Titel
Juden
(Israeliten), die Bekenner der mosaischen Religion, die Nachkommen des vom Volk Israel fast allein übriggebliebenen Stammes Juda. Ihr ursprünglicher, meist nach außen geltender Name war Hebräer oder Ebräer (hebr. Ibrim), »die Jenseitigen«, weil ihr Stammvater Abraham von jenseit des Euphrat in Palästina [* 2] eingewandert war. Die mehr einheimische, auf die Bestimmung des Volkes hinweisende Benennung nach dem dritten Stammvater, Jakob (Israel, »Gottesstreiter«),
Israeliten, entstand schon zu Anfang ihrer geschichtlichen Entwickelung, und mit J. (hebr. J'hudim) bezeichnete man nach dem babylonischen Exil die gesamte israelitische Nation, weil die meisten Zurückkehrenden Bürger des ehemaligen Königreichs Juda waren. Die Ereignisse vor der Gefangenschaft in Babylon bilden demnach streng genommen die Geschichte des hebräischen oder israelitischen Volkes, während nach derselben die jüdische Geschichte beginnt.
I. Geschichte des hebräischen Volkes.
Bis zur Teilung des Reichs (2000-953 v. Chr.).
Aus der mesopotamischen Stadt Haran zieht um 2000 Abram (»hoher Vater«, später Abraham, »Vater der Menge«),
nachdem er sich zeitweilig in Ägypten [* 3] aufgehalten hatte, nach Palästina, um fern von seinem götzendienerischen Vaterland den Glauben an Einen Gott zu verbreiten (Einführung der Beschneidung, s. d.). Das Nomadenleben Abrahams führten sein Sohn Isaak und sein Enkel Jakob fort und erhielten in ihrer Familie die monotheistischen Grundsätze. Jakobs Sohn Joseph, von seinen Brüdern als Sklave nach Ägypten verkauft, schwang sich hier durch seine Klugheit und seinen Charakter zum Minister empor und veranlaßte während einer Hungersnot seine Familie (70 Personen), ihre palästinischen Wohnsitze mit ägyptischen zu vertauschen. Er wies ihr die weidenreiche Provinz Gosen (östlich vom Nil und zwischen diesem und dem Roten Meer, im S. bis zum heliopolitanischen Nomos und nördlich bis Pelusium sich erstreckend) an. Hier entwickelte sich die Familie, abgesondert von den durch schroffes Kastenwesen unzugänglichen Ägyptern, eigne Sitten, Sprachen und Gebräuche wahrend, während eines mehrhundertjährigen Aufenthalts zu einem mächtigen Volk, welches, anfangs glücklich lebend, später durch das Mißtrauen der Pharaonen geknechtet ward.
Aus dieser Knechtschaft befreite es der begeisterte, in allem Wissen der Ägypter durch Vermittelung seiner Beschützerin, einer ägyptischen Prinzessin, erzogene Moses, unterstützt von seinem beredten Bruder Aaron. Am 15. Nissan hatte Moses die unzivilisierte Volksmasse (600,000 waffenfähige Männer) aus der Knechtschaft geführt, nach biblischen Berichten das Rote Meer durchschritten, in der Wüste das bittere Wasser von Mara trinkbar gemacht, Wachteln und Manna zur Speise angewiesen, den Angriff der Nachbarstämme, mit Josua vereint, zurückgeschlagen und nach der Offenbarung der zehn Bundesworte auf dem Sinai die Gottes- und Sittenlehre dem Volk verkündet.
Anknüpfend an die alten Traditionen, ward auf dem Grunde des häuslichen, bürgerlichen und sittlichen Lebens der Bund mit dem einzigen Gotte, dem Beschützer und Beglücker des Volkes, gelehrt, die Pflege des religiösen Lebens den Priestern, dem Stamm Levi, anvertraut und das Oberpriesteramt Aaron übertragen. Dieser leitete im Stiftszelt den Opfergottesdienst. Das Volk ward in zwölf Stämme, welche nach zehn Söhnen Jakobs und den zwei Söhnen Josephs, Ephraim und Manasse, die für Levi und Joseph eintraten, benannt sind, diese in Geschlechter und diese wieder in Familien eingeteilt.
Ausbrüche der Unzufriedenheit, Anbetung eines goldenen Kalbes, die Entmutigung des Volkes nach dem wahrheitswidrigen Bericht der von Moses nach Kanaan ausgesandten Kundschafter veranlaßten den Führer, die Hebräer 40 Jahre in der Wüste zu halten, um ein kriegstüchtiges, zuchtgewohntes Volk heranzubilden. Moses schuf für sie eine theokratische, strenge Verfassung und brachte sie bis an die Grenzen [* 4] des verheißenen Landes, das zu erobern seinem Jünger und Nachfolger Josua aufbehalten blieb.
Unter Josuas Leitung überschritten die Hebräer den Jordan, bemächtigten sich in einem siebenjährigen Krieg der festen Städte des Landes, rotteten, wie ihnen das Gesetz vorschrieb, den größten Teil der alten heidnischen Einwohner (die Gibeoniten fanden durch List Schonung) aus und teilten, nachdem bereits 2½ Stämme ihren erwünschten Besitz im Ostjordanland empfangen hatten, das Land durchs Los unter die übrigen 9½ Stämme; die Leviten erhielten 48 Städte, einschließlich der durch das mosaische Gesetz bestimmten Asylstädte (s. Asyl).
