Lesen
und Lesemethoden. Lesen
, ursprünglich gleichbedeutend mit Sammeln, Zusammenlegen, und bei den alten
Deutschen
angewendet auf die Runen
[* 2] (s. d.), ist ein Zusammenfassen der Lautzeichen
oder
Buchstaben zu Wörtern und
Sätzen, die
Sinn und Bedeutung haben. Die Methode des Lesen
lehrens hat im Laufe der Zeit verschiedene
Verbesserungen erfahren. Die älteste Methode ist die
Buchstabiermethode, bei welcher den
Schülern zunächst die
Namen der
Buchstaben (nicht ihrer
Laute) eingeprägt werden, worauf das Syllabieren, das «Zusammenschlagen»
der
Buchstaben in
Silben, und endlich das Lesen
ganzer Wörter und
Sätze folgte.
Leser - Leskovac

* 6
Seite 61.113.
Schon
Valentin
Ickelsamer (1530) forderte jedoch, daß der
Schüler die Worte in ihre
Laute (nicht
Buchstaben) zerlegen und die
Laute wieder zusammenfügen lerne. Die vielfachen Mängel der
Buchstabiermethode wurden auch von andern schon zeitig anerkannt,
so von Zeidtler (um 1700), vom Prediger Vontzky (1721), dem
Pseudonymen Nachsinner (1735); besonders drastisch
wurden sie von Samuel Heinicke (s. d.) dargestellt. Auch wurden vielfach Verbesserungen
vorgeschlagen, z. B. von Gedicke in
Berlin,
[* 3] der zuerst die
Vokale beibrachte und dann gleich ganze
Silben vorführte und aussprechen
ließ; von Olivier,
Lehrer am Philanthropinum in
Dessau
[* 4] (gest. 1815 als Privatlehrer in
Wien),
[* 5] der vor dem
eigentlichen Lesen
die
Kinder im
Analysieren von Wörtern übte und vom
Laute ausging, jedoch die
Konsonanten noch mit angehängtem
leisen e in der
Aussprache verband (etwa
¶
mehr
111 wie be in Traube), und von J. F. N. Krug, Schuldirektor in Zittau
[* 7] (gest. 1843), der die physiol.
Seite allzusehr in den Vordergrund stellte. Erst der bayr. Schulrat Stephani (gest. 1850) hat das Wesen der reinen Lautiermethode
so klar erfaßt und dargestellt in seiner «Fibel oder Elementarbuch zum Lesen
lernen» (Erlangen
[* 8] 1802; 102. Aufl.
u.d.T. «Handfibel», 1868) und dem «Kurzen
Unterricht in der gründlichsten und leichtesten Methode, Kindern das Lesen
zu lehren» (4. Aufl., Erlangen 1811), daß er als
der eigentliche Begründer derselben zu bezeichnen ist.
Für ihre Verbreitung, besonders in Sachsen, [* 9] wenn auch in modifizierter Form, hat vor allem der sächs. Kirchenrat Gottlob Leberecht Schulze (1779–1856) gewirkt. Eine entscheidende Weiterbildung zur Schreiblesemethode erfuhr sie durch Harnisch, Schulz und vorzüglich durch den bayr. Schulrat Joh. Baptist Graser (gest. 1841), nach welcher der erste Leseunterricht mit dem Schreibunterricht verbunden wird, und zwar entweder so, daß erst nur die Schreibschrift (die deutsche oder die lat. Schrift) angewandt wird, was später Lüben, Kehr und Schlimbach empfahlen, oder so, daß Schreib-und Druckschrift zu gleicher Zeit nebeneinander zur Anwendung kommen (reine und gemischte Schreiblesemethode).
Geschichtskarten von D

* 10
Deutschland.Einen neuen Fortschritt des Leseunterrichts bahnte der Franzose Joseph Jacotot (1770–1840) an, dessen Methode sich kurz als die analytisch-synthetische bezeichnen läßt. Er ging von ganzen, dem «Télémaque» Fénelons entnommenen Sätzen aus, zerlegte dieselben in Wörter, diese in Silben und Buchstaben und baute daraus das Ganze wieder auf. In Deutschland [* 10] haben besonders der Lehrer Karl Seltzsam in Breslau [* 11] (seit 1841), der Seminarlehrer Scholz, gleichfalls in Breslau, und der Schulrat Graffunder in Erfurt [* 12] zur Anerkennung und Fortbildung dieser Methode beigetragen.
Nur eine Modifikation derselben, insofern anstatt von Sätzen von einzelnen Wörtern ausgegangen wird, ist die sog. Normalwörtermethode, die zuerst an der von Karl Vogel geleiteten Bürgerschule in Leipzig [* 13] zur Anwendung kam, wo von 1843 ab die von Vogel herausgegebene Bilderfibel, «Des Kindes erstes Schulbuch» (11. Aufl., Lpz. 1874), dem Unterricht als Grundlage diente. Unter den vielen Pädagogen der Neuzeit, welche die Normalwörtermethode in verschiedenartiger, vielfach voneinander abweichender Weise ausgebildet haben, sind A. Böhme in Berlin, Louis Thomas und Klauwell in Leipzig, Kehr in Erfurt, Frühwirth und Fellner, sowie Fechner in Wien hervorzuheben. –
Vgl. Fechner, Die Methoden des ersten Leseunterrichts (2. Aufl., Berl. 1882);
Kehr, Geschichte des Leseunterrichts (in dessen «Geschichte der Methodik des deutschen Volksschulunterrichts», Bd. 1, 2. Aufl., Gotha [* 14] 1887);
für das ästhetische Lesen:
Palleske, Die Kunst des Vortrags (2. Aufl., Stuttg. 1884);
Benedir, Der mündliche Vortrag (Bd. 1, 7. Aufl., Lpz. 1893; Bd. 2 u. 3, 4. Aufl. 1888).