Lungenschw
indsucht
(Phthisis pulmonum), der gemeinschaftliche
Name für verschiedene Krankheitsprozesse, bei welchen
durch weitgreifende
Vereiterung oder sonstige Zerstörung des Lungengewebes der Atmungsprozeß und die Blutneubildung derart
beeinträchtigt werden, daß schließlich unter allgemeiner
Konsumtion des Körpers früher oder später
der
Tod erfolgt.
In den weitaus meisten Fällen handelt es sich hierbei um die sog. tuberkulöse oder bacilläre
Lungenschw
indsucht, die
Lungentuberkulose (Tuberculosis pulmonum), eine infektiöse
Krankheit, welche durch die von R.
Koch 1882 entdeckten
Tuberkelbacillen hervorgerufen und unterhalten wird.
Wenn die letztern mit der eingeatmeten Luft in die
Lungen gelangen und sich unter gewissen, ihrer weitern
Entwicklung günstigen Verhältnissen (blutarmes und schlaffes Gewebe,
[* 2] stagnierende Sekrete, Entblößung der Schleimhaut
vom schützenden Epithel
u. dgl.) in den
Lungenbläschen und deren Umgebung einnisten und vermehren, so bringen sie dort als
Entzündungsreiz teils chronische
Entzündungen, teils echte
Tuberkeln hervor, durch deren pathol.
Veränderungen
(Verkäsung,
Erweichung) das umgebende Lungengewebe zerstört wird. (S.
Tuberkulose.) Die Lungenschw
indsucht beginnt meist mit einem Katarrh
der
Bronchien, besonders in den Lungenspitzen (sog.
Spitzenkatarrh), der sich durch schleimigen, oft blutigen oder eiterigen
Auswurf,
Husten,
Brennen und
Schmerz auf der
Brust u. s. w. kundgiebt und bald in umschriebene
Entzündungen
des benachbarten Lungengewebes übergeht.
Hierbei werden die ausgeschwitzten Produkte derartiger Entzündungen (Eiterkörperchen, Epithelzellen, Rundzellen) nicht rechtzeitig wieder aufgesaugt, sondern eingedickt und in graue, käsige Knötchen umgewandelt, durch deren weitern Zerfall und Erweichung bald kleinere oder größere Höhlen (sog. Kavernen) von der Größe einer Erbse bis zu der einer Mannesfaust entstehen, so daß zuletzt der ganze Lungenlappen durch derartige Erweichungsherde zerstört wird.
Während sich dieser zerstörende Vorgang in den Lungen immer weiter ausbreitet, tritt hektisches Fieber hinzu, das mit konsumierenden Nachtschweißen verbunden ist. Es stellt sich Appetitlosigkeit, Abmagerung und Ermattung ein, das Gesicht [* 3] und die Schleimhäute werden blaß und der Atem, namentlich bei Anstrengungen (Treppensteigen), kurz. Der Auswurf, welcher immer reichlicher und eiteriger wird, läßt unter dem Mikroskop [* 4] außer den schon frühzeitig vorhandenen Tuberkelbacillen auch die Reste des zerstörten Lungengewebes, insbesondere elastische Fasern, erkennen, häufig enthält der Auswurf auch Blut, ja es kommt selbst zu stärkern Blutungen aus den Lungen. (S. Bluthusten.) Häufig stellt sich auch hartnäckige, oft bis zur völligen Tonlosigkeit gesteigerte Heiserkeit ein, die von tuberkulösen Geschwüren der Kehlkopf- und Luftröhrenschleimhaut herrührt (sog. Luftröhren- oder Kehlkopfschwindsucht); viele Kranke werden auch infolge gleichzeitiger Tuberkulose des Darms von schwer stillbaren Durchfällen geplagt.
Übrigens muß ganz ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß der Laie aus den eben angeführten
Symptomen, die sich bei den verschiedensten
Lungenkrankheiten vorfinden, durchaus nicht die Lungenschw
indsucht mit Sicherheit erkennen kann,
sondern daß hierzu eine genaue physik. Untersuchung (durch Besichtigen, Befühlen, Beklopfen und Behorchen) der
Brust und
die mikroskopische Untersuchung des
Auswurfs ganz unerläßlich ist. Die Lungenschw
indsucht ist eine überaus häufige
Krankheit, da ihr nahezu zwei Siebentel aller
Menschen zum Opfer fallen.
