Laotse
(auch Laokiün), gewöhnlicher Name des chines. Weisen Lipeyang, eines ältern Zeitgenossen des Konfutse, soll im 6. Jahrh. v. Chr. in einem Dorf der jetzigen Provinz Honan geboren, später als Reichsgeschichtschreiber am kaiserlichen Hof [* 2] angestellt gewesen sein, sich aber in höherm Alter in die Einsamkeit zurückgezogen und fortan ganz seinen philosophischen Spekulationen gelebt haben. Das Ergebnis derselben hat er in seinem tiefsinnigen und schwierigen Werk »Taoteh-king« (etwa s. v. w. »Kanon vom Logos und der Tugend«, hrsg. mit franz. Übersetzung von Stan. Julien, Par. 1842; engl. von Chalmers, Lond. 1868; deutsch von Viktor v. Strauß, [* 3] Leipz. 1870, und von R. v. Plänckner, das. 1870) niedergelegt.
Seine Lehre [* 4] setzt ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel in das Tao (Weg, Vernunft, Logos). Mit diesem Namen bezeichnet er das höchste Wesen, welches Urgrund der physischen wie der moralischen Welt ist. Der Mensch soll mit Hilfe des Tao streben, sich ins Tao zu versenken, es begreifen, um in ihm zu wandeln und am Ende zu ihm zurückzukehren; alle wahre Tugend beruht nur in jenem Einssein mit dem Tao, im Sein, nicht im Thun des Menschen, und das Thun ist nur dann wahrhaft tugendhaft, wenn es der durch das Tao geläuterten sittlichen Natur selbst entspringt, nicht, wenn es durch äußere Ordnungen anerzogen wurde.
Daß Laotse
den
Tao-Begriff von Frühern überkommen und nur selbständig weiter entwickelt habe, ist wahrscheinlich; daß er
aber dabei von vorderasiatischen Religionsanschauungen beeinflußt gewesen sei, ist kaum denkbar.
Sicher ist, daß die übrigens
noch nicht hinreichend bekannte
Sekte der
Taosse mit ihren magisch-alchimistischen Phantastereien nicht
als Nachfolgerin des
Weisen, wie sie sich zu nennen liebt, gelten kann; sie verehrt ihn, ohne ihn zu verstehen. Im scharfen
Gegensatz zu dem staatsmännischen, konservativen, überall die altvererbte äußere
Ordnung und die
Grundsätze der
Autorität
und
Pietät verfechtenden
Konfutse setzt Laotse
den einzelnen
Menschen als Selbstzweck und will die Vervollkommnung
der Menschheit nicht durch äußere staatliche oder gesellschaftliche
Satzungen, sondern durch läuternde Selbstverinnerlichung
des
Individuums erzielen.
Mehr als die
Achtung vor den besondern Pflichtverhältnissen, in welchen
Staat,
Gesellschaft und
Familie ihren
Grund und Halt finden,
gilt ihm eine allgemeine Menschenliebe, die selbst Kränkungen mit Wohlthaten erwidert. Die
Taosse, jetzt,
soviel bekannt, arg herabgekommen und von der
Mehrzahl ihrer Landsleute gering geschätzt, haben aus ihrer frühern Zeit mehrere
sehr bedeutende und auch von Andersgläubigen hochgeachtete Schriftsteller aufzuweisen und mehr als einmal an den kaiserlichen
Höfen in
Gunst gestanden. Was sie von Laotse
angenommen haben, eine reine, nur von ihnen vielfach ins
Kleinliche gezogene
Sittenlehre,
Neigung zur Beschaulichkeit und
Askese, das mag sie indischen Einflüssen zugänglich gemacht
haben, deren Nachwirkung in dem heutigen
Leben der
Sekte, in ihrem
Mönchs- und
Klosterwesen wie in einzelnen ihrer religiösen
Anschauungen unverkennbar ist.
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