Lyskamm,
auch wohl Silberbast oder Menschenfresser genannt (Kt. Wallis, Bez. Visp). 4538 und 4478 m auf der Siegfriedkarte (4529 und 4477 m auf der italienischen Karte). Mächtiger eisgepanzerter Felsrücken, in dem vom Monte Rosa zum Matterhorn ziehenden Grenzkamm zwischen der Schweiz und Italien, der ausserdem noch die Zwillinge (Kastor und Pollux), das Breithorn, Kleine Matterhorn, Theodulhorn und den Furggengrat trägt. Zwischen dem Lysjoch (4277 m) im O. und dem Felikjoch (4068 m) im W. Fällt nach N. mit schroffer Wand zum Grenzgletscher ab; der vergletscherte S.-Hang steigt gegen das Lysthal oder Val Gressonay ab und erhebt sich über dem grossen Lysgletscher.
Noch 1840 war man über die Namen der einzelnen Gipfel dieses Gebietes nicht im klaren und nannte den jetzigen Lyskamm Monte Rosa, den Monte Rosa selbst aber Gornerhorn. Erst die neuere Topographie hat nachgewiesen, dass das Gornerhorn der Zermatter mit dem Monte Rosa der Thalleute von Alagna und Gressonay identisch ist. 1835 hatte Engelhardt den Namen Lyskamm auf das jetzige Breithorn und noch 1840 Agassiz auf die jetzigen Zwillinge bezogen. Der Name Lyskamm für diesen Rücken war aber in Gressonay schon längst bekannt, ehe er sich auch auf der Schweizerseite einbürgerte.
Als nach der Triangulation des Wallis (1831-37) durch den Domherrn Berchtold aus Sitten und nach den Forschungen von Engelhardt die einzelnen Gipfel des Monte Rosa Gebietes benannt wurden, erhielt der Lyskamm den Namen Silberbast, wahrscheinlich nach der Aehnlichkeit mit einem Saumsattel oder «Bast», die die beiden Kuppen mit der zwischen ihnen liegenden flachen Einsattelung dem Berg verleihen. Dieser Name hat sich aber ebensowenig eingebürgert, wie die von Albert Schott 1842 vorgeschlagene Bezeichnung Joseph Vincent-Horn (zu Ehren des 1824 † jüngeren Vincent, der 1820 als der erste die Zumsteinspitze betrat).
Jetzt ist der Name Lyskamm für den Berg allgemein anerkannt. Der zweikuppige Lyskamm ist derjenige Bergstock der Kette, der vom Gornergrat, Schwarzsee (Lac Noir) oder auch vom Gipfel des Monte Rosa aus zuerst den Blick fesselt. Es ist begreiflich, dass der Lyskamm mit seinem schön geschwungenen, überhängenden Eisgrat schon längst ein begehrtes Ziel für kühne Bergsteiger gewesen ist. Schon 1860 machten F. F. Tuckett und T. S. Kennedy den Versuch, ihn von der W.-Seite zu erklimmen, gelangten aber nur bis zum Felikjoch, wo sie wegen des gefährlichen Zustandes des Schnees umkehren mussten. 1861 wiederholten Tuckett und Fox mit den Führern Bennen und Perren den Versuch von der O.-Seite aus, mit nicht besserem Erfolg.
Ein zweiter Versuch im selben Jahr, von Leslie Stephen und Adams-Reilly unternommen, schlug ebenfalls fehl. Drei Wochen später aber gelang es dann einer zahlreichen Gesellschaft - J. F. Hardy, Prof. Ramsay, Dr. Sibson, T. Rennison, J. A. Hudson, W. E. Hall, C. H. Pilkington und R. Stephenson mit den Führern J. P. Cachat, Franz Lochmatter, Karl Herr, Stephan Taugwald und den beiden Trägern P. Perren und Jos. Perren - den Gipfel nach 10 stündiger Arbeit über den OSO.-Grat wirklich zu erreichen.
Ueber den WSW.-Grat wurde er zum erstenmal 1864 von Leslie Stephen und Ed. N. Buxton mit Jakob Anderegg und Franz Biner über die NW.-Kuppe (4478 m) bezwungen. Die erste Winterbesteigung fand 1885 durch die beiden Brüder Sella mit den Führern J. J. Maquignaz und Guglielmina von der italienischen Seite aus bei heftigem Schneesturm statt, wobei die vier Männer 23 Stunden lang unterwegs waren. Der Lyskamm gilt als ein gefährlicher Berg, als ein «Menschenfresser». 1869 stürzte Arthur Chester beim Abstieg über den O.-Grat an ungefährlicher Stelle auf den Grenzgletscher ab; 1877 verunglückte eine ganze Partie von fünf Personen - Lewis und Paterson mit ihren Führern, drei Brüdern Knubel aus St. Niklaus -, indem die überhängende Gwächte des O.-Grates mit ihnen abbrach und sie auf den Lysgletscher hinunter schleuderte; 1896 fanden auf ähnliche Weise Dr. Max Günther und die Führer Roman Imboden und P. J. Ruppen beim Anstieg über den O.-Grat den Tod. «Es ist nicht sowohl die Zahl der Katastrophen, die dem Lyskamm einen so bösen Beinamen verschafft hat, als die Zahl der Opfer, welche sie kosteten. Die Gefährlichkeit des Lyskammes beruht hauptsächlich auf den Gwächten des O.-Grates, die beim Abbrechen ganze Karawanen in die Tiefe mitreissen. Nach der Häufigkeit der Unfälle ist der Lyskamm nicht gefährlicher als mancher andere Berg,
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der in weit besserem Rufe steht, nur deshalb, weil er seine Opfer einzeln erschlägt.» Der Lyskamm wird heute meist über den am N.-Fuss des Schneedomes liegenden Colle della Fronte (etwa 4100 m) erstiegen, wobei als Nachtquartier entweder die italienischen Hütten Quintino Sella und Gnifetti oder die schweizerische Bétempshütte dienen. Von der Sellahütte aus (empfehlenswerteste Anstiegsroute) 5½, von der Gnifettihütte aus 3½ Stunden. Fusspunkte der Besteigung sind auf italienischer Seite Gressonay, auf Schweizerseite Zermatt. Vergl. Studer, Gottlieb. Ueber Eis und Schnee. 2. Aufl. von A. Wäber und H. Dübi. Bd II. Bern 1898.