Leibeigens
chaft
(Eigenschaft,
Grundhörigkeit,
Hörigkeit), ein dem frühern germanischen und slawischen Rechtsleben
eigentümlicher Zustand geminderter persönlicher
Freiheit. Im allgemeinen charakterisiert sich nämlich die Leibeigens
chaft als ein Standesverhältnis,
bei welchem die Eigentümlichkeit besteht, daß die Standesgenossen als die Zubehörungen gewisser ländlicher Grundbesitzungen
erscheinen und somit zu der Gutsherrschaft in einem Unterthänigkeitsverhältnis stehen.
Auf der andern Seite involviert die Leibeigens
chaft keine totale Unfreiheit des Leibeignen, wie es bei der
Sklaverei der
Fall ist, und eben
darin liegt der Unterschied zwischen dem Sklaven, der als bloße
Sache, und dem Leibeignen, der nur in dem Zustand geminderter
Rechtsfähigkeit erscheint.
Schon in den ältesten
Zeiten finden wir bei den germanischen
Völkerschaften
den Unterschied zwischen
Freien und Unfreien ausgeprägt. Die hauptsächlichsten Entstehungsgründe der Unfreiheit waren Kriegsgefangenschaft
und Unterjochung und daneben, wie
Tacitus erzählt, freiwillige
Ergebung infolge des
Spiels.
Wie sich aber später in der fränkischen Monarchie unter den Freien verschiedene Stände entwickelten, so finden wir auch schon zur Zeit der Merowinger unter den Unfreien verschiedene Abstufungen vor. Im allgemeinen lassen sich drei Klassen der Unfreien unterscheiden, nämlich die eigentlichen Unfreien, dann die zins- und dienstpflichtigen Leute und die sogen. Ministerialen. Die vollständige Unfreiheit, welche nach den Volksrechten durch die Abstammung von unfreien Eltern, durch Verheiratung mit einem Unfreien und durch die gerichtliche Überweisung insolventer Schuldner oder Verbrecher an den Gläubiger oder an die Verletzten, endlich aber auch durch freiwillige Unterwerfung unter die Schutzgewalt eines Gutsherrn begründet wurde, ließ die zu dieser Klasse Gehörigen (mancipia, servi, ancillae) zunächst zwar als völlig rechtlos und lediglich als Sache erscheinen.
Unter dem Einfluß des Christentums verbesserte sich jedoch die Lage derselben; man gestand ihnen nach und nach gewisse Rechte zu, und so verschmolz diese unterste Klasse der Unfreien mit der höher stehenden der zins- und dienstpflichtigen oder hörigen Leute (homines pertinentes), deren Entstehung wohl auf die Unterwerfung der einheimischen Landbevölkerung durch die einwandernden Eroberer zurückzuführen ist. Die letztern wurden bei den Alemannen, Franken, Friesen und Sachsen [* 2] Leti, Liti, Lidi, bei den Sachsen auch Lassi, Lazzi, Lati und bei den Langobarden Aldier (Aldiones) genannt.
Das Verhältnis der Grundherren zu diesen Hörigen war kein Eigentumsverhältnis, sondern das einer Schutzgewalt (mundium). Es legte den Gutsunterthanen außer der Verpflichtung zu gewissen Dienstleistungen namentlich bestimmte Naturalabgaben an die Gutsherrschaft auf, welch letztere wiederum den Liten zu schützen und namentlich vor Gericht zu vertreten hatte. Zu diesen beiden Klassen der Unfreien, welche, wie gesagt, später zu einer einzigen verschmolzen, kam als drittes Verhältnis der Abhängigkeit und Freiheitsbeschränkung die sogen. Ministerialität hinzu.
Ministerialen (Ministeriales, Dienstmannen) hießen nämlich ursprünglich die zur persönlichen Dienstleistung bei den geistlichen und weltlichen Großen berufenen Personen. Auch ihre Freiheit war ursprünglich eine geminderte; doch stieg mit ihrer Verwendung zu Kriegs- und Hofdiensten auch ihr Ansehen, so daß sie bald den eigentlichen Lehnsmannen oder Vasallen der Großen gleich geachtet wurden. Bald trat für sie ein besonderes Recht der ritterlichen Dienstleute (jus ministeriale) ins Leben, und so entwickelte sich aus ihnen der Ritterstand.
