Lebendigge
bärende
Pflanzen (Plantae viviparae), Gewächse, deren Same regelmäßig schon in der Frucht keimt und dieselbe entweder auf der Mutterpflanze durchbohrt oder in gekeimtem Zustand mit der Frucht zugleich abfällt. Als Abnormität kommt diese Erscheinung auch an einzelnen einheimischen Pflanzen, z. B. bei auswachsendem Getreide [* 3] in feuchten Jahren, bei Arten von Juncus, Epilobium, bei Äpfeln u. a., vor. Allein sie ist bei einigen tropischen Strandgewächsen der sogen. Mangroveformation (so z. B. bei Arten von Rhizophora, Bruguiera, Aegiceras, Avicennia) ein durchaus normaler Vorgang, welchen schon Rumphius in seinem »Herbarium Amboinense« sehr anschaulich beschrieb; jedoch wurde dieser Bericht von spätern Reisenden so entstellt wiedergegeben, daß ein endgültiges Urteil über die Sache nicht ausgesprochen werden konnte.
Eine genauere Untersuchung der lebendigge
bärenden
Pflanzen Südasiens wurde neuerdings durch Göbel in
Bentotte auf
Ceylon
[* 4] ausgeführt, nachdem schon früher
Warming in
Brasilien
[* 5] an
Rhizophora Mangle Lebendigge
bärende
Beobachtungen angestellt hatte.
Die einfachste Form von
Viviparie unter den
Mangroven besitzt Bruguiera gymnorhiza. Von den sechs im
Fruchtknoten vorhandenen
Samenanlagen wächst nur eine aus und füllt zuletzt den ganzen Innenraum desselben völlig. Der scheitelständige
Embryo unterscheidet sich von einem gewöhnlichen dikotylen
Keimling nur dadurch, daß er vier anstatt zwei
Keimblätter besitzt,
die unten zusammenhängen und hier eine kurze
Röhre bilden; sein unter den
Keimblättern befindliches (hypokotyles) Stengelglied
ist anfangs noch sehr klein.
Dasselbe verlängert sich aber später bedeutend, so daß es die Samenschale durchbohrt und mit der Wurzel [* 6] an der Spitze in den Fruchtknotenraum hineinwächst, während die Keimblätter innerhalb der Samenschale stecken bleiben und unter Aufzehrung des vorhandenen Endosperms den Keimling ernähren. Das weiterwachsende Wurzelende des Embryos dehnt zunächst den Fruchtknoten, sprengt schließlich dessen Wand an dem griffeltragenden Teile mit einem Querriß und hebt den Griffelteil mützenartig empor.
Darauf schwillt das aus der Frucht hervorgetretene hypokotyle Ende des Keimlings an und verlängert sich zu einem bis 21 cm langen und 2 cm breiten Körper von Spindelform. Durch das wachsende Gewicht des Keimlings wird inzwischen die noch immer am Baume befindliche Frucht so gedreht, daß die Wurzelspitze sich nach unten kehrt. Der auf diese Weise weit vorgeschrittene Keimling fällt schließlich (wie es scheint, ähnlich wie bei Rhizophora durch Lostrennung von den Kotyledonen) ab und gelangt in den unter den Bäumen vorhandenen Schlamm, in welchem sich das Wurzelende schnell weiterentwickelt. Häufig fallen aber auch die Keimlinge in das Wasser und werden von demselben wegen ihrer lufthaltigen Intercellularräume fortgetragen, bis sie die Brandung wieder an den Strand zurückwirft, so daß auch die Weiterverbreitung der Pflanze gesichert erscheint.
Bei Rhizophora mucronata ist besonders das Verhalten des Endosperms und die abweichende Bildung des Embryos von Bedeutung. Ersteres wächst nämlich aus dem Samenknospenmund (Mikropyle) hervor, ähnlich wie bei Rhizophora Mangle nach Warming, ohne jedoch eine arillusartige Wucherung zu bilden, und bahnt dadurch dem auskeimenden Embryo den Weg; sein hypokotyles Ende verlängert sich, wächst in das Endosperm hinein und durchbohrt dasselbe, wodurch es in die Fruchtknotenhöhle gelangt.
Der Embryo besitzt an Stelle der vier Keimblätter von Bruguiera einen anscheinend soliden Keimblattkörper (Kotyledonarkörper), der jedoch eine mittlere, sehr enge Spalte mit dicht sich berührenden Rändern und im Grunde derselben die Stammknospe aufweist. Das keulenförmige Wurzelende des Keimlings durchbricht dann den stehen gebliebenen untern, ebenfalls weiter ausgewachsenen Teil des Griffels, und sein hypokotyles Glied [* 7] löst sich zuletzt von dem Keimblattkörper ab, worauf das weitere Schicksal des Keimlings dem von Bruguiera ähnlich verläuft.
Auch bei Aegiceras majus, einer strandbewohnenden, strauchartigen Myrsinee mit ziegenhornähnlich gekrümmten Früchten, beobachtete Göbel Viviparie, welche insofern von der bei Rhizophora abweicht, als hier die Frucht, solange sie am Strauche festsitzt, vom Keimling nicht durchbohrt wird. Letzterer wächst aber innerhalb der Frucht zu ganz bedeutender Größe heran und füllt deren Innenraum aus, während der Same klein bleibt. Die Frucht fällt dann mit dem von ihr umschlossenen Keimling ab, schwimmt auf dem Wasser und vermittelt dadurch die Verbreitung.
