Lutheraner
wurden zuerst von Eck und Papst Hadrian VI. die Anhänger der Lutherischen ¶
forlaufend
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reformation genannt.
Als diese den Namen Lutheraner
als Ehrennamen annehmen wollten, wehrte sich Luther dagegen;
doch wurde im Streite
mit den reform. Kirchen der Schweiz,
[* 3] die sich an Calvin anschlossen, und im Gegensatze zu der Schule Melanchthons der Name Lutherische
Kirche seit Anfang des 17. Jahrh. zur stehenden Bezeichnung für die
ans der deutschen Reformation hervorgegangenen Kirchen, die in der «ungeänderten» Augsburgischen Konfession und in Luthers Schmalkaldischen
Artikeln die reine evang. Lehre
[* 4] ausgedrückt fanden. Im Augsburger (1555) und Westfälischen Frieden (1648) wurden die Lutheraner
unter
der Benennung Evangelische Augsburgischen Bekenntnisses oder Augsburgischer Konfession verwandte im Deutschen Reiche öffentlich
anerkannt.
Die ungeänderte Augsburgische Konfession gewann dadurch staatsrechtliche Bedeutung, während man innerhalb der luth.
Kirchen mit der Verpflichtung auf sie und die übrigen luth.
Bekenntnisschriften den theol.
Zweck verfolgte, die Melanchthonsche Schule auszuschließen.
Demselben diente in den luth.
Hauptlandeskirchen hauptsächlich die Konkordienformel (s. d.).
Der Gegensatz beider Richtungen geht in seinen Anfängen noch auf Luthers Lebzeiten zurück und bewegte sich um die Lehren [* 5] vom Abendmahl und von der menschlichen Willensfreiheit, worin die Anhänger Luthers gegenüber Melanchthons Milderungen die ursprüngliche Strenge des erstern aufrecht hielten.
Bis 1560 durch Melanchthons Ansehen niedergehalten, gewannen
diese strengen Lutheraner
zuerst 1558 durch die Eröffnung der Universität Jena
[* 6] einen festen theol.
Mittelpunkt, von wo aus ihre Lehre nach und nach in den meisten Landeskirchen Eingang fand.
Aus der verdrängten Melanchthonschen Richtung entwickelten sich deutschreformierte Landeskirchen in Hessen, [* 7] Nassau, Anhalt [* 8] und der Pfalz.
Seitdem war die luth.
Kirche zum äußern Abschlüsse gekommen.
Der Lehrbegriff der Konkordienformel liegt der luth.
Dogmatik des ganzen 17. Jahrh. ohne Ausnahme zu Grunde.
Durch eine religiöse Bewegung, den Pietismus (s. Pietisten), in ihrer scholastischen Starrheit zuerst erschüttert, verfiel diese Orthodoxie mit dem Aufklärungszeitalter der innern Auflösung, die von der neuern Philosophie trotz zeitweiliger Friedensversuche nur noch vollständiger durchgeführt wurde.
Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrh. zählte die luth.
Orthodoxie fast gar keine Vertreter mehr.
Auch als unter dem geistigen Einflusse der Romantik und der Befreiungskriege eine innigere Frömmigkeit sich Geltung verschaffte, wollte man von den konfessionellen Gegensätzen unter den Evangelischen selbst noch nichts hören. Aber bei der Begründung der evang. Union (s. d.) in Preußen [* 9] (1817) zeigte sich, daß die geistige Strömung der Restaurationszeit diesen Bestrebungen nicht günstig sei.
Eine bereits tot geglaubte luth.
Orthodoxie erstand von neuem und verdammte die Stiftung der Union als einen Versuch zur Ausrottung des luth.
Bekenntnisses. Als die Staatsgewalt ihre Maßregeln aufrecht erhielt, schritt diese Partei als Altlutheraner zur Reparation.
Der Professor der Theologie Scheibe! in Breslau [* 10] stiftete 1830 eine separierte Gemeinde, und eine Reihe schles. Prediger, wie Berger in Herrmannsdorf, Wehrhahn in Kunitz und Kellner in Hönigern, folgten seinem Beispiel. An letzterm Orte schritt das Militär wider die Altlutheraner ein (1831);
die renitenten Prediger wurden verhaftet und abgesetzt.
Die Maßregeln des Staates vermehrten jedoch nur den separatistischen Eifer der Partei. Es entstanden altluth.
Gemeinden in Erfurt, [* 11] Naumburg, [* 12] Berlin [* 13] und anderwärts.
Als der Staat die Gesetze gegen Konventikel zur Anwendung brachte, wanderten viele nach Nordamerika [* 14] und Australien [* 15] ans (1837). Der auf einer Generalsynode zu Breslau (1841) unter der Leitung eines Oberkirchenkollegiums konstituierten «wahren luth. Kirche» (bis 1847 auf 27 Gemeinden steigend) verließ endlich die königl. Generalkonzession vom Korporationsrechte und öffentliche Anerkennung.
