Titel
Leibniz
,
Gottfried Wilhelm, (seit 1709) Freiherr von, einer der vielseitigsten Gelehrten und scharfsinnigsten Denker aller Zeiten, geb. zu Leipzig, [* 2] wo sein Vater Professor der Rechte war, bezog in seinem 15. Jahr die Universität seiner Vaterstadt, um Jurisprudenz zu studieren, widmete sich aber daneben mit Vorliebe philosophischen Studien und veröffentlichte schon 1663 eine Abhandlung: »De principio individui« (wieder hrsg. von Guhrauer, Bresl. 1837),
Leibniz (Leben und Wer

* 4
Seite 10.647.in welcher er die Prinzipien des Nominalismus verfocht, schloß sich hierauf in Jena [* 3] dem Mathematiker E. Weigel an, verfaßte die ¶
mehr
Abhandlungen: »Specimen difficultatis in jure« (1664),
»De conditionibus« (1665) und »De arte combinatoria« (1666), wurde aber mit seiner Bewerbung um die juristische Doktorwürde von der Universität seiner Vaterstadt seiner Jugend wegen zurückgewiesen, weshalb er Leipzig für immer verließ. Nachdem er noch in demselben Jahr mit der Abhandlung »De casibus perplexis in jure« zu Altdorf promoviert hatte, schloß er sich 1667 dem kurmainzischen Minister Baron J. Chr. ^[Johann Christian] v. Boyneburg an, für welchen er mehrere publizistische Schriften ausarbeitete, unter andern 1669 bei Boyneburgs Gesandtschaft nach Polen das »Specimen demonstrationum politicarum pro rege Polonorum eligendo«, dann das »Bedenken, welchergestalt securitas publica interna et externa und status praesens im Reich auf festen Fuß zu stellen« und das »Consilium aegyptiacum«, welches Ludwigs XIV.
London

* 8
London.
Ehrgeiz zu einem (nachher von Napoleon I. unternommenen) Zug
nach Ägypten
[* 5] anstacheln sollte, um ihn von Deutschland
[* 6] abzulenken.
In Paris,
[* 7] wohin er 1672 gesandt wurde, und bei einem Ausflug nach London
[* 8] kam Leibniz
in persönlichen Verkehr
mit den berühmtesten Mathematikern und Naturforschern jener Zeit, namentlich mit Huygens, Rob. Boyle und Newton, und die Anregung
zur Wiederaufnahme seiner mathematischen Studien, die er dadurch erhielt, führte zur Erfindung der Differentialrechnung.
[* 9]
Dieselbe brachte ihm solchen Ruhm, daß die Pariser Akademie ihn als ihren Pensionär aufnehmen wollte, wenn er zur katholischen Kirche überträte, wozu er sich aber nicht zu entschließen vermochte. 1676 trat er als Bibliothekar und Historiograph in hannöversche Dienste, [* 10] verfaßte im Auftrag und Interesse des braunschweigischen Hauses die Schrift »Caesarini Fuerstenerii de jure suprematus ac legationis principum Germaniae« (1677),
sammelte Material zur Geschichte des Hauses, zu welchem Zweck er 1687 Wien [* 11] und Italien [* 12] besuchte, und arbeitete die Werke: »Codex juris gentium diplomaticus« (Hannov. 1693-1700, 2 Bde.),
»Accessiones historicae« (Leipz. u. Hannov. 1698-1700, 2 Bde.),
»Scriptores rerum Brunsvicensium illustrationi inservientes« (das. 1707-11, 3 Bde.),
China und Japan

* 13
China. »Disquisitio de origine Francorum« (Hannov. 1715) und die »Annales
imperii occidentis Brunsvicenses« (das. 1843-45, 2 Bde.)
aus, welch letztere damals ungedruckt blieben und erst lange nach seinem Tod von Pertz aus Leibniz'
Handschriften herausgegeben wurden.
Zu gleicher Zeit benutzte Leibniz
seine durch die Jesuiten bis nach China
[* 13] reichenden Verbindungen zu etymologischen Forschungen,
denen wir die »Collectanea etymologica« (Hannov. 1717) verdanken. Bis 1694 korrespondierte
er unter Vermittelung des katholisch gewordenen Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels fruchtlos mit Pélisson und Bossuet über
eine Vereinigung der protestantischen und katholischen Kirche und verfaßte zu diesem Zweck das konziliatorische »Systema theologicum«
(Par. 1819; deutsch von Räß und Weis, Mainz
[* 14] 1820),
Lager (militärisch)