Bald bedrohten den Staat innere Unruhen, Gesetzlosigkeit und äußere Feinde. Begeisterte Persönlichkeiten aus der Mitte des Volkes übernahmen nun in schweren Zeiten die Führung, ohne diese auch stets für Friedenszeiten zu beanspruchen (Richter Othniel, Ehud, Schamgar, die Richterin Deborah, Gideon, Jiftach, der starke Simson u. a.). Der vorletzte Richter, Eli, vereinigte in seiner Hand [* 5] das Richter- und Priesteramt, war aber nicht mächtig genug, die Ansprüche der Philister siegreich zurückzuweisen; erst seinem Schüler Samuel gelang es, diesen mächtigen Feind auf längere Zeit zu besiegen, die Einigkeit und Macht des Volkes zu befestigen und durch Errichtung von Prophetenschulen die theokratischen Grundsätze zu klären. Trotzdem sah er sich gezwungen, auf Wunsch des Volkes die Monarchie einzuführen.
Samuel salbte Saul, den Sohn des Kis, eines benjaminitischen Landmanns, zum König. Die äußere Gefahr brachte das Volk unter Sauls Leitung zur Einigkeit; nach einem glänzenden Sieg über die Ammoniter fand er 1055 in Gilgal eine allgemeine Huldigung, die ihm vordem versagt war; er siegte über die Moabiter, Edomiter, Philister und Amalekiter. In diesem letzten Krieg erregte er das Mißfallen Samuels, der nun in dem mächtigen Stamm Juda einen neuen König suchte und David, Isais Sohn aus Bethlehem, zum Regenten bestimmte und salbte (um 1036). Eifersucht gegen David, Schwermut und Mißerfolge führten 1033 den Fall Sauls in der Schlacht am Berge Gilboa gegen die Philister herbei, und der neue König (1033-993), wenn auch ¶
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acht Jahre lang nur den Stamm Juda beherrschend (denn Sauls Sohn Isboseth herrschte durch des Feldherrn Abner Einfluß zu Machanajim über die übrigen Stämme), befestigte den Staat, entfaltete seine Macht und dehnte das Land nach Kriegen über innere (Jebusiter) und äußere Feinde (Philister, Moabiter, Edomiter, Ammoniter u. a.) von Ägypten und dem Arabischen Meerbusen bis Thapsakos, vom Mittelmeer bis zum Euphrat aus. Unter ihm ward Jerusalem, [* 7] das frühere Jebus, Mittelpunkt des gottesdienstlichen Lebens; er führte von Kirjath-Jearim die Bundeslade dorthin über, bereitete den Bau eines Tempels vor, richtete einen regelmäßigen Gottesdienst ein, den er durch Musik und Gesang hob, und pflegte die Dichtkunst.
David brachte den hebräischen Staat, den er, mit Umgehung seines ältesten Sohns, Adonia, seinem Sohn von der Bathseba, Salomo (993-953), vererbte, durch Einigung der Stämme und Pflege des religiösen Lebens zur höchsten Blüte. [* 8] Salomos Regierung war eine friedliche; er, der wissende und weise Regent, förderte Kunst und Bildung, verschönerte Jerusalem, baute den prachtvollen Tempel, [* 9] befestigte das Land, erweiterte den Heerbann und schloß verwandtschaftliche Beziehungen mit Ägypten sowie Handelsverbindungen mit Phönikien.
Mit dem Wohlstand wuchs aber der Luxus, mit diesem die drückende Steuerlast des Volkes. Das mosaische Gesetz fand keinen kräftigen Boden mehr, heidnische Frauen entfremdeten den König dem Volk, und allmählich bereitete sich die Auflösung vor, die nach Salomos Tod naturgemäß eintreten mußte. Diese Auflösung mußte kommen trotz der gesunden Verhältnisse des Volkes, dessen politische und soziale Zustände im folgenden skizziert sind. Unbedingte persönliche Freiheit, die Würdigung des Verdienstes ohne Standesunterschied, Unverletzlichkeit der Bürger, Verantwortlichkeit eines jeden Unterthanen vor dem Gesetz, der Genuß der Freiheit allen, auch den Fremden, gewährt, ein bis in die kleinsten Verhältnisse geregeltes Staatswesen sind sittliche Merkmale der Blütezeit des israelitischen Volkes.
Gemeinsinn und Verkehr beförderten die Wallfahrten nach Jerusalem an den drei Festen (s. Feste, S. 171); Sprache [* 10] und Gesetz schieden das Volk von den benachbarten Nationen und erhielten ihm seine Eigentümlichkeiten. Außer den Prophetenschulen gab es keine eigentlichen Pflanzstätten des Wissens, doch war Lesen und Schreiben allgemein verbreitet; Dicht- und Tonkunst wurden, besonders zu gottesdienstlichen Zwecken, ausgebildet. In andern Künsten konnten sie mit den übrigen Völkern nicht wetteifern: den Palast Davids und den Tempel Salomos errichteten phönikische Meister, Bildhauerkunst [* 11] und Metallstecherei fanden nur vereinzelt Anwendung.
Das bürgerliche Leben ward, wie das religiöse, nach mosaischem Gesetz geordnet. Die Berufsarten der Hebräer waren Ackerbau, Weinbau und Viehzucht, [* 12] weniger Fischerei, [* 13] die im Norden [* 14] und am See Genezareth betrieben wurde. Das Gewerbe, nur für die alltäglichen Bedürfnisse geübt, entwickelte sich nicht; die meisten Hebräer waren ihre eignen Weber (besonders die Frauen), Schneider und Schuhmacher; die eigentlichen Luxus- und Putzartikel, die großen Absatz fanden, wurden aus Babylon, Phönikien und Ägypten eingeführt.
Die Unzufriedenheit des Volkes in den letzten Regierungsjahren Salomos, der verschärfte Steuerdruck seines Sohns und Nachfolgers Rehabeam führten 953 zur Auflösung des vereinigten Reichs. Die Stämme Juda, Benjamin und die Leviten blieben Rehabeam treu und bildeten das Reich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem; die übrigen Stämme wurden mit dem tributpflichtigen Moab unter Jerobeam zu dem Reich Israel vereinigt, dessen Haupt- und Residenzstadt anfangs Sichem, dann Thirza und später Samaria war.
Das Reich Israel bis zur assyrischen Gefangenschaft.