Als aber das Oberkirchenkollegium unter Leitung des Professors Huschke (s. d.) kraft göttlichen Rechts Gehorsam erheischte, kam es auf der Synode von 1860 zur Spaltung;
fast ein Drittel der Pastoren sagte sich los und gründete die von Breslau unabhängige Immanuelsynode.
Aber auch innerhalb der unierten Landeskirche hatte die streng luth.
Richtung seit den vierziger Jahren allmählich Boden gewonnen.
Seit 1848 wurde die Forderung laut, die Union mit den Reformierten zu beseitigen und wirtlich luth.
Konsistorien herzustellen. In eigenen Vereinen und Konferenzen betrieb man den Umsturz der Union und forderte schließlich auf dem Kirchentage in Wittenberg [* 16] die gesetzliche Vertretung der luth.
Kirche in der obersten Kirchenbehörde.
Auch diese Forderung wurde durchgesetzt, indem durch königl. Kabinettsorder vom der Oberkirchenrat und die Konsistorien in Mitglieder des Jahr. und des reform. Bekenntnisses geteilt wurden.
Die Union schien zu Grabe getragen, als eine neue Kabinettsorder vom die Absicht, ihren Bestand zu stören, in Abrede stellte.
Aber die zugelassenen Abweichungen vom Unionsritus wurden überall, wo die «evang. Prediger» sich wieder als «luth. Pastoren» zu fühlen begannen, zur Regel. Nach dem Regierungsantritt König Wilhelms I. wurde unter dem Minister Mühler der Widerstand der sog. konservativen Unionsmänner von Jahr zu Jahr schwächer, während die liberale Richtung nur an wenigen Orten beim prot.
Volke kräftige Unterstützung fand. Auch außerhalb Preußens [* 17] erhob die luth.-orthodoxe Partei von neuem ihr Haupt und schuf sich auf den jährlichen Pfingstkonferenzen zu Leipzig [* 18] eine Art von Vertretung für ganz Deutschland. [* 19] In Bayern [* 20] besaß die Partei schon seit den vierziger Jahren die Herrschaft;
in Mecklenburg, [* 21] Hannover [* 22] und Sachsen [* 23] gelangte sie zum Kirchenregiment und hielt die andern Richtungen nieder. In Hessen-Darmstadt, Thüringen und anderwärts bildeten sich wenigstens luth.
Konferenzen. In Kurhessen suchten Hassenpflug und Vilmar die ursprünglich reform. Landeskirche zu lutheranisieren.
Die Vereinigung von Hannover und Schleswig-Holstein [* 24] mit Preußen (1860) brachte alte rein luth.
Landeskirchen
unter die Hoheit der preuß. Krone. Da verlangten die Lutheraner
in der Landeskirche Auslösung der Union, in den
neuerworbenen Provinzen die Errichtung einer luth.
Oberkirchenbehörde.
Erreicht wurde wenigstens die Anfrechthaltung des hannoverischen und die Neuerrichtung des schleswig-holsteinischen luth.
Konsistoriums. Dieselben wurden dem Berliner [* 25] Oberkirchenrat nicht unterstellt.
Als Organ des streitbaren Luthertums wurde im Okt. 1868 die von Professor Luthardt in Leipzig herausgegebene «Allgemeine evang.-luth. Kirchenzeitung» gegründet.
In den alten preuß. Provinzen suchte der Oberkirchenrat zunächst, wenn auch von den ¶
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Kirchen-396 wiegend lutherisch gesinnten Konsistorien vielfach gehemmt, die Mitte zwischen Konfessionellen und Liberalen zu halten.
Aber seit der Entlassung des Präsidenten Herrmann (1878) verlor die «Mittelpartei»
ihren bisherigen Einfluß und die von den Hofpredigern geführten Anhänger der positiven Union schlossen sich immer enger
mit den Lutheraner
zusammen.
Beide Parteien haben seitdem auf allen Generalsynoden und auf den meisten Provinzialsynoden der preuß. Landeskirche die überwiegende Majorität behauptet.
Unter den deutschen theol.
Fakultäten behaupteten bisher Greifswald, [* 27] Rostock, [* 28] Erlangen [* 29] und im wesentlichen auch Leipzig den konfessionell-luth.
Charakter. –
Vgl. Schwarz, Zur Geschichte der neuesten Theologie (4. Aufl., Lpz. 1869);
Hase, [* 30] Kirchengeschichte auf Grundlage akademischer Vorlesungen, Bd. 3 (ebd. 1892).