* 17
Lager. welches ihn in den Verdacht des Kryptokatholizismus brachte
(vgl. Schulz, Über die Entdeckung, daß ein Katholik gewesen, Götting. 1827). Wie er selbst in seiner Person eine »Akademie«
darstellte, so ging sein Hauptstreben dahin, seine Verbindungen mit den Höfen zu Berlin,
[* 15] Wien und Petersburg
[* 16] zur Gründung von
Akademien der Wissenschaften nach dem Muster der Pariser und Londoner an diesen Orten zu benutzen. Durch seinen
Einfluß auf die geistreiche Königin Sophie Charlotte, die Großmutter Friedrichs d. Gr., setzte er 1700 die Stiftung der Akademie
der Wissenschaften zu Berlin durch und wurde deren erster Präsident. In Wien
unterstützte der ihm gewogene Prinz Eugen von Savoyen,
dem er seine Hauptschrift: »La Monadologie« (1714), widmete, Leibniz'
Plan, der jedoch an dem Widerstand der Jesuiten
scheiterte und erst 1846 zur Ausführung kam. In Petersburg gründete Peter d. Gr., der Leibniz
1711 im Lager
[* 17] zu Torgau
[* 18] kennen lernte,
die noch heute bestehende Akademie nach Leibniz'
Entwurf.
Außerdem wurde Leibniz
vom Kaiser Karl VI. zum Freiherrn und Reichshofrat ernannt, von andern Fürsten durch Titel
und Jahrgehalte ausgezeichnet. Die Streitigkeiten mit Newtons
[* 19] Anhängern über die Priorität der Erfindung der Differentialrechnung,
über welche die königliche Societät zu London ein keineswegs unparteiisches Urteil abgab, trübten seine letzten Lebensjahre.
Er starb in Hannover
[* 20] und soll in der Neustädter Hofkirche daselbst beigesetzt worden sein,
wo ihm ein einfaches Monument mit der Aufschrift »Ossa Leibnitii« errichtet wurde.
Ein größeres Denkmal am Waterlooplatz in Hannover trägt die von Heyne angegebene Inschrift »Genio Leibnitii«. 1883 ward ihm ein Standbild, von Hähnel modelliert, in Leipzig errichtet. Zu einem vierten ist sein Wohnhaus [* 21] in Hannover geworden, das König Ernst August 1844 an sich kaufte, um es vor dem Niederreißen zu bewahren. 1846 wurde das 200jährige Fest seiner Geburt gefeiert und in demselben Jahr die königlich sächsische Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig und die kaiserliche Akademie der Wissenschaften zu Wien eröffnet.
Leibniz'
schriftstellerische Thätigkeit äußerte sich meist gelegentlich in Briefen und kurzen Aufsätzen,
die sich in den Zeitschriften: »Acta Eruditorum«, »Miscellanea Berolinensia«, »Journal des Savants« sowie in den Briefsammlungen
von Kortholt (Leipz. 1734-1742, 4 Bde.),
Gruber (Hannov. u. Götting. 1745, 2 Bde.),
Beesenmeyer (Nürnb. 1788),
Feder (Hannov. 1815) und Cousin (im »Journal des Savants« 1844),
in und Huygens' Briefwechsel mit Papin« (hrsg. von Gerland, Berl. 1881),
Preußen

* 22
Preußen. dem »Briefwechsel
mit dem Minister v. Bernstorff« (hrsg. von Döbner, Hannov. 1882) und
in weitern Veröffentlichungen von Distel, Gerland u. a. finden. Zu seinen philosophischen Hauptwerken gehören die »Monadologie«,
der im Auftrag der philosophischen Königin Sophie Charlotte von Preußen
[* 22] geschriebene »Essai de Théodicée
sur la bonté de Dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal« (zuerst Amsterd. 1710, 2 Bde.;
hrsg. von Jaucourt, das. 1747, 2 Bde.;
von Erdmann, Berl. 1840, 2 Bde.; lat.,
Tübing. 1771; deutsch, Mainz 1820, und von Habs, Leipz. 1884) und »Nouveaux
essais sur l'entendement humain« (deutsch von Schaarschmidt, das. 1874), eine in Form
eines Dialogs durchgeführte Prüfung und versuchte Berichtigung des Lockeschen Werkes über das Erkenntnisvermögen, welche
erst nach Leibniz'
Tod bekannt wurde und den wichtigsten Teil der von Raspe herausgegebenen »Œuvres philosophiques de feu M. de
Leibniz«
(Amsterd. u. Leipz.
1765) ausmacht.
Die erste (unvollständige) Ausgabe der Leibniz
schen Werke besorgte Dutens (Genf
[* 23] 1768, 6 Bde.); neuere Gesamtausgaben auf Grundlage
der Handschriften der Hannoverschen Bibliothek wurden begonnen von Pertz (erste Folge: »Historische Schriften«, Hannov. 1843-47, 4 Bde.;
zweite Folge: »Briefwechsel mit Arnauld und dem Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels«, das. 1846; dritte
Folge: »Mathematische Schriften«, hrsg. von Gerhardt, Berl. u. Halle
[* 24] 1849-62, 7 Bde.; dazu 6 Bände »Philosophische Schriften«,
hrsg. von Gerhardt, Berl. 1875-86),
Leibniz (die Leibnizsc