Israel gelangte nie zu innerer Festigkeit. [* 15] Bedrängt von Feinden, vermochten die schwachen, oft verbrecherischen Regenten nicht, es zu schützen; ja, sie störten den Frieden im Innern durch Bilderdienst und Begünstigung des Baalskultus. Stete Parteikämpfe, unkluge politische Verbindungen rüttelten an dem Bestand des Landes und untergruben den Wohlstand. Begeisterte Propheten konnten trotz größern Anhanges dem Sittenverderben nicht steuern, und nach ca. 250 Jahren unterlag Israel den Angriffen der Assyrer.
Jerobeam I. (953-927), der schon vor dem Tod Salomos die erregten Stämme zu einem Aufstand anreizte und beim Regierungsantritt Rehabeams, welcher die verlangten Reformen schnöde zurückwies, die Trennung ausführen konnte, ein kraftvoller Regent aus dem Stamm Ephraim, führte Götzendienst ein, verwarf viele mosaische Einrichtungen und lebte im steten Kampf mit Juda. Sein Sohn Nadab (927-925) ward von dem Heerführer Baesa ermordet, der nun den Thron [* 16] bestieg und ihn seinem Sohn Elah (901-899) hinterließ.
Diesen erschlug im zweiten Regierungsjahr der Feldherr Simri. 899 ward Omri (Erbauer Samarias) vom Heer zum König erhoben. Dessen Sohn und Nachfolger Ahab (875-853), Gemahl der phönikischen Prinzessin Isebel, führte den Baals- und Astartekultus ein und rief dadurch einen harten Kampf mit dem Prophetentum (Elias und Elisa) hervor. Er besiegte die Syrer, fiel aber im Kampf gegen Damaskus. Ihm folgte sein Sohn Ahasja (853-851), diesem sein jüngerer Bruder, Joram (851-843). Jehu (843-815), von Elisa zum König gesalbt, erschlug Joram, rottete dessen ganze Familie aus und ließ die Baalspriester hinrichten.
Unter seinen Nachfolgern Joahas (815-798) und Joas (798-790) sank die Macht des Reichs, welche Jerobeam II. (790-749) wieder zu kurzer Blüte entfaltete. Die nach Jerobeams Tod eintretende zehnjährige Anarchie, die Zunahme der Sittenlosigkeit unter seinen Nachfolgern Secharja, Schallum, Menachem, die unter Pekah (736-734) erfolgte Niederlage gegen Tiglath Pilesar von Assyrien (734), die Fortführung eines großen Teils des Volkes in die Gefangenschaft bereiteten die Auflösung des Reichs vor, die 719 unter Hosea (728-719), dem letzten König, durch den König Salmanassar von Assyrien, nachdem alle Festungen und nach dreijähriger harter Belagerung durch Sargon die Hauptstadt Samaria genommen waren, erfolgte (prophetische Thätigkeit Jesaias'). So siedelte sich das Volk, das später vollständig in andern Nationen aufging, in medischen und persischen Landschaften an, und Assarhaddon sandte neue Kolonisten aus Babel, Kuta u. a. O. in das Land, aus deren Vereinigung mit den Israeliten die Samaritaner (Kutäer) entstanden sein sollen.
Das Reich Juda bis zur babylonischen Gefangenschaft (586).
Das Reich Juda, bevorzugt durch den Besitz Jerusalems, des Nationaltempels und einer gesetzlichen Priesterschaft, nach außen durch natürliche Festigkeit geschützt, pflegte mehr das reine Israelitentum, ward von der Davidschen Dynastie beherrscht (mit wenigen Ausnahmen vererbte sich das Reich vom Vater auf den Sohn) und behauptete seine ¶
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Selbständigkeit bis 586 v. Chr. Die Regierung Rehabeams (953-932) befestigte die Monarchie, suchte die Vereinigung der getrennten Stämme zu erzwingen, ward aber im Krieg mit Pharao Sesonthis (Sisak), der 949 Jerusalem und den Tempel plünderte, geschwächt. Rehabeams Sohn Abiam (932-929) vererbte nach ruhmloser Regierung den Thron auf seinen Bruder Asa (929-873). Dieser besiegte arabische Stämme, mit Hilfe Ben Hadads, des Syrerkönigs, den König Bascha von Israel, sorgte für Befestigung des Landes und kriegsgemäße Ausrüstung des Heers und hob den verbotenen Höhendienst auf.
Asas Sohn Josaphat (873-848), ein gerechter, edler Fürst, befestigte den Frieden, sorgte für gute Rechtspflege und schlug den Einfall der Edomiter, Moabiter und Ammoniter siegreich zurück. Weniger Erfolg hatte er in seinen Kriegen gegen Syrien und mit seiner Schiffahrt nach Ophir, da die in Ezjon geber erbauten Schiffe [* 18] im Arabischen Meerbusen scheiterten. Um die Feindseligkeiten mit Israel beizulegen, vermählte er seinen Sohn Joram (848-844) mit Athalia, der Tochter Ahabs.
Nachdem deren Sohn Ahasja (843) von Jehu (s. oben) ermordet worden war, übernahm sie die Regierung und ließ, um die Davidsche Dynastie auszurotten, ihre Enkel, von denen nur Joas entkam, umbringen. In einer durch den Hohenpriester Jojada angestifteten Verschwörung wurde Athalia getötet und der siebenjährige Joas (837-797) unter Vormundschaft auf den Thron erhoben. Joas regierte zuerst nach mosaischen, später nach heidnischen Prinzipien. Den Abzug der Syrer mußte er mit Geld erkaufen und ward von Verschwornen ermordet.
