Lehrfreiheit
,
im weitern Sinn überhaupt die unbeschränkte geistige Mitteilung, also auch die Preßfreiheit (s. d.) umfassend, im engern Sinn das Recht öffentlicher Lehrer, einschließlich der Geistlichen, ihre Überzeugungen nach eignem Ermessen vorzutragen. Die Idee der ist eine durchaus moderne und hat sich mit einiger Klarheit erst herausbilden können, seit durch die Reformation der Staat als ein sittlich gleichberechtigtes Gemeinwesen neben der Kirche anerkannt ward.
Weder die heidnischen und theokratischen
Staaten des
Altertums noch der christliche
Staat des
Mittelalters
vermochten ihrem
Wesen nach eigentliche Lehrfreiheit
zu gewähren, wenn auch thatsächlich namentlich im
Altertum oft weitgehende Duldung
geübt worden ist. Das spätere
römische Recht unterschied zwischen
Religiones licitae und illicitae; als
Religio illicita
wurde das
Christentum verfolgt. Aus dem
Kreis
[* 2] der Verfolgten wurden öfters
Stimmen laut, welche
Glaubens-
und Bekenntnisfreiheit forderten.
Doch war dies bald vergessen, als die Kirche zur Herrschaft gelangte und im Morgenland sich der Staatsgewalt in die Arme warf (Byzantinismus, Cäsareopapismus), im Abendland diese sich dienstbar zu machen wußte (Romanismus, Hierarchie). Die vielfachen Lehrstreitigkeiten des beginnenden Mittelalters endeten meist mit staatlicher Unterdrückung der einen Ansicht; die Staatsgewalt schloß auch die letzten heidnischen Philosophenschulen. Am folgenreichsten wurden in dieser Richtung die Gesetze Theodosius' I. und Valentinians II. zu gunsten der nicäischen Trinitätslehre.
Auch ein so groß angelegter
Geist wie
Augustinus rechtfertigte die Anwendung des
Zwanges mit dem mißdeuteten
Befehl des
Evangeliums:
»Compelle
(coge) intrare«
(Luk. 14, 23:. »Nötige sie,
einzutreten!«). Das spätere
Mittelalter hatte in der korporativen Selbständigkeit der
Universitäten einen gewissen
Ersatz
der Lehrfreiheit.
Allein die scholastische Weltansicht galt auch diesen wie der gesamten
Kirche als unverbrüchliches
Gesetz, dessen
Verletzung
oft durch die härtesten Maßregeln geahndet wurde.
Gegen Ende des
Mittelalters lockerte der
Humanismus thatsächlich diese engen
Bande. Unter den
Reformatoren hat
Luther am entschiedensten
die Lehrfreiheit
grundsätzlich gefordert, aber, wo die
Folgen bedenklich schienen, nicht immer gewährt.
Melanchthon,
Calvin und mit
ihnen die
Mehrzahl der protestantischen Theologen billigten unter anderm die
Hinrichtung des
Antitrinitariers
M.
Servet auf
Grund des
Edikts der
Kaiser
Gratianus,
Valentinianus und
Theodosius über die heilige
Dreieinigkeit vom Jahr 380. Seit
der
Reformation ist nicht nur zwischen der katholischen und protestantischen, sondern auch zwischen der staatlichen und kirchlichen
Ansicht von der Lehrfreiheit
zu unterscheiden.
Die römische
Kirche schreibt sich, d. h. dem
Papste, das alleinige
Recht zu, die
Grenzen
[* 3] der Lehrfreiheit
zu ziehen.
Wie sie dies seit dem
Konzil von
Trient
[* 4] und dem Aufkommen des Jesuitenordens geübt hat, davon zeugen neben der greuelvollen
Geschichte der
Inquisition in
Spanien,
[* 5]
Italien
[* 6] etc. die
Hinrichtung des
Giordano
Bruno, der doppelte
Prozeß des
Galilei, die Verdammung
des Kopernikanischen
Systems (1616, aufgehoben 1821), das
Verfahren gegen die
Hugenotten,
Quietisten, Jansenisten, Hermesianer
u. a. sowie die Einrichtung des
Index librorum prohibitorum.
Wie wenig noch heute dort die Lehrfreiheit
selbst in rein weltlichen
Wissenschaften anerkannt wird, lehren die bekannte
Encyklika und
der
Syllabus
Pius' IX., vor allem aber die vatikanischen Beschlüsse von 1870. Das neuere
Staatsrecht seit
Hugo
Grotius und
Samuel v.
Pufendorf stellt sich, selbst in den meisten katholischen
Staaten, wesentlich anders in Hinsicht der
Lehrfreiheit.
Zwar kann kein
Staat eine unbedingte Lehrfreiheit
gewähren, unter deren
Schutz die sittliche und rechtliche Grundlage seines eignen
Bestandes in
Frage gestellt oder gehässiger Zwiespalt in seinem Innern
¶
mehr
mutwillig geschürt werden dürfte. Aber das moderne Rechtsgefühl fordert, daß die Lehrfreiheit
als das eigentlich
Gesunde angesehen und eine Beschränkung nur zugelassen werde, wo die Selbsterhaltung sie dem Staat gebietet. Zu dieser Auffassung
drängte die auf protestantischer, namentlich reformierter, Seite immer allgemeiner anerkannte Parität mehrerer Bekenntnisse
in einem und demselben Staat, welche seit Friedrich d. Gr., der Gründung der nordamerikanischen Union und
der französischen Revolution in die Anerkennung allgemeiner Glaubensfreiheit (s. d.) überging, und das mächtige Anwachsen
einer vom kirchlichen und selbst vom christlichen und religiösen Bekenntnis überhaupt mehr oder weniger unabhängigen weltlichen
Wissenschaft.
