Lokalzeichen
,
s. Raumanschauung.
Seite 18.586 Jahres-Supplement 1890-1891
Lokalzeichen
6 Wörter, 64 Zeichen
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Lokalzeichen,
s. Raumanschauung.
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Lokalzeichen,
s. Lokalisation. ^[= in der Psychologie die Angabe eines Ortes im Raume für irgend welche Sinneseindrücke. Die ...]
In der Psychologie die Bewußtseinsthatsache, daß wir gewisse Empfindungen und die ihnen zu Grunde liegenden Objekte in einem Auseinander (Neben- und Hintereinander) anordnen. Obwohl die Psychologie die erkenntnistheoretisch-metaphysische Frage nach der Realität des Raumes nicht berührt, so weicht doch auch sie insofern von der natürlichen Auffassung ab, als sie den Raum nicht als ein Gefäß [* 3] für unsre Empfindungen, als etwa außer uns sich Erstreckendes, sondern als eine Bewußtseinsthatsache betrachtet.
Über die Entstehung dieser Thatsache liegen die Theorien des Nativismus und Empirismus vor. Wer die gesamte Raumanschauung für schlechthin angeboren erklärt, gerät mit Erfahrungen an Neugebornen, operierten Blindgebornen und bei Sinnestäuschungen in Widerspruch; wer die gesamte Raumanschauung für schlechthin anerworben, erlernt erklärt, scheitert an der Schwierigkeit, aus Qualitäten und deren Verhältnis das Auseinander abzuleiten. Um zu begreifen, wie Empfindungen in einer kontinuierlichen Ausdehnung [* 4] gruppiert werden, müssen daher ursprüngliche Raumelemente in der Seele vorausgesetzt werden: »Der Mensch kommt mit einer, wenn auch dunkeln Vorstellung eines äußern Etwas, mit einer gewissen Raumanschauung zur Welt.« (Kußmaul.) Von diesem Standpunkt eines gemäßigten Nativismus oder beschränkten Empirismus aus sollen die einzelnen Stufen der psychologischen Entwickelung dargestellt werden.
Flächenanschauung wird durch Tastsinn und Gesichtssinn gewonnen und zwar zunächst durch beide als unabhängige Faktoren, die sich aber freilich aus praktischen Bedürfnissen der normalen Lebensentwickelung vollständig miteinander verkoppeln. Die einfachsten Distanzvergleichungen mit Hand [* 5] und Auge [* 6] beweisen, daß die Raumvorstellungen beider Sinne selbständige Bedeutung besitzen. A. Tastfläche. Dadurch, daß die Tastorgane ausgedehnt sind, können gleichzeitig verschiedene Reize auf dasselbe Glied [* 7] einwirken oder auch ein und derselbe Reiz gleichzeitig auf verschiedene Partien des Gliedes.
Die räumliche Ausbreitung der nervösen Endfasern in der Haut [* 8] ist angeboren und die natürliche Vorbedingung aller Raumanschauung. Ebenso verhält es sich mit dem Auge, und es ist kein Zufall, daß Hand (Fuß) und Auge zugleich diejenigen Organe sind, welche immer willkürlich bewegt werden können. Denn die Möglichkeit, den Reiz durch Bewegung der Finger zu wechseln, bez. dasselbe Objekt mit verschiedenen Punkten der tastenden Oberfläche zu berühren, verleiht der Bewegung die räumliche Bedeutung, während sie sonst bloß eine Kraftanstrengung wäre; der Blinde geht, indem er die Wand entlang tastet. B. Sehfläche.
Verschiedene Lichtstrahlen, die von mehreren Gegenständen ausgehen, erregen verschiedene Punkte der Netzhaut und verschiedene Fasern des Sehnervs. Auch bis zum Gehirn [* 9] hin, wo doch erst die Empfindung zu stande kommt, verlaufen die Erregungen des sensorischen Nervs unverschmolzen nebeneinander (Gesetz der isolierten Nervenleitung). Aber aus diesem physiologischen Thatbestand erklärt sich noch nicht die vom Sehzentrum nunmehr vorgenommene räumliche Verteilung der Empfindungen, denn die ebenfalls isoliert zugeleiteten Tonempfindungen werden nicht zu einer Flächenanschauung kombiniert.