Sein Sohn Amazia (797-792) verlor Jerusalem an Israel und wurde ebenfalls ermordet. Dessen umsichtiger Sohn Usia (792-740) wußte seine Rechte kräftig geltend zu machen und, vom Kriegsglück begünstigt, den Wohlstand des Landes und dessen Macht bedeutend zu heben. Unter Usias Nachfolgern Jotham (740-734) und Ahas (734-728) sank die Macht Judas wieder, das Land ward fremden Eroberern tributpflichtig und hatte neue Kämpfe mit Syrern und Israeliten sowie mit den Assyrern zu bestehen. Zu dieser Zeit eiferte der begeisterte Jesaias auch in Juda gegen den Götzendienst und die Sittenlosigkeit, wie es vor ihm Hosea in Israel gethan hatte.
Der fremde Kultus hörte erst unter Hiskias (728-697) auf. Hiskias versagte den Assyrern den Tribut, verband sich mit Ägypten, mußte aber von Sanherib, der auf seinem Zug nach Ägypten (701) Jerusalem belagerte, Frieden erkaufen. Sein Sohn Manasse (697-642) begünstigte trotz des Widerstandes der Propheten den Dienst der Astarte, des Baal und Moloch, ward gefangen nach Babylon geführt und regierte, wieder entlassen, in besserm Sinn. Amons (642-640) Sohn Josias (640-609) beseitigte den Götzendienst.
Unter ihm wirkten die Propheten Jeremias, Zephanja, Habakuk, Nahum und die Prophetin Hulda. Auf Grund des vom Hohenpriester Chilkija aufgefundenen mosaischen Gesetzbuchs (Deuteronomium) ward der mosaische Bund erneuert. Josias fiel in der Schlacht bei Megiddo (609) gegen Necho von Ägypten. In der letzten Zeit seines Bestehens von Schwächlingen regiert (Joahas 609, Jojakim 609-597, Jojachin 597) und von den Nachbarvölkern öfters besiegt, wurde das Reich Juda unter dem letzten König, Zidikia (597-586), von Nebukadnezar der Herrschaft Babylons unterworfen.
Zidikias Versuche, die Selbständigkeit wiederzuerlangen, mißglückten; er wurde auf der Flucht ergriffen, geblendet und starb im Kerker zu Babylon. Jerusalem, seit 10. Tebet 588 belagert, und der Tempel wurden 9. Ab 586 zerstört, alle Schätze und das Volk in die »babylonische Gefangenschaft« (s. d.) geführt. Über das zurückgebliebene Volk setzte Nebukadnezar einen Statthalter, Gedalja, ein, unter dessen Leitung die Zustände sich hoben, bis Ismael ihn erschlug. Den Verfolgungen der Sieger suchte das Volk durch die Flucht nach Ägypten zu entgehen.
II. Jüdische Geschichte.
1) Vom babylonischen Exil bis zum vollständigen Verlust der politischen Selbständigkeit unter Titus. (586 vor bis 70 n. Chr.)
Die dem Volk, für welches jetzt der Name J. (s. oben) gebräuchlich wurde, von Kyros 536 erteilte Erlaubnis, nach Palästina zurückzukehren, wurde nur von etwa 42,000 Exulanten benutzt. Diese kamen unter Anführung Serubabels und des Hohenpriesters Josua mit den ihnen von Kyros wieder eingehändigten Tempelgefäßen nach Jerusalem und begannen den Wiederaufbau des Tempels, den sie ab er erst unter Dareios Hystaspis, nachdem die von den Samaritern ausgehenden Verleumdungen entkräftet waren, vollendeten und 3. Adar 516 einweihten.
Esra brachte 458 eine neue Kolonie J. nach Palästina, war für Hebung [* 19] der verfallenen Zustände bemüht, löste die mit Heiden geschlossenen Ehen und erneuerte den Mosaismus. Mit ihm vereint wirkte seit 444 Nehemia, der Mundschenk Artaxerxes' I., für die Befestigung der Ordnung und geregelte politische Verhältnisse. Zu ihrer Zeit soll die große Synode (Männer der großen Versammlung), welche die heiligen Schriften sammelte, den Gottesdienst ausbildete, entstanden und von Nehemia eine Tempelbibliothek angelegt worden sein.
Der junge Staat ward als Satrapie Syriens zunächst von dem jedesmaligen Hohenpriester (Josua 536, Jojakim 499, Eljaschib 463, Jojada 419, Jochanan 383, Jaddua 350) regiert, und die gesunden politischen und religiösen Zustände des Volkes erhielten sich auch noch, als 332 das persische Reich, dessen israelitische Einwohner früher unter Xerxes I. (dem Ahasverus der Bibel) [* 20] glücklich einer gegen sie geplanten Verfolgung entgangen waren, durch Alexander von Makedonien erobert und Palästina diesem unterthan wurde, bis zu der 320 beginnenden ägyptischen Herrschaft (Anfang der Seleukidischen Zeitrechnung, hebräisch Minjan schtarot, Aera contractuum).
Ptolemäos I. Lagi, dem viele J. freiwillig und unfreiwillig nach Ägypten folgten, behandelte sie, wie auch sein Nachfolger Ptolemäos II. Philadelphos, wohlwollend. Letzterer soll für die vielen in Ägypten wohnenden J., denen bereits die Kenntnis der hebräischen Sprache mangelte, eine griechische Bibelübersetzung (Septuaginta, s. d.), deren Entstehung sagenhaft ausgeschmückt ist, veranstaltet haben. Nach weniger günstigen Verhältnissen unter Ptolemäos Euergetes und Philopator erfuhren die J. während der syrischen Oberherrschaft unter Antiochos III. (224-187) und Seleukos IV. (187-175), dessen Vorhaben, den Tempelschatz zu berauben, mißlang, im allgemeinen eine milde Behandlung.