Schon zu Anfang des 13. Jahrh. war das Bewußtsein von der ursprünglichen Unfreiheit dieser Standesgenossen so sehr geschwunden, daß man anfing, die Ministerialen dem niedern Adel beizuzählen, und so finden wir denn in und seit dem 13. Jahrh., namentlich in den sogen. mittelalterlichen Rechtsbüchern, nur noch eine Klasse von Unfreien, welche eigne Leute (Hauseigne, Blutseigne, Eigenbehörige, Gutseigne, Dienstleute, Hörige, Scaramanni, Scararii, Kurmedige, Wachszinsige, Köter, Kossäten, Sonnenkinder, auch Lassen, Laten, Erbunterthänige) genannt werden.
Der Zustand dieser Unfreiheit hieß
Eigenschaft, wofür dann später der
Ausdruck Leibeigens
chaft aufkam, obgleich sich dies
Verhältnis
wesentlich als eine Gutshörigkeit charakterisierte. Die Leibeignen erschienen nämlich als die
Hintersassen ihres Gutsherrn,
wurden auch als solche bezeichnet und standen wie das
Gut selbst, zu welchem sie gehörten, in der
Gewere
(Besitz)
des Gutsherrn, welcher den ihm eignen Mann mittels gerichtlicher
Klage (sogen.
Besatzungsrecht) in Anspruch nehmen konnte.
Das Abhängigkeitsverhältnis der Hörigen zeigte sich namentlich darin, daß der Herr, wenn auch nicht, wie ehemals, den ganzen Nachlaß des Leibeignen, aber doch einen gewissen Teil desselben, namentlich die besten Viehstücke u. dgl. (Besthaupt, Mortuarium, Sterbfall, Butteil), für sich beanspruchen konnte. Ferner mußten unfreie Frauenspersonen bei ihrer Verheiratung eine gewisse Abgabe (Bumede, Bauzins, Frauenzins, Hemdschilling, Busengeld, Busenhuhn, Nadelgeld, Schürzenzins, Maritagium) entrichten, und der Leibeigne bedurfte zu seiner Verheiratung der Erlaubnis des Gutsherrn. Außerdem war es aber eine ganze Reihe von Zinsen und Abgaben, welche die Leibeignen von den Höfen, die ihnen der Gutsherr regelmäßig in eine Art Erbpacht gegeben hatte, entrichten mußten. Da waren Zehnten, Gülten und Grundzinsen zu entrichten, Herdgelder, Gartenhühner, Rauchhühner, Ostereier, Pfingstlämmer, Martinsgänse und Fastnachtshühner zu prästieren und Zinskorn, ¶
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Wachszins und Honigzins zu liefern. Dazu kamen aber noch zahlreiche persönliche Dienstleistungen (Fron- und Herrendienste),
so daß das Los der Leibeignen in der That ein sehr hartes war. Erst zu Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts
gewann die fortschreitende Humanität so viel Einfluß auf die Gesetzgebung, daß die Aufhebung der Leibeigens
chaft, welche
zugleich im Interesse des Volkswohlstandes, der Entwickelung der Steuer- und Wehrkraft des Landes und der Zunahme der Bevölkerung
[* 4] als dringend geboten erschien, in Deutschland
[* 5] allenthalben durchgeführt ward.
Zwar hatten sich schon zu Anfang des 18. Jahrh. einzelne Versuche zur Aufhebung der Leibeigens
chaft gezeigt, z. B. in der preußischen
Dorfordnung von 1702 für die königlichen Domänen; aber erst Joseph II. von Österreich
[* 6] war es, welcher die Leibeigens
chaft vollständig
aufhob und zwar 1781 für Böhmen
[* 7] und Mähren, 1782 für die deutschen Erblande. Auch das preußische Landrecht von 1794 bezeichnete
die Leibeigens
chaft als unzulässig; aber erst durch Gesetz vom erfolgte die gänzliche Aufhebung derselben
für die preußische Monarchie, ebenso in Württemberg
[* 8] durch Gesetz vom und für Bayern
[* 9] durch die Verfassungsurkunde
vom so daß auch die übrigen Staaten, in welchen das Institut der Leibeigenschaft
bestand, nicht mehr zurückbleiben konnten.
