Titel
Liszt
,
Franz, epochemachender Klavierspieler und Komponist, geb. zu Raiding bei Ödenburg [* 2] in Ungarn, [* 3] machte, kaum neun Jahre alt, durch sein Klavierspiel und seine Improvisationen in Ödenburg und Preßburg [* 4] solches Aufsehen, daß ihn mehrere Magnaten (die Grafen Apponyi, Szápary u. a.) in Wien [* 5] von Czerny (Klavier) und Salieri (Komposition) ausbilden ließen, worauf er 1823 als Virtuose und Improvisator in Wien, München [* 6] und andern Städten, endlich in Paris [* 7] auftrat und überall die unglaublichste Sensation hervorrief.
Von
Paris aus unternahm sein
Vater mehrere Kunstreisen mit ihm durch die französischen
Departements,
die
Schweiz
[* 8] und nach
England. 1824 komponierte
der
Knabe eine
Operette:
»Don
Sancho«, die 1825 in der
Großen
Oper zu
Paris mit Erfolg aufgeführt wurde. 1826 studierte
er
Kontrapunkt unter
Reicha. Um diese Zeit brachte ihn ein tiefer Hang zur
Religion in
Konflikt mit seinem
Beruf; er wollte Gottesgelehrter
werden und gab den
Plan nur auf aus
Liebe zu seinem
Vater. Nach des letztern
Tod (1827) lebte Liszt
bis 1835 als
Lehrer und
Komponist für
Klavier mit seiner
Mutter in
Paris.
Die
Julirevolution und deren religiöse und kirchliche
Bewegungen (Saint-Simonisten,
Lamennais), die litterarischen und musikalischen
Kämpfe gegen die
Schablone der
Klassizität (G.
Sand, V.
Hugo, H.
Berlioz) bilden den Ausgangspunkt seiner
künstlerischen
Richtung. Zugleich gab
Paganinis Geigenspiel (1831) den Anstoß zur vollständigen Um- und Neugestaltung seiner
Virtuosität zu der
Höhe, die ihn historisch zum Begründer einer neuen
Epoche des Klavierspiels und, hiermit eng zusammenhängend,
des
Stils der Klaviermusik machte. Im J. 1835 begab sich Liszt
in
Gesellschaft der Gräfin d'Agoult, der nachmaligen
Mutter seiner
Kinder, nach Genf,
[* 9] 1837 nach
Italien,
[* 10] von wo aus er (1838) auf den Notschrei der in
Pest durch Wassersnot Heimgesuchten
nach
Wien eilte, um zu ihrem
Besten
Konzerte zu geben.
Dieselben wurden zum
Vorläufer seiner Triumphzüge durch ganz
Europa
[* 11] (1839-47), die, in
Wien beginnend, die musikalische
Welt in den höchsten Begeisterungstaumel versetzten. Diese großartigen Erfolge verdankte Liszt
nicht bloß seiner
erstaunlichen, das gesamte Gebiet der Klaviertechnik umfassenden Virtuosität, sondern in noch höherm
Maß der
Grazie, dem
Adel und der Tiefe, welche sich in seinem
Vortrag der eignen
Schöpfungen wie der Meisterwerke aller
Zeiten widerspiegelten.
Von der
Universität
Königsberg
[* 12] zum
Doktor
honoris causa, vom
Großherzog von
Weimar
[* 13] zum »Hofkapellmeister
in außerordentlichem
Dienst«, von
Friedrich
Wilhelm IV. zum
Ritter des
Ordens
pour le mérite, vom
Fürsten von
Hechingen zum
Hofrat
ernannt, von fast allen
Höfen
Europas dekoriert, ließ er sich 1848 in
Weimar nieder. Hier, umgeben von einer
Schar hochbegabter Kunstjünger, wirkte er bis 1861 bahnbrechend und reformierend als
Dirigent,
Lehrer, Schriftsteller und
Komponist
und erhob die kleine
Residenz, die durch ihn eine zweite Kunstepoche feierte, zum Zentralpunkt der musikalischen Fortschrittsbestrebungen,
die in seiner beispiellosen
Propaganda für R.
Wagner (s. »Briefwechsel zwischen R.
Wagner und
Fr. Liszt«
, Leipz.