Mit der in Vorderasien sich immer mehr einbürgernden griechischen Kultur erwuchs den J. und dem Judentum ein starker Feind. und unter Antiochos IV. Epiphanes (175-163), der in Palästina den griechischen Gottheiten Altäre errichtete, die Bildsäule des Jupiter im Tempel zu Jerusalem aufstellen ließ, die Feier der Festtage und die Beobachtung der Beschneidung bei Todesstrafe untersagte, brach ein wütender Kampf zwischen Judentum und Hellenismus aus. Die J., ¶
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
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Juden
(anthropologisch-ethnographische Verhältnisse). Die J. sind ein Stamm der semitischen oder syro-arabischen Völkerfamilie und werden als solche der mittelländischen oder kaukasischen Rasse zugerechnet. Nach der Bibel und den Keilschriften vermögen wir ihre Wurzeln bis nach Babylonien hin zu verfolgen, Hebräer heißen sie bis zu dem Auszug aus Ägypten, den Namen Israeliten führten sie bis zum Untergang ihrer politischen Selbständigkeit, J. (Jehudim) seit der babylonischen Verbannung und in der Zerstreuung. Diesen letzten Volksnamen gebraucht in der Bibel zuerst Jeremias. Weil nun seit dem Untergang des Zehnstämmereichs Juda alleiniger Repräsentant des israelitischen Volkstums war, so wird der Ausdruck »Jude« wesentlich gleichbedeutend mit Hebräer, und die hebräische Sprache kann im Gegensatze zur aramäischen die jüdische genannt werden. Zum Volksnamen im vollen Sinne des Wortes wird der Ausdruck jedoch erst in der Zeit nach dem Exil.
Die J. sind in anthropologischer Hinsicht eins der interessantesten Objekte; denn mit gleicher Sicherheit läßt sich kein andrer Rassentypus durch Jahrtausende so genau verfolgen wie gerade die J. Bis vor kurzem war die Ansicht ziemlich allgemein verbreitet, daß die J. eine unvermischte Rasse darstellten. Obwohl man aus der Bibel weiß, daß die J. mit den übrigen Völkern Palästinas eheliche Verbindungen eingegangen sind, nahm man doch an, daß der eigentliche Rassentypus durch diese Vermischung nicht verändert worden sei, da die Völker, mit denen die J. im heiligen Lande in Berührung gekommen sind, ebenfalls Semiten gewesen seien.
Gewisse bildliche Darstellungen der altägyptischen und assyrischen Denkmäler schienen diese Ansicht zu bestätigen, und hervorragende jüdische Gelehrte, wie Zunz, Jost, Grätz, sind von der Unvergänglichkeit des jüdischen Volkes ebenso überzeugt, wie von der Reinheit der jüdischen Rasse, indem sie annehmen, daß das Judentum sich keineswegs von den übrigen Völkern absorbieren läßt, sondern nach Volkstum und Bekenntnis als eine Besonderheit fortexistiert.
Jene Ansicht von der Reinheit der jüdischen Rasse ist jedoch durch die Ergebnisse der neuesten Forschungen erschüttert worden. Osburn hat zuerst darauf hingewiesen, daß die Schafu, die nach den hieroglyphischen Aufzeichnungen Altägyptens südlich von Hebron wohnten, auf den Wandgemälden der Höhlen von Ipsambul mit blauen Augen, blondrötlichem Bart und Haar [* 21] und heller Hautfarbe dargestellt sind, und ebenso hat Flinders Petrie festgestellt, daß die Amaur (Amar), die zweifelsohne mit den Amoritern der Bibel identisch sind, auf altägyptischen Darstellungen durch die rötlichbraune Farbe des Haupthaares und Bartes, blaue Augen, hellen Grundton der Hautfärbung, hohe Statur, Langschädelform und andre Eigentümlichkeiten des germanischen Zweiges der großen arischen (indogermanischen) Völkerfamilie charakterisiert sind. Es darf demnach als feststehend gelten, daß im 14. Jahrh. v. Chr., ehe noch die Israeliten in Palästina eingezogen waren, ein Teil dieses Landes, in welchem noch heutzutage Personen mit hellem Teint, blauen Augen und blondem Haar ziemlich häufig vorkommen, von einem Volke von indogermanischer Abkunft bewohnt war.
Nach Tomkins waren sowohl die Gibeoniter wie die Anakim Zweige des großen Amoriterstammes; der Name »Horiter«, welchen die Amoriter in Edom führten, wird von Sayce als »weiße Männer« übersetzt. Daß jene indogermanische Bevölkerung [* 22] im südlichen Judäa noch im 10. Jahrh. v. Chr. existiert hat, wird bewiesen durch die auf einem ägyptischen Wandgemälde aus der Zeit der 22. Dynastie dargestellten jüdischen Kriegsgefangenen, welche nicht semitische, sondern indogermanische (amoritische) Gesichtszüge aufweisen.
Für die Beurteilung der Rassenmischung im jüdischen Volke sind ferner von Wichtigkeit die Hethiter (Chetiter oder Kheta). Sowohl die altägyptischen Darstellungen von Angehörigen dieses Volkes, wie auch andre Umstände machen es wahrscheinlich, daß die Hethiter, die zu einer gewissen Zeit einen Teil von Palästina innehatten, entweder von mongolischer (turanischer) Abkunft gewesen, oder aus der Vermischung von Mongolen mit Semiten hervorgegangen sind. Daß die J. mit den im vorhergehenden erwähnten Völkern ebenso wie mit andern nicht israelitischen Stämmen Verbindungen eingegangen sind, wird in der Bibel wiederholt berichtet.
Schon in ältester Zeit wurden solche Mischehen, welche dem Judentum fremde Rassenelemente Zuführten, abgeschlossen. Jenes »viele Pöbelvolk«, das die Israeliten beim Auszug aus Ägypten begleitete, ist auf ägyptische Frauen zu deuten, mit denen die Stämme Israels im Lande Gosen eheliche Verbindungen eingegangen waren. Bathseba, die Frau Davids und Mutter Salomos, war eine Hethiterin. Unter den Frauen des letztern waren ausländische Weiber zahlreich vertreten.