Die letzten Reste wurden 1832 in der sächsischen Oberlausitz getilgt.
Auf weit größere Schwierigkeiten stieß dagegen die Abschaffung der Leibeigenschaft
in Rußland, woselbst die Leibeigenschaft mit
dem Volksleben viel inniger verwachsen war als in Deutschland. Denn in Rußland gab es gar keinen freien Bauernstand, ebensowenig,
abgesehen von dem Kaufmannsstand, einen eigentlichen Bürgerstand. Für die Bildung eines solchen ist
der slawische Volkscharakter überhaupt wenig günstig, während dieser Stand gerade auf dem germanischen Volksboden am besten
gedeiht.
Bedenkt man nun, daß die Zahl der russischen Leibeignen vor der Emanzipation nahezu ein Drittel der Gesamtbevölkerung betrug,
daß z. B. in den Gouvernements Smolensk und Tula auf 100 Einwohner 69 Leibeigne kamen, so wird man es begreiflich
finden, daß die Emanzipation Kaiser Alexanders eine kolossale Umwälzung hervorrufen mußte. Was die Entstehung der Leibeigenschaft
in Rußland
anbetrifft, so ist diese auch hier jedenfalls auf kriegerische Unterwerfung zurückzuführen.
Wenn aber die Leibeigenschaft
in Rußland einen gewissen patriarchalischen Charakter trug, so ist derselbe zumeist
aus dem frühern Nomadenleben des russischen Volksstammes erklärlich. Zudem war diese Unfreiheit der ackerbauenden Klasse
keine eigentliche persönliche es war vielmehr die Gesamtheit der ländlichen Gemeinde, welche von dem Gutsherrn Ländereien
erhielt und diesem zu Frondiensten und Abgaben verpflichtet war. Die russischen Bauern hatten nämlich ehemals
die Gewohnheit, in bestimmten Fristen von einem Gut nach dem andern überzuwandern.
Diese sogen. Freizügigkeit wurde jedoch unter Boris Godunow am Juriewstag 1592 aufgehoben, indem die Bauern seit dieser Zeit
an den Boden geheftet wurden, welchen sie zu dem gedachten Zeitpunkt bebaut hatten. Unter Peter d. Gr. wurde sodann die persönliche
Leibeigenschaft
aller Bauern zum Gesetz erhoben, dem Grundadel ein freies Verfügungsrecht über seine Bauern eingeräumt, aber auch umgekehrt
die Verpflichtung zum Unterhalt und zur Ernährung der Leibeignen im Fall eignen Unvermögens auferlegt.
Der ursprüngliche patriarchalische Charakter blieb der Leibeigenschaft;
das Verhältnis des Leibeignen zu seinem Herrn (bárin), welchen
er »Väterchen« anredete, war kein knechtisches, bis
sich dies mit der neurussischen, modernisierenden Richtung
allmählich änderte. Der russische Adel, welcher nach moderner
Sitte strebte und von Ausländern erzogen wurde, lebte größtenteils in Petersburg
[* 10] oder im Ausland und wurde so seinen Bauern
entfremdet. Die Güter desselben wurden durch dritte Personen, meist durch Deutsche,
[* 11] verwaltet, welche
sich den Leibeignen gegenüber manche Willkürlichkeiten erlaubten.
Dazu kam, daß mit der größern Entwickelung der Industrie zahlreiche Leibeigne, natürlich nur mit Zustimmung ihres Gutsherrn, sich gewerblicher Beschäftigung hingaben. Es ward nämlich den Leibeignen gegen eine jährliche Abgabe (obrók) gestattet, sich den Lebensunterhalt außerhalb des Gutes zu verdienen, und da die »Seelenbesitzer« auf diese Weise ihr »Menschenkapital« besser ausnutzen konnten, war namentlich die Vermietung von Leibeignen an Fabrikunternehmer an der Tagesordnung. Es kam aber auch vor, daß reiche Kapitalisten, Bankiers, wissenschaftlich gebildete Männer, sogar Künstler leibeigen waren.
