Lähmung
(Akinesis, Paralysis), in der
Medizin derjenige Zustand, bei dem die Muskelthätigkeit durch Erkrankung der
Muskeln
[* 2] selbst (sog. myopathische Lähmung
) oder der sie beherrschenden
Nerven
[* 3] (sog. neuropathische Lähmung
) geschwächt oder vernichtet ist. Die Lähmung kommt
zu stande, indem entweder die Nervencentralorgane
(Gehirn
[* 4] und Rückenmark) einen
Teil ihrer Thätigkeit eingestellt haben (centrale
Lähmung
), oder indem die Nervenleitung zu dem
Muskel unterbrochen oder die
Muskeln selbst erkrankt sind (peripherische Lähmung
). Die
centrale Lähmung
kann verschiedener Art sein.
Dieselbe kann schon dadurch gegeben sein, daß der Willensimpuls zu den
Bewegungen fehlt (so bei Geisteskranken,
Hysterischen),
oder daß das
Centralorgan für die Reflexbewegungen vernichtet ist, ohne daß die betreffenden Krankheitsherde selbst eine
sichtbare
Veränderung darböten; oder es können anatomisch nachweisbare Zerstörungen im
Gehirn oder
Rückenmark die
Ursache der centralen Lähmung
sein, so mangelhafte
Ernährung,
Blutungen im
Gehirn (Hirnschlag),
Entzündungen
u. dgl.
Die centrale Lähmung
ist entweder eine cerebrale, wenn der Sitz der lähmenden
Ursache im
Gehirn ist, oder eine spinale, wenn die
Lähmung
ihren Ausgangspunkt im Rückenmark hat.
Bei den peripherischen Lähmung
ist, sofern sie nicht auf Erkrankung
der
Muskeln beruhen, entweder der
Nerv in seinem Verlauf unterbrochen (zerschnitten, gequetscht, durch Neubildungen oder
Entzündungen
zerstört u. s. w.) oder in seiner molekularen Zusammensetzung durch fettige Entartung,
Atrophie,
Erweichung u. s. w. verändert.
Die Lähmung
ist entweder vollständig (Paralysis) oder unvollständig (Parese), in welch letzterm Falle nur eine
Schwäche oder Funktionsstörung des befallenen Organs vorhanden ist. Die Lähmung
betrifft entweder den ganzen Körper
mit Einschluß selbst des
Gehirns (allgemeine
Paralyse), oder nur einen
Teil (partielle
Paralyse), und wird dann, je nachdem
sie einzelne Körperteile befällt, verschieden benannt: Hemiplegie (halbseitige Lähmung
), bei Lähmung einer
Körperseite,
Paraplegie (Querlähmung
), bei Lähmung
der untern Körperhälfte, Paralysis cruciata (gekreuzte
Lähmung
), wenn einzelne
Teile beider Körperhälften abwechselnd (z. B. rechte Gesichtshälfte, linker
Arm und linkes
Bein) betroffen
sind. Bisweilen geht die Lähmung
mit einem unaufhörlichen unwillkürlichen Bewegen des kranken
Gliedes einher,
d. i. die sog. Zitter-
oder Schüttellähmung
(Paralysis agitans), welche namentlich alte Leute befällt. Die Lähmung
, welche
häufig mit
Anästhesie (s. d.) verbunden vorkommen, sind um so ausgedehnter, je näher
sich der verletzte
Nerv den Centren befindet, je mehr
¶
mehr
einzelne Muskeln versorgende Fasern er an dieser Stelle enthält. Eine Blutung im Gehirn lähmt eine ganze Körperseite; eine in der Breite [* 6] ausgedehnte Verletzung des Rückenmarks lähmt alle abwärts von dieser Stelle gelegenen Teile, während eine Zerschneidung eines Nerven etwa an der Handwurzel nur die Lähmung einiger Finger zur Folge hat. Sind Empfindungsnerven in ihrer Thätigkeit beeinträchtigt, welche bei Gesunden die Reflexbewegungen vermitteln, so spricht man von einer Reflexlähmung. Häufig werden infolge der gleichzeitig vorhandenen Anästhesie in den gelähmten Gliedern mancherlei abnorme Gefühlseindrücke (Ameisenkriechen, Taub- und Pelzigsein, Gefühl des Einschlafens u. a.) empfunden.