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Seite 10.648.und seit 1862 von O. Klopp (Hannov., bis 1884: 11 Bde.), ¶
mehr
beide unvollendet. Die philosophischen Schriften gaben außerdem Erdmann (Berl. 1839, 2 Bde.) und
Janet (St. Cloud 1866, 2 Bde.) heraus. Leibniz'.
»Deutsche
[* 26] Schriften« gab Guhrauer (Berl. 1838-40, 2 Bde.),
»Lettres et opuscules inédits de Leibniz«
, darunter eine »Réfutation inédite de Spinoza par Leibniz«
(Par. 1854), Foucher de Careil
heraus, der ebenfalls eine auf 20 Bände berechnete Gesamtausgabe begonnen hat, von welcher aber nur 7 Bände
(1859-75) erschienen sind.
Ausdehnung (der festen

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Ausdehnung. Die Leibnizsche
Philosophie ist von ihrem Urheber keineswegs systematisch entwickelt, sondern in einer Anzahl meist kurzer
Abhandlungen mehr angedeutet, als ausgeführt worden. Dieselbe knüpft an den Cartesianischen Dualismus, den qualitativen
Gegensatz zwischen Geist und Materie (Seele und Leib) an, durch welchen jede direkte Einwirkung des einen
Teils auf den andern und umgekehrt unmöglich gemacht wird. Derselbe besteht so lange, als das Wesen des Geistes (richtig)
in das Denken, das des Körpers (fälschlich, mit Descartes) in die Ausdehnung
[* 27] gesetzt wird.
Wird dagegen erkannt, daß das Wesen des Körpers (als einer zusammengesetzten Substanz) in dessen letzten Bestandteilen (den einfachen Substanzen, aus welchen er zusammengesetzt ist), das Wesen des Geistes darin besteht, daß er eine einfache Substanz, und zugleich, daß jede einfache Substanz thätige (lebendige) Kraft [* 28] ist, so verschwindet obiger Gegensatz. Der Körper (Materie) ist seinem Wesen nach (in seinen letzten Bestandteilen) vom Geist nicht mehr verschieden, der Einwirkung des einen auf den andern (der Seele auf den Leib und umgekehrt) steht von seiten der Qualität kein Hindernis mehr entgegen.
Der »Körper« (Materie) als »Ausdehnung« ist als solcher nicht wirklich, sondern bloßes »Phänomen«, und das
einzige, was wahrhaft existiert, sind die einfachen Substanzen (Einheiten, »Monaden«, die »wahren Atome der Natur«). Dieselben
sind (als »einfache«) sämtlich einerlei Art und, da der uns bekannte Geist (unsre eigne Seele) selbst eine einfache Substanz
ist, sämtlich diesem ähnlich, sämtlich »geistiger« Natur und werden von Leibniz
ausdrücklich als »Seelen« (âmes)
bezeichnet.
Sowohl der quantitative Monismus Spinozas (der nur eine einzige Substanz) als der qualitative Dualismus des Cartesius (der zweierlei
Arten von Substanzen, geistige und materielle, kennt) ist dadurch gründlich beseitigt; jenem setzt Leibniz
den Pluralismus (der
unzählige), diesem den Spiritualismus (der nur geistige Substanzen kennt) entgegen. Jede einfache Substanz (Monade)
ist als solche ein Unteilbares (Individuum); das Allgemeine (Geist wie Materie) hat als solches keine, und nur die Individuen
besitzen wirkliche Existenz. Leibniz schließt sich bezüglich der logisch-scholastischen Streitfrage, ob das universale als res
(Realismus) oder als nomen (Nominalismus) zu betrachten sei, der nominalistischen (genauer: konzeptualistischen) Auffassung
an. Eine Bestätigung dafür, daß die Materie als solche keine Existenz besitze, fand Leibniz in der mittels
des Mikroskops (durch Leeuwenhoek und Swammerdam) gemachten Entdeckung der Infusorien im Wassertropfen, welche beweise, daß auch
in dem anscheinend Leblosen noch zahllose lebendige Wesen enthalten seien.
Dieselbe gehört als »phaenomenon bene fundatum« lediglich der Erscheinungs-, keineswegs aber der Welt des an sich Seienden (der Monadenwelt) an, welche als die Gesamtheit immaterieller (einfacher) Substanzen selbst immateriell (eine Geisterwelt) ist. Die Monaden, obgleich sämtlich gleichartig, sind einander doch keineswegs gleich; vielmehr ist (nach dem von Leibniz aufgestellten Prinzip de identitate indiscernibilium, von der Einerleiheit des Nichtzuunterscheidenden) jede von jeder unterschieden. Da dieselben aber als immaterielle Wesen keine äußerlich wahrnehmbaren Verschiedenheiten besitzen können, ihre Natur jedoch nur darin besteht, daß sie wirksame Kräfte sind, so kann ihre Verschiedenheit nur eine innere und zwar nur in dem verschiedenen Grad ihrer Wirksamkeit gelegen sein.
Sämtliche Monaden stellen eine Reihe stufenweise (höher und niedriger) entwickelter Kraftwesen dar, deren unterste den niedrigsten, deren höchste den höchsten Erscheinungen der wirklichen (Körper- und Geistes-) Welt zu Grunde liegen. Auch der menschliche Leib ist als solcher ein Aggregat von Monaden, welche zu einer solchen (der Seele) in dem Verhältnis niedriger zur höhern stehen. Die Einwirkung der Seele auf den Leib und umgekehrt stellt sich als eine Einwirkung von Monaden auf Monaden heraus, und ihre Möglichkeit oder Unmöglichkeit hängt von dem Umstand ab, ob eine Einwirkung von seiten eines dieser »Kraftwesen« auf das andre möglich ist.
Hier aber zeigt es sich, daß die von Cartesius aus einem andern Grund behauptete und von aus diesem Grund glücklich beseitigte Schwierigkeit der Wechselwirkung zwischen Seele und Leib aus einem weitern Grund wiederkehrt, der sich nicht beseitigen läßt. Die »Kraftwesen« (Monaden) haben »keine Fenster«, durch welche eine Kraftwirkung aus dem einen aus- und in das andre einzutreten vermöchte. Die Wirksamkeit jeder Monas als einer »wirksamen Kraft« kann keine auf andre »übergehende« (transeunte), sondern nur eine auf das Innere der Monas selbst beschränkte (immanente), und sämtliche von ihr hervorgebrachte Veränderungen können sonach nicht (ihr) äußerliche, sondern müssen durchaus innerliche (des Kraftwesens selbst) sein. Da nun dasjenige, was innerhalb eines immateriellen Wesens geschieht, selbst nicht anders als immateriell sein kann, so folgt, daß nicht nur alles, was wahrhaft existiert, sondern auch alles, was wahrhaft geschieht, immaterieller (geistiger) Natur sein muß.
Glied (künstliches)