Diese besondere Leistung der Seele für den Gesichts- (und Tast-) Sinn soll vielmehr ihren Grund darin haben,
daß bei jeder Wahrnehmung von örtlichen Verhältnissen größere oder kleinere Augenbewegungen gemacht werden, die als Lokalzeichen
(Lotze) uns die Vorstellung des Nebeneinander verschaffen. Die Lokalzeich
entheorie meint, daß, wenn ich erst Punkt A und dann
Punkt B sehe, mein Auge also eine Bewegung macht, diese die Vorstellung eines flächendimensionalen Abstandes
hervorruft.
Nun zeigen jedoch Reaktionsexperimente, daß man weniger Zeit braucht, um Raumentfernungen zu perzipieren, als um Farben zu unterscheiden, die gerade etwas Ursprüngliches, Unvermitteltes sein sollen. Das Distanzsehen in der Fläche kann demnach nicht komplizierter sein als das Farbensehen, sondern muß als eine angeborne Begleitempfindung gewisser Sinnesempfindungen aufgefaßt werden. In der so gegebenen Anschauung einer ausgedehnten, farbigen Fläche findet sich keine Beziehung zu einer Tiefendimension und zur Entfernung von Objekten; diese Beziehung entwickelt sich allmählich aus gewissen Fähigkeiten des Auges. Tiefenanschauung. A. Monokulare Sehtiefe.
1) Das einzelne Auge stellt sich mittels seines Akkommodationsapparats auf jeden Gegenstand besonders ein; wir halten ein Objekt für desto näher, je stärker die Muskelempfindungen der Akkommodation bei deutlicher Wahrnehmung des Objekts sind.
2) Die Größe eines Netzhautbildes (die scheinbare Größe eines Objekts) und der Gesichtswinkel sind um so kleiner, je weiter entfernt der gesehene Gegenstand ist. An sich werden beide Umstände dem einzelnen Auge nicht zum Tiefensehen verhelfen. Bewege ich z. B. meine Hand vom Auge fort nach vorn, so sieht das Auge nur ein Kleinerwerden der Hand; indem sich aber mit solcher Wahrnehmung eine ausgiebige Bewegung verbindet, verwandelt sich die Wahrnehmung des Kleinerwerdens in die Anschauung der Tiefe. Ferner belehrt mich der Gesichtswinkel über die Entfernung eines Gegenstandes, dessen Größe ich bereits durch Abtasten kenne, denn dann weiß ich, ob die gesehene Größe der thatsächlichen nahe kommt oder mehr oder weniger hinter ihr zurückbleibt.
3) Infolge der Lichtabsorption und Lichtbrechung in der Atmosphäre wächst mit zunehmender Entfernung die Undeutlichkeit der Umrisse und Farben eines Objekts.
4) Die Anzahl der zwischen dem Beobachter und einem Gegenstand gelegenen. Objekte vermittelt die Vorstellung und Abschätzung einer Entfernung.
5) Die Verteilung von Licht [* 10] und Schatten [* 11] unterstützt das ¶
monokulare Tiefensehen. Denn wir wissen, daß ein leuchtender und ein schattenwerfender Körper sich stets vor der beleuchteten, bez. schattenauffangenden Fläche befinden müssen, und daß die beleuchtete hellere Seite eines Gegenstandes stets der Lichtquelle näher liegen muß als die schattige dunklere Seite.
6) Die Richtung, in welcher ein Objekt im Verhältnis zu uns liegt, ändert sich, wenn wir uns bewegen, um so weniger, je entfernter das Objekt ist. B. Binokulare Sehtiefe. Durch das Zusammenwirken beider Augen kommen folgende zwei Faktoren neu hinzu.