Wenn auch nicht in dem hohen
Grade gefährlich, wie sich viele vorstellen, insofern eine definitive
Heilung mit Stillstand
des tuberkulösen Prozesses mit Narbenbildung recht wohl möglich ist, bedarf die Lungenschw
indsucht doch der
umsichtigsten, sorgfältigsten Behandlung, soll sie sich nicht gefährlich gestalten. Die Lungenschw
indsucht kann
jahrelang andauern und erlöschen oder zum
Tode führen, oder auch in einigen
Monaten ablaufen (galoppierende Schwindsucht,
Phthisis florida). Maßgebend zeigt sich bei der Beurteilung der
Schwere des Falls vor allem die Körpertemperatur; selbst
geringe
Steigerung der
Temperatur über die natürliche Höhe (s.
Fieber) ist, wenn sie monatelang anhält,
von der übelsten Vorbedeutung.
Man kann die Lungenschwindsucht
leichter verhüten als heilen. Eine der wichtigsten
Ursachen, welche das Einnisten und Wuchern der
Tuberkelbacillen
begünstigen, ist die schlechte
Ernährung des Körpers, und es zählen hierher alle die Verhältnisse, welche eine solche
herbeiführen: schlechte, unzureichende Nahrung, ungesunde Wohnungen, Fabriken und Arbeitsräume, schlechte
Stuben- und Kerkerluft,
übergroße Anstrengung (namentlich geistige), erschöpfende Umstände aller Art, wie zahlreiche Wochenbetten, langes Säugen
der
Kinder, geschlechtliche Ausschweifungen, schwerer
Kummer,
Gram und
Sorge; daher bricht die Lungenschwindsucht
so oft mit großer Heftigkeit
im Wochenbett aus, und es sterben so viele
Tuberkulöse bald nach der Verheiratung.
Auch der Tod an «gebrochenem Herzen» ist der Tod an Tuberkulose. Oft bricht sie aus nach erschöpfenden Krankheiten, wie Typhus, Syphilis, Bleichsucht, Zuckerharnruhr u. s. w. Weitere Ursachen liegen in Schädlichkeiten, welche direkt auf die Lungen einwirken. Der Leichtsinn, welcher Lungenkatarrhe vernachlässigen läßt, wird oft mit der Gesundheit oder mit dem Leben bezahlt. Gewisse Gewerbe fördern aus denselben Gründen die und man trifft die Krankheit z. B. häufig bei Steinhauern, Schleifern, Cigarrenmachern u. dgl. wegen ¶
mehr
fortwährender Einwirkung des Staubes, welcher bis in die Lungenbläschen gelangt und dann hier leicht chronische entzündliche
Prozesse, die sog. Staubinhalationskrankheiten (s. d.) erzeugt, welche einen sehr empfänglichen
Boden für die Entwicklung der Tuberkelbacillen darbieten. Vom Klima
[* 6] ist die Lungenschwindsucht
nicht so sehr abhängig, als man zu glauben geneigt
ist. Sie zeigt sich in kalten Gegenden nicht eben häufiger als in warmen, aber das Vertauschen einer
warmen Gegend mit einer kalten kann bedenklich werden. In hochgelegenen Gegenden (Gebirgen) kommt sie nicht so häufig vor
als in Niederungen, weshalb man neuerdings bei der Behandlung der Krankheit der Wahl geeigneter Höhenkurorte großen Wert
beilegt.
Eine der wichtigsten Ursachen der Lungenschwindsucht
ist endlich die Erblichkeit; die Kinder schwindsüchtiger Eltern bekommen daher die Lungenschwindsucht
leichter
als die gesunder. Was in solchen Fällen vererbt wird, ist nicht die Tuberkulose an sich, sondern nur eine gewisse Disposition
zu derselben, eine gewisse Schwäche der Konstitution (skrofulöse oder tuberkulöse Konstitution), die
auf einer kümmerlichen Anlage des Herzens und Arteriensystems sowie auf einer schwächlichen Entwicklung des Brustkorbes und
des übrigen Atmungsapparates beruht und über lang oder kurz der Entwicklung der Tuberkelbacillen einen günstigen Boden bietet.