Der Leibeigne, der nur noch bei der Gemeinde »angeschrieben«, nicht mehr mit ihr verwachsen
war, stand alsdann in einem rein persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Herrn, dessen Willkür er preisgegeben war,
wenn auch Kaiser Nikolaus für jeden Kreis
[* 12] einen Adelsmarschall bestellt hatte, welcher die Leibeignen schützen sollte. Die
Beseitigung dieser mit dem modernen Staats- und Völkerleben unvereinbaren Zustände wurde schon von Alexander I.
in Aussicht genommen; aber nur in den Ostseeprovinzen, woselbst die Leibeigenschaft
überhaupt mildere Formen angenommen hatte, gelang deren
Abschaffung (1817). Kaiser Nikolaus erließ dann verschiedene Ukase, durch welche die materielle Lage der Leibeignen dadurch,
daß ihnen das Recht zum selbständigen Vermögenserwerb eingeräumt ward, verbessert werden sollte.
Das große Emanzipationswerk selbst wurde aber erst unter Alexander II. vollbracht. Zunächst ward nämlich
dem Adel durch Ukas vom der kaiserliche Wunsch kundgegeben, er möge darüber beraten, »wie die Lage der Bauern gegenüber
den Eigentümern der adligen Güter durch genaue Bestimmung ihrer wechselseitigen Verpflichtungen und Beziehungen zu verbessern
und zu sichern sei«. Freilich folgte der altrussische Adel diesem Ruf nur langsam und zögernd; doch schon 1858 trat
ein »großes Leibeigenschaft
skomitee« von zwölf Mitgliedern unter dem
Vorsitz des Kaisers selbst zusammen, welchem dann in den einzelnen Gouvernements besondere Komitees unterstellt wurden, welche
die Emanzipation der Leibeignen vorzubereiten hatten.
Nachdem dann die Krone selbst mit der Emanzipation der Kronbauern vorausgegangen war, wurde das Emanzipationsgesetz
vom erlassen, welches die Aufhebung der Leibeigenschaft
für den ganzen Umfang des russischen Reichs auf den feststellte.
Dieses weise Gesetz erteilte den russischen Leibeignen die persönliche Freiheit, behielt aber die bisherigen Gemeindeverhältnisse,
namentlich den Gemeindebesitz, bei, um die Bauern allmählich erst an die Freiheit zu gewöhnen.
Den Gemeinden wurde den Gutsherren gegenüber die Verpflichtung auferlegt, ihre Mark von diesen entweder eigentümlich zu erwerben, oder in Erbpacht zu nehmen, indem die Gemeinde als solche für die dem Herrn dagegen zu entrichtenden Leistungen an Geld oder Arbeit einzustehen hatte (sogen. Gemeinbürgschaft). Übrigens stand der Staat dabei den Gemeinden durch die Gewährung von Vorschüssen helfend zur Seite. Diese »Loskaufsoperation« ist inzwischen wesentlich gefördert, aber noch nicht allenthalben und vollständig zum Abschluß gediehen. Auch ¶
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die Umwandlung des Gemeindebesitzes in Einzelbesitz ist angebahnt. War nämlich die Beibehaltung des Gemeindebesitzes für das Stadium des Übergangs dringend geboten, so ist derselbe gleichwohl mit einer gesunden Entwickelung eines freien Bauernstandes unvereinbar. Freilich hatten sich gegen die Einführung des Einzelbesitzes an Stelle des Gemeindebesitzes zahlreiche Stimmen erhoben, namentlich die der sogen. Slawophilen und der russischen Sozialdemokraten, und diese Kontroverse hat geradezu eine besondere Litteratur hervorgerufen. Es hat jedoch die vermittelnde Ansicht derer, welche eine allmähliche Beseitigung des Gemeindebesitzes durch Übergangsbestimmungen befürworteten, sich mehr und mehr Geltung verschafft, indem sie auch zur praktischen Verwirklichung gelangte.
Vgl. Kindlinger, Die Geschichte der Hörigkeit, insbesondere
der sogen. Leibeigenschaft
(Berl. 1819);
J. Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer (3. Ausg., Götting. 1881);
Sugenheim, Geschichte der Aufhebung
der Leibeigenschaft
in Europa
[* 14] bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts (Petersb. 1861);
Eckardt, Rußlands ländliche Zustände (Leipz. 1870);
Keußler, Geschichte des bäuerlichen Gemeindebesitzes in Rußland (Riga [* 15] 1876);
Engelmann, Die Leibeigenschaft in Rußland (Leipz. 1884).