1) Die Stärke [* 13] der Konvergenz beider Gesichtslinien steht in direktem Verhältnis zur Nähe eines Gegenstandes. So gibt die Stärke der Konvergenzbewegung einen Begriff und Maßstab [* 14] der Entfernung des betreffenden Gegenstandes.
2) Die Unähnlichkeit der Netzhautbilder bei geringer Tiefe belehrt uns über diese letztere. Ganz nahe Gegenstände werden oft doppelt gesehen.
Die ist nun nicht bloß auf die begrenzte Anzahl der jeweilig zu sehenden und zu tastenden Gegenstände beschränkt, sondern erweitert sich mit Hilfe der Erinnerung und der Association zur Vorstellung eines uns von allen Seiten umgebenden Raumes. In diesem Raume bezeichnen wir als vorn befindlich die bei natürlicher Stellung deutlich gesehenen Objekte, als hinten befindlich die nach halber Achsenumdrehung des Körpers ebenso zu sehenden. Mäßig schwere Augenbewegungen in wagerechter Ebene nach der einen oder andern Körperhälfte hin verschaffen uns die Vorstellungen rechts und links.
Die Unterscheidung endlich von oben und unten, die gar nichts mit der umgekehrten Stellung der Netzhautbilder zu thun hat, geht einfach auf die Verschiedenheit der Muskelempfindungen zurück, welche bei der Bewegung des Auges zum Himmel [* 15] und zur Erde eintreten. Das Auge muß eine verhältnismäßig schwere Bewegung ausführen, wenn die Hand in die Höhe tastet, und es hat eine sehr geringe Anstrengung zu leisten, wenn es in diejenige Richtung blickt, in welche die schweren Körper fallen, und in welcher auch unsre Füße stehen.
Die Orientierung in dem so durch Tast- und Gesichtssinn bestimmten Raum wird sekundär durch den Hörsinn gefördert. Unter Raumanschauung des Ohres verstehen wir dessen Fähigkeit, Schalleindrücke zu lokalisieren, eine Fähigkeit, die wahrscheinlich auf Kopfbewegungen beruht, welche von den Bogengängen aus hervorgerufen werden. Der Beitrag des Gehörs zur Ausbildung einer ist ein dreifacher. a) Bei bekannter Normalstärke eines Tones gibt die Abweichung eines solchen eben gehörten Tones von seiner Normalstärke nach unten einen Anhalt [* 16] für die Beurteilung einer Entfernung, da die Stärke eines Schalles um so geringer ist, je weiter entfernt die Schallquelle ist. b) Bei unbewegtem Kopfe und bei Mangel schallbrechender Wände verschafft der Unterschied in der Stärke, mit dem das rechte und das linke Öhr von einem Schall [* 17] getroffen werden, eine Schätzung der Lage (rechts, links, Mitte) der Schallquelle.
Denn jedes der beiden Ohren wird von einer auf seiner Seite gelegenen Schallquelle stärker affiziert als das andre Ohr. [* 18] c) Da die Stärke eines Schalles dann am stärksten ist, wenn der tönende Gegenstand ungefähr in der nach außen gezogenen Achse des rechten, bez. linken Gehörganges liegt, und wir, um genau zu hören, die entsprechende Kopfbewegung zu machen pflegen, so unterrichtet uns diese Veränderung der Kopfstellung über die Lage der Schallquelle im Raum.
Die Vorstellung einer Bewegung von Gegenständen im Raume entsteht:
1) wenn bei bewegtem Auge das Gesichtsbild sich nicht verändert;
2) wenn bei ruhigem Auge die Gesichtsbilder wechseln;
3) wenn Objekte an einer Hand sich befinden, die kontrahiert wird;
4) wenn Töne an- und abschwellen und andre Umstände eine Bewegung der Schallquelle vermuten lassen.
Vgl. Lotze, Medizinische Psychologie (Leipz. 1852);
Wundt, Physiologische Psychologie (3. Aufl., das. 1887).