Äußerlich ist dieser «schwindsüchtige Habitus» zu erkennen an dem lang
aufgeschossenen magern Körper, an der dünnen blassen Haut,
[* 7] dem langen, flachen, wenig gewölbten Brustkasten,
dem langen dünnen Hals und der hektischen Rötung der Wangen.
Die Behandlung der Lungenschwindsucht
muß schon in den frühesten Stadien der Krankheit sorgfältig eingeleitet werden. Ist die Krankheit
einmal im vollen Gange und besteht schon seit Monaten hohes Fieber, so ist nur geringe Aussicht auf Herstellung
vorhanden. Bemerkenswert ist aber, daß Tuberkulöse mit den ausgedehntesten Zerstörungen der Lungen oft bis kurze Zeit vor
dem Tode einigermaßen arbeitsfähig bleiben und von einer Hoffnung getragen werden, die fast erst mit dem letzten Atemzüge
erlischt.
Viel läßt sich thun, ehe die Krankheit so weite Fortschritte gemacht hat. Befindet sich die Verdauung nur noch einigermaßen in gutem Zustande, so müssen durch reichlichsten Nahrungszufluß die Kräfte erhalten werden. Die Kranken sollen Milch, Kefir, Eier, [* 8] Fleisch, Mehlsuppen, fette Nahrungsmittel [* 9] (Leberthran, gute Butter), gutes bayr. Bier u. dgl. genießen, aber keine Molken- oder sonstige Badekur gebrauchen, bei der sie der rauhen Morgenluft und andern Schädlichkeiten ausgesetzt sind.
Die Arbeit sei sehr mäßig und werde nicht bis zur Erschöpfung getrieben. Der Patient nehme Aufenthalt in reiner, warmer
Luft (nicht in Kuhställen); Winteraufenthalt im Süden ist sehr zu empfehlen. Oft erweist sich längerer Aufenthalt in einem
geschützten Höhenklima heilsam. Gegen frische Erkältungen suche sich der Kranke durch wollene Unterkleider,
Warmhalten der Füße u. dgl. zu schützen, auch ist die Haut durch tägliche laue Abreibungen möglichst abzuhärten. Arzneimittel
sind gegen die Lungenschwindsucht
machtlos und können nur gebraucht werden zur Linderung von Nebenerscheinungen,
wie Husten und Durchfall. Direkte Mittel, welche die Bacillen innerhalb der Lungen vernichten, sind bis jetzt
nicht bekannt; auch die von Weigert («Die Heißluftbehandlung der Lungentuberkulose», Berl. 1889) empfohlenen Inhalationen
heißer Luft von 200° C. sowie die von
R. Koch empfohlenen Einspritzungen von Tuberkulin (s. d.) haben sich nicht bewährt.
Da übrigens die Lungenschwindsucht
durch Ansteckung übertragen werden kann, so sollte der Auswurf Schwindsüchtiger stets
und unter allen Umständen in ein Speigefäß, dessen Boden mit fünfprozentiger Carbolsäurelösung bedeckt ist, aufgefangen,
dagegen das Ausspucken auf den Boden oder in das Taschentuch gänzlich vermieden werden; ebenso müssen Betten, Wäsche und
Kleider der Kranken höchst sorgfältig gesäubert und desinfiziert werden, ehe sie von Gesunden benutzt
werden dürfen. (S. Krankenwäsche.)
Litteratur. F. Niemeyer, Klinische Vorträge über die Lungenschwindsucht
(2. Aufl., Berl.
1867);
Waldenburg, [* 10] Die Tuberkulose, die und die Skrofulose (ebd. 1869);
Buhl, Lungenentzündung, Tuberkulose und Schwindsucht (2. Aufl., Münch. 1874);
Rob. Koch, Die Ätiologie der Tuberkulose (in der Berliner [* 11] «Klinischen Wochenschrift», 1882);
Brehmer, Die
Ätiologie der chronischen Lungenschwindsucht
(Berl. 1885);
G. See, Die bacilläre Lungenphthise (deutsch von Salomon, ebd. 1886);
Fromm, Die
klimatische Behandlung der Lungenschwindsucht
(Braunschw. 1887);
Corner, Wie schützt man sich gegen die Schwindsucht (2. Aufl., Hamb. 1890).