Die Ursachen sind sehr mannigfaltig. Die centralen Lähmung entstehen bei Zerstörung des Gehirns und Rückenmarks infolge von Zertrennung derselben (Bluterguß, Erschütterungen, Entzündungen ihrer selbst oder ihrer Häute, Druck auf dieselben durch Geschwülste u. s. w.), während die peripherischen Lähmung die oben aufgeführten Ursachen haben. Allgemeine Lähmung besonderer Art treten noch auf bei gewissen Vergiftungen, so bei Bleivergiftung, bei Vergiftungen mit gewissen Alkaloiden (Curare, Nikotin, Blausäure, Ergotin u. s. w.), bei Malariakrankheit, bei Syphilis, nach Rheumatismen u. s. w. Bei Geisteskranken wird öfters eine eigentümliche, allmählich sich über den ganzen Körper ausbreitende und mit Blödsinn verbundene Lähmung beobachtet, welche fast immer zum Tode führt; das ist die sog. Dementia paralytica. (s. Progressive Paralyse der Irren). Eine nicht minder bedenkliche Lähmung ist die sog. Bulbärparalyse (s. d.).
Eine eigenartige Form der Lähmung ist ferner die sog. Kinderlähmung oder essentielle Lähmung (Poliomyelitis anterior acuta), bei welcher in den ersten Lebensjahren ganz plötzlich unter hohem Fieber, Delirien, Krämpfen und andern Hirnerscheinungen vollständige Lähmung der beiden untern Extremitäten eintreten, welche weiterhin zu fettiger Entartung und Schwund der Muskulatur und zu mannigfachen dauernden Verkrümmungen der Fußgelenke führen. Das Wesen dieser merkwürdigen Krankheit, deren eigentliche Ursachen noch ganz unbekannt sind, besteht in einer herdweise auftretenden Entzündung der vordern grauen Hörner des Rückenmarks, aus denen die Bewegungsnerven entspringen.
Eine ähnliche Krankheit kommt übrigens auch mitunter bei Erwachsenen als sog. akute atrophische Spinallähmung vor. Verschieden hiervon ist die sog. akute aufsteigende Spinallähmung oder Landrysche Paralyse, bei welcher sich in rapider Weise unter Fieber und reißenden Schmerzen eine an den untern Extremitäten beginnende, rasch bis zu den obern Extremitäten aufsteigende motorische Paralyse entwickelt, während die Sensibilität sowie Funktionen der Blase und des Mastdarms normal bleiben.
Die Krankheit befällt vorwiegend junge kräftige Männer von 20-35 Jahren und verläuft in vielen Fällen tödlich. Ausgebreitete Lähmung der untern, später auch der obern Extremitäten sowie der Blase und des Mastdarms finden sich weiterhin bei der Rückenmarksschwindsucht (s. d.), wo sie ihren Grund in der atrophischen Entartung der hintern Rückenmarksstränge und der hintern Nervenwurzeln haben. In naher Beziehung Zu dieser Rückenmarkskrankheit steht die zuerst 1875 von Erb, später von Charcot beschriebene spastische Spinalparalyse oder primäre Seitenstrangsklerose (Tabes dorsal spasmodique), eine eigentümliche Lähmungsform, welche vorwiegend die Beine befällt und sich dadurch auszeichnet, daß in den gelähmten Muskeln infolge einer Steigerung der Sehnenreflexe bei jedem Versuche einer aktiven oder passiven Bewegung reflektorische Muskelspannungen eintreten, welche der beabsichtigten Bewegung einen oft kaum zu überwindenden Widerstand entgegensetzen. Die gelähmten Beine sind oft steif wie zwei unnachgiebige Stöcke, wodurch die Kranken einen höchst eigentümlichen (spastisch-paretischen) Gang [* 7] darbieten.
Die Behandlung der Lähmung erfordert zunächst vor allem eine genaue und sorgfältige Erforschung der Grundursache; von den einzelnen Heilmitteln haben sich die Anwendung des elektrischen, insbesondere galvanischen Stroms auf die gelähmten Teile, die methodische Vornahme gymnastischer Manipulationen (Frottieren, Massieren, Heilgymnastik), der Gebrauch gewisser Bäder, zumal der indifferenten Thermen (Wildbad, Gastein, Teplitz, Wiesbaden, [* 8] Warmbrunn u. a.) sowie die innerliche oder subkutane Anwendung des Strychnins und Brucins am meisten bewährt. In geeigneten Fällen von Lähmung, z. B. bei Durchtrennungen der Nerven, bei Drucklähmungen u. s. w., ist die operative Behandlung indiziert. Durch Nahtvereinigung der durchtrennten Nerven (Nervennaht, s. d.) hat man sehr befriedigende, zum Teil überraschende Heilungen der Lähmung erzielt. Alle gelähmten Teile müssen übrigens vor äußern Schädlichkeiten sorgsam geschützt und durch zweckmäßige Lagerung, spirituöse Einreibungen und geeignete Schutzverbände vor dem brandigen Aufliegen (s. d.) behütet werden. -
Vgl. Erb, Handbuch der Krankheiten der peripheren cerebrospinalen Nerven (2. Aufl., Lpz. 1876);
Eulenburg, Lehrbuch der Nervenkrankheiten (2. Aufl., Berl. 1878).