserzählungen, die, im Gegensatz zum Volksepos und der Sage, ausgesprochenermaßen unwirkliche, nicht
an histor.
Personen und Örtlichkeiten geknüpfte Begebenheiten schildern, in denen das Wunderbare,
Phantastische vorwiegt,
die Naturgesetze durch Feen, Zauberer,
Tiere, ja unbelebte Gegenstände zu Gunsten oder zum Schaden der auftretenden
Personen
aufgehoben werden, und die mit dem
Siege des
Helden oder der Heldin über Widerwärtigkeiten und Hindernisse
enden. Zu diesen Feen- und Zaubermärchen
treten hinzu die bei allen Völkern mehr oder weniger zahlreich vorhandenen
Tiermärchen,
in denen fast ausschließlich
Tiere eine (meist humoristische) Rolle spielen. Im weitern
Sinne werden, wie die Sammlungen zeigen,
zu den Märchen
gerechnet:
Schwänke, Volkslegenden, Anekdoten, Gespenster- und
Totengeschichten.
Die einseitiger Betrachtung der Märchen
eines einzelnen
Volks entspringende
Ansicht, daß die Märchen
die letzten Reste der
Helden- oder
Göttersage des
Volks,
bei dem sie sich vorfinden, seien, ist durch die vergleichende Märchen
forschung widerlegt, mögen
auch in einzelnen Fällen die Niederschläge mytholog.
Anschauungen im M. enthalten sein. Ebensowenig
hat die Grimmsche Hypothese durchweg
Stich gehalten, daß die Märchen
die letzte Entwicklungsstufe arischer Naturmythen seien,
die, als specielles Eigentum der
Indogermanen, von diesen aus der gemeinsamen Urheimat mitgebracht worden wären. Dagegen
hat sich seit
Th.
Benfeys Forschungen (Hauptwerk: Einleitung zu seiner
Übersetzung der «Pantschatantra»
Lpz. 1859) und mit dem Bekanntwerden eines immer wachsenden Materials von Märchen
und
anderer volkstümlicher Unterhaltungslitteratur herausgestellt, daß ein großer
Teil der Märchen
sich in ursprünglicherer Form
in der ind. Erzählungslitteratur wiederfindet. Es darf sonach als feststehend gelten, daß außer
altem Erbgut sich unter den Märchen
zahllose sog. «wandernde»
Erzählungsstoffe fanden, die sich von
Indien her seit früher Zeit teils durch mündliche, teils durch litterar. Überlieferung
nach allen
Richtungen verbreiteten, als Märchen
,
Schwänke, Legenden, Anekdoten u. s. w. im
Volke kursierten, sich in die nationale
Epik, in die mittelalterliche Predigt und die didaktische Litteratur einschlichen und durch mittelalterliche und neuere
Dichter
(Boccaccio,
Shakespeare) künstlerische Bearbeitung erfuhren.
Die Aufzeichnung von Volksmärchen
in der Form, wie sie das
Volk erzählt, beginnt erst in unserm Jahrhundert.
Ältere Aufzeichnungen,
wie die in Straparolas «Tredeci piacevolissime notti» (1551 u. ö.;
deutsch: «Die Märchen
des Straparola», aus dem
Italienischen, mit Anmerkungen von Fr. Wilh.
Val. Schmidt, Berl.
1817),
Basiles «Il pentamerone» (1637; deutsch von Felix Liebrecht, Bresl. 1846),
zeigen litterar. Überarbeitung. Volkstümlichen Eindruck machen dagegen, trotz der (lose) angefügten moralité,
Charles Perraults berühmte «Contes de ma mère l’Oye» (1697). Durch
sie und
Gallands franz.
Übersetzung der arab.
«Tausend und eine Nacht» (1704–8) drang der
Geschmack am in
die Kunstlitteratur und erzeugte eine wahre
Überschwemmung von Kunstmärchen.
Zu ihnen gehören z. B. auch die viel gelesenen
«Volksmärchen
der
Deutschen» von
Musäus (Gotha
[* 3] 1782 fg.),
der durch seine
Ironie den naiven
Ton vollständig verwischt. Den
Anstoß zur Aufzeichnung direkt aus dem Volksmund gab die klassische Sammlung der
Brüder
Grimm:
«Kinder-
und Hausmärchen»
(1812), die über
Deutschlands
[* 4] Grenzen
[* 5] hinaus (in
Übersetzung) weite
Verbreitung fanden. Als dritter
Band
[* 6] erschienen 1822 (3. Aufl. 1850) vergleichende Anmerkungen zu den einzelnen Märchen:
die erste umfassende Leistung auf dem Gebiete
der vergleichenden Märchen
forschung, eine
Arbeit, die grundlegende Bedeutung für das gesamte
Studium der Volksüberlieferungen
(die Folkloristik) hatte. An die Grimmschen Märchen schlossen sich die populären Sammlungen
von L.
Bechstein
(«Deutsches Märchenbuch», Lpz. 1846;
«Neues deutsches Märchenbuch», ebd. 1856),
R. Bechstein («Altdeutsche Märchen, Sagen und Legenden», ebd. 1863),
Gräffe, Simrock, Pröhle, Fr. Hoffmann, Ferd. Schmidt, Colshorn, Lausch, Löhr, Otto, Lohmeyer, Scholk u. s. w.; für die Schweiz [* 7] sammelte Märchen Sutermeister (1869),
für Lothringen Cosquin («Contes populaires de Lorraine, comparé avec les contes des autres provinces, de France et de pays étrangers», 2 Bde., Par. ¶