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Glied.Geistige Wesen und deren (gleichfalls) geistige Zustände machen allein die wahrhafte Welt aus, welche die (nicht hinwegzuschaffende) Grundlage der (sinnlich) erscheinenden Welt bildet. Die in dem Innern jeder Monade nacheinander ablaufenden Zustände bilden eine Reihe, in welcher jedes folgende Glied [* 29] (nach dem von Leibniz zuerst aufgestellten Prinzip des »zureichenden Grundes«) seinen Grund in dem vorhergegangenen hat und zugleich selbst den Grund für die nachfolgenden enthält, so daß »die Gegenwart schwanger mit der Zukunft« ist.
Allein da keine Monade eine Anregung von außen (durch andre Monaden) empfangen kann, so gleicht jede einzelne Monade einem »geistigen Automaten«, der seine Bewegungen unabhängig von allem, was außer ihm ist und sich selbst bewegt, vollzieht. Eine Verschiedenheit unter den Monaden wird dabei durch den Umstand begründet, ob die wirksame Kraft sich ihrer Wirksamkeit gar nicht oder nur teilweise oder im vollen Umfang bewußt ist, d. h. ob ihre Wirkungen (die Perzeptionen, Vorstellungen) sämtlich dunkle oder wenigstens teilweise klare oder durchaus klare Bewußtseinsakte sind. Jene nehmen als »schlummernde« (Stein-, Pflanzen-, Tier-) Seelen die tiefste, letztere, die »göttliche« Seele, die höchste, die menschliche Seele aber nimmt als teilweise klares, teilweise dunkles Bewußtsein eine mittlere Stellung auf der Stufenleiter der geistigen Wesen ein. Die Möglichkeit einer Übereinstimmung zwischen den Zuständen zweier oder mehrerer Monaden (z. B. der Seele und ¶