Auch nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil hat die Sitte, nichtisraelitische Weiber zu heiraten, unter den J. fortgedauert. Zahlreiche Angehörige fremder Völker zogen nach Wiederaufbau des Tempels aus Syrien, Griechenland, [* 23] Palmyra etc. nach Palästina und nahmen dort, um Jüdinnen heiraten zu können, das israelitische Bekenntnis an. Die als »pilegesh« bezeichneten Nebenweiber waren meist griechische Sklavinnen, die durch den phönizischen Handel nach Palästina eingeführt wurden. Auch zur Zeit der Römerherrschaft war nach Josephus der Übertritt zum Judentum und die Ehe zwischen J. und den ¶
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Neuübergetretenen ein gewöhnliches Vorkommnis. Dieselben Vorgänge haben sich seit dem Beginn unsrer Zeitrechnung öfters
wiederholt. Im 3. Jahrh. n. Chr. hat sich die jüdische Bevölkerung der südöstlich von Babylonien gelegenen persischen Provinz
Chusistan mit der dort einheimischen Bevölkerung aufs innigste vermischt, und derselbe Prozeß der Rassenkreuzung durch geschlechtliche
Vermischung hat sich damals in der Stadt Machuza (am Tigris) vollzogen. Im 8. Jahrh. n. Chr. kam es in der
Krim
[* 25] zu jener Vermischung der J. mit dem tatarischen Stamme der Chasaren, aus der die Karaim hervorgegangen sind. Noch im 13. Jahrh.
ist in Ungarn
[* 26] die Zahl der zwischen J. und Christen abgeschlossenen Ehen eine sehr beträchtliche gewesen.
Bekannt ist auch, daß die Juden
verfolgungen in Spanien
[* 27] und Portugal, indem sie den zeitweiligen scheinbaren Übertritt zahlreicher
J. zum Christentum bewirkten, der Vermischung der spanisch-portugiesischen J. mit fremden Rassenelementen Vorschub geleistet
haben.
Bezüglich gewisser außerhalb Europas lebender J. ist es wahrscheinlich, daß dieselben nur dem Namen und der Religion, nicht aber der Abstammung nach zum Judentum zu rechnen sind. Dahin gehören zunächst die 200,000 Falascha in Abessinien, welche die Agausprache reden und zu den nubischen Völkerschaften gerechnet werden müssen. Auch die schwarzen J. oder Hesodia an der Malabarküste Vorderindiens sind wahrscheinlich nur der Religion nach J., ihrer Abstammung nach aber Hindu; auch bezüglich der Daggatouns (schwarze J. der Sahara) und der Mavamba (schwarze J. der Loangoküste) ist es zweifelhaft, ob in denselben semitisches Blut enthalten ist.
Nicht der Religion, aber ihrer Abstammung nach sind zu den J. noch die Chetas oder Annussim der Balearen (Nachkommen von J., welche aus Spanien nach jener Inselgruppe flüchteten und, um Verfolgungen zu entgehen, dort den christlichen Glauben annahmen), ferner die Maiminen von Salonichi (Nachkommen von Anhängern des jüdischen Mahdi) und die Gdid al Islam (zur Annahme des mohammedanischen Glaubensbekenntnisses gezwungene J.) von Chorasan zu rechnen. Bezüglich der zwei großen Abteilungen, in die man die Masse der J. zu trennen pflegt, nämlich der Sephardim (spanisch-portugiesische J.) und der Aschkenasim (deutsch-polnische J.), hat Bertin behauptet, daß erstere aus einer Vermischung des semitischen Elementes mit der Urbevölkerung Armeniens, letztere aus einer angeblich in Ägypten stattgehabten Kreuzung der Stämme Israels mit dort ansässigen Negern und den nichtsemitischen Stämmen Kanaans hervorgegangen seien.
Wenn aber auch zugestanden werden muß, daß die Sephardim den ursprünglichen semitischen Typus wohl in etwas größerer Reinheit bewahrt haben als die Aschkenasim, so ist ein durchgreifender Unterschied in der körperlichen Bildung der spanisch-portugiesischen J. einerseits und der deutsch-polnischen J. anderseits doch nicht mit Sicherheit festzustellen; jene Einteilung beruht mehr auf der Verschiedenheit der Aussprache des Hebräischen, als auf der Verschiedenheit der körperlichen Merkmale.
Wenn Karl Vogt zwei verschiedene jüdische Typen unterscheidet, nämlich einen hauptsächlich im Norden (Rußland, Polen, Deutschland [* 28] und Böhmen) [* 29] sich findenden Stamm mit oft roten Haaren, kurzem Bart, etwas aufgeworfener Stumpfnase, kleinen grauen, listigen Augen, gedrungenem Körperbau, rundem Gesicht [* 30] und breiten Backenknochen (einen Typus, der im allgemeinen gewissen slawischen Stämmen ähneln soll) und einen zweiten jüdischen Typus, der im Orient, in der Umgebung des Mittelmeeres und in Holland besonders verbreitet ist, durch langes schwarzes Kopf- und Barthaar, große, mandelförmig geschlitzte, schwarze Augen mit melancholischem Ausdruck, längliche Gesichtsform und stark gekrümmte Nase [* 31] charakterisiert wird, so läßt sich auch diese Einteilung kaum aufrecht erhalten.
Wenn die unter Virchows Leitung vorgenommenen statistischen Erhebungen über die Farbe der Augen und Haare der
[* 32] Schulkinder Deutschlands
[* 33] einen Durchschnitt von 11,2 Proz. blondhaariger und blauäugiger Juden
kinder
ergeben haben, und wenn auch sonst in den verschiedensten Ländern Europas sowie in Nordafrika, Kleinasien,
Kurdistan etc. blonde J. ziemlich zahlreich angetroffen werden, so ist diese Erscheinung nicht etwa auf eine in neuerer Zeit
stattgehabte Rassenkreuzung, sondern mit größter Wahrscheinlichkeit auf jene obenerwähnte Vermischung der J. im alten Palästina
mit der daselbst ansässigen indogermanischen Bevölkerung (Amoriter) zurückzuführen.