Endlich kommt auch bei Avicennia officinalis, einer strandbewohnenden Verbenacee, ein normales Lebendiggebären vor; auch bei dieser wächst nach Treub das Endosperm aus dem Samenknospenmund hervor, führt aber dabei den Embryo mit sich, der einen nur wenig entwickelten hypokotylen Teil hat und im Endosperm wie in einer Tasche steckt, während die beiden elliptischen Keimblätter aus jenem hervorragen. Schließlich fallen die Embryos in völlig nacktem Zustand aus der geöffneten Frucht heraus und befestigen sich an ihrem untern Ende mittels eines Kranzes von Nebenwurzeln.
Nach diesen
Beobachtungen ist es unzweifelhaft, daß bei den in
Rede stehenden
Pflanzen normale und bis auf die Embryonalzustände
zurückgreifende biologische Einrichtungen vorhanden sind, welche die merkwürdige Art des Aussäens von entwickelten Keimpflanzen
an
Stelle von
Samen
[* 8] herbeiführen.
Letztere steht in deutlicher Abhängigkeit von den besondern Verhältnissen der tropischen
Strandvegetation, welche eine gesicherte Verbreitung und eine möglichst schnelle
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mehr
Befestigung der Keimpflanzen
in dem Schlammboden erfordert, da ohne derartige Einrichtungen leicht ein Umfallen oder
Weggespültwerden jener eintreten könnte, eine teleologische Voraussetzung, welche natürlich das Zustandekommen dieser
Bildungen selbst nicht erklärt. Übrigens finden sich auch bei einigen nicht lebendigge
bärenden Pflanzen Formen der Samenentwickelung,
welche auf die Viviparie ein Licht
[* 10] werfen. So entbehren z. B. die großen Samen einer auf sumpfigem Strandboden
Ceylons wachsenden Amaryllidee (Crinum asiaticum) eine harte, feste Samenschale und werden nur von einer dünnen, grauen Haut
[* 11] umzogen; ihrer Hauptmasse nach bestehen sie nur aus dem Endosperm und schwimmen vermöge ihres Luftgehalts auf dem Wasser,
was die Verbreitung erleichtert; indem die ursprünglich vorhandene, schwammige Fruchtschale unter Wasser
verwittert, gelangen sie ins Freie. Noch merkwürdigere Schwimmeinrichtungen finden sich bei der Nymphäacee Euryale ferox, deren
Samen mittels eines lufthaltigen Mantels (Arillus) zu schwimmen vermögen und nach Entfernung desselben sofort zu Boden sinken.
Auch die Kokospalme und die strandbewohnende, niederliegende Barringtonia speciosa (Myrtacee) besitzen eine hierher gehörige Einrichtung, indem sich die Wurzeln ihres Keimlings zunächst innerhalb einer Faserschicht der Fruchtwand entwickeln; dieselbe ermöglicht durch ihr schwammiges Gewebe [* 12] zugleich das Schwimmen der Frucht und ihre Verbreitung durch Meeresströmungen. [* 13] Das Wurzelsystem ist bei diesen Pflanzen schon erstarkt, ehe es die Frucht durchbricht, und kann daher den Keimling rascher befestigen; auch ist durch außerordentlich reichliche Anhäufung von Reservestoffen für dessen schnelle Ernährung gesorgt.
Vielleicht verhält sich die an vielen Stellen des tropischen Asien [* 14] bis nach Neuguinea und Nordaustralien verbreitete Palme [* 15] Nipa frutescens ähnlich, deren Früchte nach Blumes alter Angabe so lange am Kolben stehen bleiben sollen, bis das Salzwasser der Keimung nichts mehr schaden kann. Ein der Viviparie verwandter Vorgang findet sich auch bei einzelnen Kryptogamen, die feuchte Strandorte bewohnen (Hymenophylleen sowie einige Lebermoose), und deren Sporen regelmäßig noch innerhalb des Sporangiums die ersten Keimungsstadien zurücklegen.
Dagegen ist das besonders bei Gräsern vorkommende, abnorme Durchwachsen der Blüte
[* 16] durch einen blatttragenden,
später abfallenden und sich bewurzelnden, kleinen Sproß als vegetative Viviparie zu betrachten. Den stärksten Gegensatz zu
den lebendigge
bärenden Pflanzen stellen solche Gewächse dar, deren Embryos bei der Ausstreuung der Samen noch ganz unentwickelt
sind und nur aus einer oder wenigen Zellen bestehen, wie es bei einer Reihe unsrer einheimischen Frühlingspflanzen
(Eranthis hiemalis, Ranunculus Ficaria, Corydalis cava) der Fall ist. Die Weiterentwickelung erfolgt dann an den unreifen Samen
innerhalb des Erdbodens. Bei der Konifere Gingko biloba tritt sogar die Befruchtung
[* 17] erst in der abgefallenen Samenknospe ein.
Vgl. Göbel, Pflanzen
biologische Schilderungen (1. Teil, Marburg
[* 18] 1889).