Lebensfähigkeit
(Vitalität), im ärztlichen Sinn derjenige Zustand eines neugebornen Kindes, in welchem dasselbe nach seinem Alter und nach der Bildung seiner Organe befähigt ist, fortzuleben, d. h. die durchschnittliche Lebensdauer des Menschen zu erreichen. Eine fünfmonatliche Frucht, sie mag noch so wohlgebildet sein, ist nicht lebensfähig, da sie das richtige Alter zum Fortleben nicht erreicht hat, und eine Frucht von zehn Monaten kann nicht fortleben, wenn eins oder mehrere der zum Leben wichtigsten Organe in der Weise verbildet sind, daß deren notwendige Verrichtungen nicht von statten gehen können. Ein kurzes Leben von Minuten oder Stunden kommt also hierbei nicht in Betracht. Es ist von der größten Wichtigkeit, den Begriff der Lebensfähigkeit in solcher Weise zu beschränken, obgleich die Gesetze regelmäßig behufs der Entscheidung über Erbfähigkeit, Legitimität etc. nur Leben im allgemeinen verlangen. Auch in strafrechtlicher Beziehung wurde früher zwischen Leben und Lebensfähigkeit insofern unterschieden, als der Kindesmord schwerer bestraft wurde, wenn das Kind lebensfähig gewesen war, als im umgekehrten Fall. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch macht jedoch einen solchen Unterschied nicht. Auch in Beziehung auf die Frage, ob gewisse angeborne Mißbildungen, welche durch die Kunst möglicherweise beseitigt werden können, den Begriff der Lebensfähigkeit ausschließen oder nicht, gibt es verschiedene Ansichten. Aber mit Recht entscheidet sich Casper dahin, daß solche Mißbildungen, wie z. B. der angeborne häutige Verschluß des Mastdarms oder der Harnröhre, welche ohne Kunsthilfe zum Tod führen, auch den Begriff der Lebensfähigkeit ausschließen müssen, indem er ausführt, wie die Annahme der Lebensfähigkeit einer auf diese Weise mißgebildeten Frucht die Folgerung einer verschiedenen Lebensfähigkeit der Kinder der Armen und Reichen, der Stadt- und Landbewohner zulassen würde. In allen neuern Gesetzgebungen ist das Alter von 210 Tagen oder die 30. Schwangerschaftswoche, sieben Kalendermonate, als der Termin der beginnenden Lebensfähigkeit angenommen, der auch naturgemäßer erscheint als der von Hippokrates aufgestellte von 180 Tagen oder sechs Kalendermonaten, welcher noch von dem rheinischen Gesetzbuch festgehalten wird. Angeborne Bildungsfehler, welche im stande sind, das Fortleben unmöglich zu machen, sind im ganzen selten und dann in der Regel so sehr in die Sinne fallend, daß über ihre Bedeutsamkeit in der Regel kein Zweifel obwalten kann. Weniger leicht und oft erst nach einigen Tagen machen sich innere Mißbildungen (s. d.) bemerkbar, wie z. B. Verschließung der Speiseröhre, Verschluß des Afters und der Harnröhre, Zwerchfellbruch, bei dem die Eingeweide des Unterleibs in die Brusthöhle gedrungen sind, u. dgl.