1887) gipfelten. 1859 trat er von der Opernleitung zurück und nahm 1861 seinen Aufenthalt in
Rom,
[* 14] empfing hier 1865 die
Weihen
als Weltgeistlicher, wurde 1870 zum
Präsidenten der königlich ungarischen
Landes-Musikakademie zu
Budapest
[* 15] ernannt und lebte
seitdem abwechselnd hier, in
Rom und in
Weimar. Er starb in
Baireuth,
[* 16] wo er begraben liegt, zur Zeit der
Festspiele,
In seiner Thätigkeit als Komponist sind drei Epochen zu unterscheiden. Die Kompositionen seiner ersten Periode bestehen teils in »Transskriptionen« für Klavier (ein von ihm geschaffener Zweig der Klaviermusik),
obenan Schubertscher Lieder und ungarischer Nationalmelodien (die Vorarbeiten zu seinen spätern »Ungarischen Rhapsodien«),
in
Übertragungen der
Symphonien
Berlioz' und
Beethovens auf das
Klavier, das dabei zu universaler Ausdrucksfähigkeit erhoben wurde (von Liszt
»Klavierpartituren«
genannt),
in »Phantasien« über Opermelodien, teils in Klavierstücken, Liedern und Männerchören. In ¶
mehr
seiner zweiten Periode (Weimar) wandte er sich vorzugsweise der reinen Instrumentalmusik zu im Anschluß an das von Berlioz vertretene
Prinzip: bestimmte poetische Objekte durch die Symphonie zum Ausdruck zu bringen und die Instrumentalmusik überhaupt zum Ausdrucksmittel
dichterischer und dramatischer Ideen zu erheben. Die hierher gehörigen Kompositionen Liszts
sind die zwölf
»Symphonischen Dichtungen«, jede einsätzig:
1) »Ce qu'on entend sur la montagne«, auch als »Bergsymphonie« bekannt (nach V. Hugo);
3) Préludes (nach Lamartines »Notre vie est-elle autre chose qu'une série de préludes?«);
5) Prometheus;
6) Mazeppa;
7) Festklänge;
8) Heldenklänge (Héroïde funèbre);
9) Hungaria;
10) Hamlet;
11) Hunnenschlacht (nach Kaulbach);
12) Die Ideale (nach Schiller). Dazu kommen die zwei mehrsätzigen Chorsymphonien: »Eine Faust-Symphonie« (erster Satz Allegro: Faust; zweiter Satz Andante: Gretchen; dritter Satz Allegro vivace ironico: Mephisto; Schlußchor Andante mistico: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis etc.«) und »Eine Symphonie zu Dantes Divina Commedia« (erster Satz Lento: Inferno; zweiter Satz Andante con moto: Purgatorio; Schlußchor: Magnificat) sowie »Zwei Episoden aus Lenaus Faust« u. a. Ferner fallen in diese Periode: die zur Einweihung der Basilika [* 19] zu Gran [* 20] komponierte »Missa solennis« (D dur),
die »Ungarische Krönungsmesse« (Es dur),
die Chöre zu Herders »Der entfesselte Prometheus«, die zwei großartigen Klavierkonzerte in Es dur und A dur, Sonate für Klavier (H moll, ein einsätziges Riesenwerk),
Lieder und viele andre Kompositionen. In seiner dritten Periode (Rom bis zu
seinem Tod) erscheint Liszt
vornehmlich als Kirchenkomponist. Obenan stehen die Oratorien »Christus« (nach Texten aus der Heiligen Schrift
und der katholischen Liturgie) und die »Legende von der heil. Elisabeth« (Text von O. Roquette),
beide zum
Teil noch in Weimar entstanden; ihnen reiht sich der unvollendete »Stanislaus« an, ferner ein »Requiem« für Männerstimmen
und Orgel, Kantaten, Psalmen, Paternoster, kleine Kirchenchorgesänge u. a. In allen diesen Werken verfolgt Liszt
den
von Berlioz und R. Wagner eingeschlagenen Weg und bildet mit den Genannten die Spitze der »neudeutschen
Schule«. Als selbständig schaffender Künstler erfuhr er nicht weniger Anfechtungen als seine beiden Genossen.
Erst in neuerer Zeit fanden seine symphonischen Dichtungen wie auch seine reformatorischen Bestrebungen, die Kirchenmusik durch
Verschmelzung katholisch-liturgischer und dramatischer Musikelemente dem Bewußtsein der Zeit entsprechend
weiter zu gestalten, größere Würdigung, insbesondere durch seine zahlreichen Schüler, die ihm bei seinem dem Idealen zugewandten
Naturell als Menschen mit Recht dieselbe Verehrung zollten wie als Künstler. Auch als Schriftsteller hat sich Liszt
eifrig und
erfolgreich bethätigt.
Die von ihm selbständig veröffentlichten, abgesehen von einer gewissen Überschwenglichkeit des Stils höchst wertvollen Arbeiten sind: »Frédéric Chopin« (Leipz. 1852, 3. Aufl. 1882; deutsch von La Mara, das. 1880);
»Lohengrin et Tannhaeuser de R. Wagner« (das. 1851; deutsch, Köln [* 21] 1852);
»De la fondation Goethe à Weimar« (Leipz. 1851);
»Des Bohémiens et de leur musique en Hongrie« (Par. 1859, neue Ausg. 1881; deutsch von Cornelius, Pest 1861);
»Robert Franz« (Leipz. 1872) sowie zahlreiche Artikel über Litteratur und Kunst in Zeitschriften
etc. Eine deutsche Gesamtausgabe seiner Schriften besorgte Liszt
Ramann (Leipz. 1880-83, 6 Bde.);
ein thematisches Verzeichnis seiner Werke gaben Breitkopf u. Härtel in Leipzig [* 22] heraus.
Vgl. Ramann, Franz Liszt
als Künstler und
Mensch (Leipz. 1880-87, Bd. 1 und
2);
R. Pohl, Gesammelte Schriften, Bd. 2: »Franz Liszt«
(das. 1883).