Daß bezüglich der Kopfform, Gesichtsbildung (Form der Nase, des Kinnes, der Lippen, der Unterkiefergegend, Abstand der Backenknochen etc.), der Länge der Extremitäten, der Klafterweite (Entfernung der Mittelfingerspitzen voneinander bei horizontal ausgestreckten Armen), der Hüftenbreite und andrer Körpereigenschaften unter den J. sehr bedeutende Verschiedenheiten nachgewiesen wurden, erklärt sich ohne Schwierigkeit aus der obenerwähnten Vermischung des jüdischen Stammes mit fremden Rassenelementen. So findet z. B. die Geringfügigkeit des Bartwuchses, wie sie im Gegensatze zu den J. andrer Länder die J. der Krim (Karaim) aufweisen, ihre Erklärung in der daselbst stattgehabten Kreuzung des jüdischen Stammes mit tatarischen Rassenelementen (vgl. oben). Blondheit, Blauäugigkeit, Langschädelform, gerade Nasen und regelmäßige, an das Profil griechischer Statuen erinnernde Gesichtszüge sind ebenso wie bei den J. Europas, so auch bei den J. der nordafrikanischen Küstenländer, der Levante und andrer Gebiete kein seltenes Vorkommnis.
Wo genügende statistische Unterlagen vorhanden sind, haben sich die biotischen Verhältnisse des jüdischen Stammes häufig günstiger gezeigt als jene der Völker, unter denen er lebt. Bereits 1843 wies M. Hoffmann nach, daß die rasche Zunahme der J. durch das Übergewicht der Geburten über die Sterbefälle bedingt ist, ein Übergewicht gegenüber den Bekennern andrer Religionen in Deutschland, das wiederum durch die Heiraten in frühem Lebensalter, durch geringere Zahl der unehelichen Kinder und geringere Kindersterblichkeit hervorgerufen wird. De Neufville hat für Frankfurt [* 34] a. M., Körösi für Budapest, [* 35] Schimmer für Österreich, [* 36] v. Fircks für Preußen [* 37] diese den J. günstigen Verhältnisse dargethan.
Ferner fällt auch ins Gewicht die durchschnittlich bedeutende Wohlhabenheit der J. in Deutschland und in Österreich-Ungarn, [* 38] die hierdurch mögliche und geübte Sorge für Nahrung und Wohnung, für rationelle Behandlung der Schwangern und Kinder und die geringere oder fast ganz fehlende Beteiligung der J. an schweren körperlichen, das Individuum aufreibenden Arbeiten. Die strenge Regelung der geschlechtlichen Beziehungen trägt ebenfalls dazu bei, die jüdischen Frauen in guter Gesundheit zu erhalten; dieser Umstand bewirkt es auch, daß nur ein ganz geringer Prozentsatz der jüdischen Kinder totgeboren wird. Da, wo die J. dicht beisammenwohnen, wie in Galizien, Polen, Westrußland [* 39] etc., und nachteilige soziale und moralische Einwirkungen zur Geltung ¶
mehr
kommen, sind auch die biotischen Verhältnisse weniger günstig, wie denn z. B. in Niederösterreich unter den jährlich gebornen
jüdischen Kindern nur 3,5 Proz. uneheliche (bei der Gesamtbevölkerung 30,9
Proz.!), in der Bukowina dagegen 44,8 Proz. uneheliche sich befinden. Hinsichtlich
der unehelichen Geburten der J. in Galizien und der Bukowina ist allerdings zu bemerken, daß dieselben
von der dortigen jüdischen Bevölkerung als solche nicht betrachtet werden, indem letztere ihre Eheschließungen nicht nach
staatlichen, sondern rituellen Vorschriften vornimmt, daß die Judenehen
in diesen Gebieten ungemein frühzeitig geschlossen
werden, daß nahezu kein jüdisches Mädchen daselbst ledig bleibt und uneheliche Geburten nach jüdischer Auffassung daselbst
so gut wie gar nicht vorkommen (s. Illegitimität, S. 468).
Gewisse körperliche Eigentümlichkeiten der heutigen J. sind zurückzuführen auf ehemalige ungünstige Existenzbedingungen. Die niedrige Statur und der relativ geringe Brustumfang der meisten J. sind aufzufassen als eine durch die gesundheitlichen Nachteile des Ghettolebens bedingte Wachstumsverkümmerung, die selbst bei den unter günstigern Verhältnissen lebenden Enkeln und Urenkeln der solchen Einflüssen ausgesetzten J. noch zur Geltung kommt. Die Häufigkeit des Plattfußes und andrer Mißbildungen der untern Extremitäten bei den J. steht wohl auch im Zusammenhang mit jenen gesundheitlichen Mißständen vergangener Generationen, welche durch Vererbung übertragene Abnormitäten erzeugt haben.
Gewisse andre körperliche Mängel der J. (wie z. B. das relativ häufige Vorkommen von Taubstummheit und Farbenblindheit) beruhen wohl im wesentlichen auf der relativen Häufigkeit der Verwandtschaftsheiraten; das verhältnismäßig häufige Vorkommen von Geisteskrankheit bei J. ist vielleicht auf Rechnung jener geistigen Anstrengungen und Aufregungen zu setzen, welche bei dem leicht erregbaren jüdischen Temperament das seelische Gleichgewicht [* 41] stören.