Obwohl auch nach der Reformation zunächst noch immer an ein bestimmtes Bekenntnis gebunden, errangen die Universitäten in Deutschland, [* 8] Holland, der Schweiz [* 9] etc. seit dem Aufkommen des neuern Staatsrechts und zumal seit Leibniz und Chr. Thomasius die Geltung von Freistätten der Wissenschaft. Dies geschah freilich nicht ohne große Schwankungen. Thomasius selbst mußte von Leipzig [* 10] fliehen; von Halle [* 11] verwies Friedrich Wilhelm I. den Philosophen Chr. Wolf, welchen sein großer Sohn von Marburg [* 12] zurückrief. In Helmstädt wurde der freisinnige Erklärer des Alten Testaments, H. v. d. Hardt, zum Schweigen verurteilt.
Mit vielen andern empfand Kant den Druck der Wöllnerschen Zwangsmaßregeln unter Friedrich Wilhelm II. Bekannt ist ferner der
Fichte-Forbergsche Atheismusstreit, welcher den erstern, freilich nicht ohne Schuld seines herausfordernden
Auftretens, von Jena
[* 13] nach Berlin
[* 14] vertrieb. Verhängnisvoll waren in unserm Jahrhundert auch für die Lehrfreiheit
die Karlsbader Beschlüsse
(1819), denen in Frankreich das Verbot der geschichtlichen Vorträge Guizots und der philosophischen Cousins unter Karl X. zur
Seite ging. Das Jahr 1848 sprengte die Fesseln, die noch kurz zuvor in Leipzig gegen Biedermanns staatsrechtliche,
in Berlin gegen Prutz' litterargeschichtliche, in Tübingen
[* 15] gegen Vischers philosophische Vorträge straffer angezogen waren.
Einzelne Nachklänge, wie die Entfernung des Theologen M. Baumgarten von seinem Rostocker Lehrstuhl, folgten noch nach 1850. -
Schwieriger stellt sich die Frage nach der Lehrfreiheit
innerhalb einer einzelnen, auf ein bestimmtes Bekenntnis
begründeten kirchlichen Gemeinschaft.
Doch hat im Gebiet des Protestantismus mehr und mehr die Überzeugung sich Bahn gebrochen, daß die Ausschließung der freien Forschung, aus welcher die Reformation geboren ist, zur Heuchelei und zur geistigen Verarmung führen muß und demgemäß nur solche Lehrvorträge auszuschließen sind, welche die Bekenntnisgrundlagen antasten. Wann dies der Fall ist, darüber gebührt die Entscheidung der Kirche, d. h. der Gemeinde, selbst. Wäre diese schon früher durch Entwickelung des Synodalwesens in weitern Kreisen zu Worte gekommen, so hätte manches Ärgernis und manche Spaltung, wie die lutherische Separation von der preußischen Landeskirche im 4. und die Gründung der Freien Gemeinden unter Uhlich, Wislicenus, Rupp u. a. im 5. Jahrzehnt unsers Jahrhunderts, vielleicht vermieden werden können.
Eigentümlich ist die Lage da, wo Staat und Kirche zusammenzuwirken haben, wie bei den theologischen Fakultäten staatlicher Universitäten, bei der Anstellung und Beurteilung von Geistlichen in Staatskirchen, welche von Amts wegen auch besondere staatliche Rechte und Pflichten haben, und in der konfessionellen Schule. Berühmte Streitfälle aus jenem Gebiet sind die Entfernung von D. F. Strauß [* 16] aus dem theologischen Lehramt in Württemberg [* 17] mit dem Nachspiel in Zürich [* 18] und die von Br. Bauer in Preußen. [* 19]
Von den Geistlichen der Staatskirche muß und darf der Staat gewissenhafte Wahrung der staatlichen Interessen verlangen (vgl. die preußischen und deutschen Kirchengesetze der letzten Jahre). Daneben muß er der kirchlichen Forderung Rechnung tragen, daß die Grundlagen des Bekenntnisses nicht angetastet werden dürfen, zugleich aber darüber wachen, daß nicht eine Partei innerhalb der Kirche die Macht des Staats zur Durchführung ihrer herrschsüchtigen Pläne und zur Unterdrückung einer an sich gleichberechtigten Minorität mißbrauche. In diesem Sinn hielten sich die Staaten des Deutschen Reichs, der Schweiz u. a. verpflichtet, die sogen. altkatholischen Geistlichen und Lehrer, welche sich den vatikanischen Beschlüssen nicht unterworfen haben, im Genuß ihrer staatlich verbürgten Rechte zu schützen.
Ein schwieriges Kapitel des öffentlichen Rechts wird das von der immer bleiben, und völliges Einvernehmen über ihre richtige
Handhabung ist unter streitenden Parteien kaum denkbar. Im ganzen ist aber in Deutschland und namentlich auch in Preußen unter
den Kultusministern Falk und v. Goßler an die Stelle des früher verbreiteten Mißtrauens die Überzeugung
getreten, daß man es an leitender Stelle mit der Aufrechterhaltung einer vernünftigen Lehrfreiheit
ernst meint.