Lutherische
Kirche, im Gegensatz zur reformierten diejenige Kirchengemeinschaft, welche sich nach der von Luther begonnenen deutschen Reformation zunächst durch die Augsburgische Konfession (1530) begründet und besonders von Sachsen [* 2] aus weiter verbreitet hat, so daß sie, außer daselbst, namentlich in dem größten Teil von Hannover, [* 3] in Braunschweig, [* 4] Oldenburg [* 5] und Mecklenburg, [* 6] in dem größten Teil von Preußen, [* 7] Württemberg [* 8] und Baden, [* 9] in einem Teil von Kurhessen und dem Großherzogtum Hessen, [* 10] in Dänemark, [* 11] Schweden [* 12] und Norwegen, auch in den russischen Ostseeprovinzen herrschend geworden ist.
In den
Vereinigten Staaten
[* 13] von
Nordamerika
[* 14] zählte
die l. K. 1881 gegen 3200
Geistliche und über 5600
Gemeinden.
Ihre
Bekenner berechnen
sich auf wenigstens 30
Millionen. Die
Bekenntnisschriften der lutherischen
Kirche sind im sogen.
Konkordienbuch
(s. d.) zusammengestellt.
Luther selbst war nicht damit einverstanden, daß sich seine Anhänger und
Bekenner nach seinem
Namen
nannten; doch konnte er es nicht hindern.
Vgl.
Heppe, Ursprung und Geschichte der Bezeichnungen reformierte und lutherische Kirche
(Gotha
[* 15] 1859);
Ritschl in der
»Zeitschrift für
Kirchengeschichte« 1877. Zumal nachdem die
Kryptocalvinisten
(s. d.) ausgeschieden waren, wurde die
Konkordienformel (s. d.) die Grundlage, auf welcher die
Dogmatiker des 17. Jahrh. das
Gebäude einer spezifisch lutherischen
Dogmatik aufführten (Leonh.
Hutter,
Joh.
Gerhard, Abr. Calov,
Andr.
Quenstedt u. a.).
Das Wesentliche dieser neuen
Scholastik bestand in peinlich genauer
Nachbildung und Wiederholung aller
Eigentümlichkeiten, unvermittelten Schroffheiten und sogar
Widersprüche, welche das religiöse
Bewußtsein
Luthers selbst
in sich vereinigte. Was aber bei diesem
Leben und
Wahrheit war, das wurde in der lutherischen
Rechtgläubigkeit
Karikatur und
Maske. Erst seit dem Auftreten des
Pietismus erfolgte eine wohlthätige
Annäherung der lutherischen
an die reformierte
Theologie,
und über beide
Formen des protestantischen Scholastizismus gingen seit
Lessing die
Aufklärung (s. d.)
und seit J. S. (Anmerkung des
Editors:
Johann
Salomo)
Semler der
Rationalismus (s. d.) mit raschen und großen
Schritten hinweg.
Erst im
Zeitalter der
Restauration suchten
Twesten vom Schleiermacherschen,
Daub und
Marheineke vom Hegelschen Standpunkt aus
das lutherische
Bekenntnis in modernen
Formen zu rekonstruieren. Zur eigentlichen
Repristination aber gab
¶
mehr
erst der Widerstand gegen die Union (s. d.) in Preußen, insonderheit gegen die durch königliche Kabinettsorder eingeführte
Agende (1817-34), Anlaß, welcher zur Bildung der Partei der Altlutheraner führte. Zunächst verhielt sich die Staatsgewalt, als
der Professor der Theologie, Scheibel (s. d.), in Breslau
[* 17] 1830 eine altlutherische
Gemeinde stiftete und damit die Separation
einleitete, keineswegs günstig dazu, und seit 1834 erging eine eigentliche Verfolgung gegen die Altlutheraner wie gegen Rebellen.
Daher hielten sich damals selbst sonst am Symbol streng festhaltende Theologen, wie Hengstenberg, Hahn
[* 18] u. a., in erkennbarer
Entfernung von den Altlutheranern, wiewohl sie übrigens die gleichen Bestrebungen innerhalb der Landeskirche selbst fortsetzten.
König Friedrich Wilhelm IV. bewilligte den Altlutheranern, um das begangene Unrecht zu sühnen, das Recht
zu eigner Kirche
nbildung, und demgemäß konstituierte sich auf einer Generalsynode zu Breslau (1841) die wahre lutherische Kirche
unter
der Leitung eines Oberkirche
nkollegiums, und nachdem die königliche Generalkonzession vom diesen Gemeinden, die
bis 1847 auf 27 gestiegen waren, Korporationsrechte erteilt hatte, bildete sich ein lutherisches
Oberkirche
nkollegium
unter der Leitung des Professors Huschte, eines Juristen, als oberste Kirche
nbehörde.
Unterdessen waren auch anderwärts Bewegungen zu gunsten des Altluthertums hervorgerufen worden, und besonders die lutherischen
Konferenzen in Leipzig
[* 19] (seit 1843), erst unter Rudelbach, dann unter Harleß, dienten dazu, die Partei fester
zu verknüpfen. Das Jahr 1848 erschien solchen Bestrebungen besonders günstig. Man gedachte alle Rechte, die für eine freie
Entwickelung der Kirche in Aussicht standen, alsbald auszuüben und aggressiv gegen die Union vorzugehen.
Die verschiedenen Vereine konsolidierten sich auf den Kirchentagen zu Wittenberg
[* 20] und 1851) zu
einem Zentralverein, in welchem Göschel als Vorstand fungierte. In der That ist infolge der Reaktionsjahre dieses Neuluthertum,
wie man es im Gegensatz zu dem bloß defensiv sich verhaltenden Altluthertum der frühern Jahre nannte, in den meisten Landeskirchen
Deutschlands
[* 21] zur Herrschaft gelangt: in Sachsen durch Harleß und Luthardt, in Bayern
[* 22] durch Thomasius und Lohe,
in Mecklenburg durch Kliefoth und Krabbe,
[* 23] in Hannover durch Petri, Münchmeyer und Uhlhorn. In Kurhessen endlich haben Hassenpflug
und Vilmar mit der strengen Verpflichtung auf die Symbole in Kirche und Schule das Luthertum sogar einer ursprünglich reformierten
Kirche aufgedrängt. In Preußen wurden der Oberkirchenrat und die Konsistorien durch die königliche Kabinettsorder
vom in Mitglieder des lutherischen
und des reformierten Bekenntnisses zerteilt.
Gleichzeitig bildete sich aber auch innerhalb der Partei eine immer größere Differenz heraus. Nicht bloß zeigte es sich, daß die theologischen Häupter der ganzen Richtung selbst von der »Ketzerei« infiziert waren: Hengstenberg im Punkte der Rechtfertigung, Hofmann in dem der Versöhnung, Thomasius in dem der Christologie, Kahnis in dem der Trinität etc., sondern es trat seit 1860 auch in der Generalsynode zu Breslau ein Bruch ein: es gab doppelt separierte Lutheraner, die sich 19.-21. Juli 1861 in der sogen. Immanuel-Synode zu Magdeburg [* 24] zusammenscharten.
Vgl. Wangemann, Der
Kirche
nstreit unter den Lutheranern in Preußen (Berl. 1862).
Auch in mancher gut lutherischen
Landeskirche ist es neuerdings zur Bildung von Separatkirchen gekommen.