Eine Immunität der J. gegen Lungenschwindsucht und andre Krankheiten, die man früher angenommen und als Rassenmerkmal hingestellt hat, ist in Wirklichkeit nicht vorhanden. In Russisch-Polen sind beispielsweise 1877-80 von den dortigen Rekruten mosaischen Glaubens nicht weniger als 4 Proz. wegen Tuberkulose für militäruntauglich befunden worden. Ebenso wie die J. Europas im Mittelalter durch den »schwarzen Tod« zu Tausenden weggerafft wurden, und ebenso wie die J. des Orients beim Auftreten der Pest in den von ihnen bewohnten Ländern niemals verschont bleiben, ebenso haben die J. Deutschlands, Österreichs, Frankreichs und andrer europäischer Staaten bei Gelegenheit der während der letzten Jahrzehnte in den betreffenden Ländern grassierenden Cholera-Epidemien von dieser Seuche nicht weniger zu leiden gehabt, als ihre christlichen Mitbürger. Ebenso unerwiesen ist es, wenn man behauptet, daß der Jude sich in tropischen Ländern leichter akklimatisiert, als der Arier; höchstens kann zugestanden werden, daß die dem J. eigentümliche Mäßigkeit im Genuß von geistigen Getränken demselben eine größere Widerstandsfähigkeit gegenüber den klimatischen Einflüssen verleiht. Ein der jüdischen Rasse eigentümlicher Geruch (foetor Judaicus) ist nicht vorhanden.
Daß, abgesehen von der Umgestaltung der Körperbildung, die Eigenart der J. durch die Kreuzung mit fremden Rassenelementen gewisse Veränderungen erleiden mußte, ist zweifellos. Daß die J. zu einer Zeit, wo bei ihnen die Polygamie noch allgemein gebräuchlich war, durch die Anerkennung einer Frau als Herrscherin im Hause doch bereits eine Hinneigung zur Monogamie bekunden, beruht nach Lippert auf der Vermischung mit Indogermanen, bei denen schon in früher Zeit die Monogamie eine hochgeschätzte Institution bildete. Auf denselben Umstand sind wohl auch gewisse in der vorjahvistischen Religion (jener Religion, die dem ausschließlichen Jehovahdienst der J. vorausging) enthaltene Anklänge an den indogermanischen Kultus zurückzuführen.
[Sprache, Namen.]
In Bezug auf die Sprache sind die J. unter teilweiser Beibehaltung ihrer eignen hebräischen als einer heiligen Sprache das am meisten kosmopolitische aller Völker geworden; sie nahmen im allgemeinen die Sprache des Volkes an, unter dem sie gerade lebten. Das Hebräische wurde noch bis in die Zeiten der Makkabäer gesprochen und geschrieben, war aber namentlich seit der babylonischen Gefangenschaft mehr und mehr dem Chaldäischen (Ostaramäischen) gewichen, und Christus wie seine Jünger bedienten sich bereits des aramäischen Dialekts, der bis ins 10. Jahrh. das litterarische Idiom der J. blieb.
Seit den Zeiten Alexanders d. Gr. begann sich das Griechische bei den J. einzuwurzeln, und in den ersten Jahrhunderten nach der Zerstörung Jerusalems bildeten die J. sich äußerlich nach der griechischen Weise, während Religion und heilige Schriften ihre innere Einheit bewahrten. Aber die Sprache wurde griechisch, und durch die Übersetzung der Heiligen Schrift in das Griechische (Septuaginta) wurde das Judentum in die Weltlitteratur eingeführt. Als dann der erobernde und zerstörende Islam sich über die Länder am Mittelmeer und bis gen Persien [* 42] hin ergoß, nahmen die zerstreuten J. von Karthagos Trümmerstätte bis nach dem Euphrat hin die arabische Sprache an und schrieben in derselben, während sie im christlichen Abendland, wo die Litteratur darniederlag, hebräisch weiterschrieben, für den Umgang aber sich der Landessprache bedienten.
Dies gilt im allgemeinen auch heute noch für die J., doch sind bei denjenigen, welche Europa [* 43] bewohnen oder die aus Europa stammen, namentlich zwei Sprachen zur Geltung gelangt: die spanische und die deutsche. Die spanisch-portugiesischen J. werden als Sephardim bezeichnet, nach Obadja 20, wo eine Gegend, nach welcher die Exilierten gebracht wurden, Sepharad genannt ist, worunter die Rabbinen im Mittelalter konventionell die Pyrenäische Halbinsel verstanden. Nach der Vertreibung der J. aus Spanien und Portugal (im 15. Jahrh.) nahmen die Flüchtlinge nach Nordafrika, Italien, [* 44] der Türkei, [* 45] Kleinasien, Holland die spanische und portugiesische Sprache mit, ja bis Surinam drang dieselbe vor. Im Laufe der Zeit ist dieselbe allerdings entartet und mit Zuthaten aus den Landessprachen verunreinigt worden, gilt aber heute noch ganz oder teilweise bei den J. der genannten Länder. Im Gegensatze zu den Sephardim benennt man mit Aschkenasim die deutsch redenden J., nach Askenas (1. Mos. 10, 3),. welcher Ausdruck nach der jüdischen Überlieferung die Germanen, bei spätern Rabbinen die Deutschen im heutigen Sinne bezeichnet.
Von Deutschland aus trugen im 16. Jahrh. die J. die ganz eigentümlich verunstaltete Sprache nach Polen, Litauen, Wolhynien und später weiter bis Sibirien. Dieses Judendeutsch zeigt eine eigentümliche Vereinigung der hebräischen und deutschen Sprache, welche, wild und unordentlich durcheinandergewürfelt, auf dem schmutzigen Boden entstand, auf welchem die Hefe [* 46] des Volkes mit dem Judentum sich zusammenfand. Es ist somit keine gewordene, sondern eine gemachte Sprache, ein Sprachmosaik, ¶
Im Geographisches Lexikon der SCHWEIZ, 1902
Juden
(Kt. St. Gallen, Bez. Neu Toggenburg, Gem. Wattwil).
870 m. 5 Häuser, am Hang des Schönenbergs zerstreut gelegen, 3 km nö. Ricken und 2 km sw. der Station Wattwil der Toggenburgerbahn. 33 reform. Ew. Viehzucht.