Titel
Kurland
,
[* 2] die südlichste der
Ostseeprovinzen Rußlands (s.
Karte
»Livland,
Esthland und Kurland«
),
besteht aus dem eigentlichen
Kurland
(Herzogtum Kurland
), dem Herzogtum
Semgallen, dem alten
Bistum
Pilten und dem
Bezirk von
Polangen, grenzt im N. an
Livland und an den
Rigaischen
Meerbusen, im O. an das
Gouvernement
Witebsk, im
W. an die
Ostsee, im
S. und
SW. an
Wilna,
[* 3]
Kowno und
Preußen
[* 4] und hat ein
Areal von 27,286 qkm (495,5 QM.). Vom
Areal sind 25 Proz. Ackerland, 30 Proz.
Wiesen, 33 Proz.
Wald und 12 Proz. Unland. Der
Boden ist im allgemeinen fruchtbar, meist lehmig, stellenweise auch sandig.
Die nördlichste
Spitze läuft in das weit hervorragende
Kap
Domesnäs aus. Die
Küsten leiden sehr durch
Flugsand, gegen dessen
immer weiter greifende Verheerungen seit 1835 verschiedene
Arbeiten ausgeführt worden sind. Kurland
wird in mehreren
Richtungen
von flachen Höhenzügen (70-130 m hoch), die von S. her, aus
Litauen, kommen, durchschnitten. Der bedeutendste
dieser Höhenzüge ist der die
Wasserscheide zwischen
Düna und
Aa bildende, das sogen.
Kurische Oberland, das sich am linken
Ufer der
Düna von Warnowiz über Illux und
Jakobstadt bis Baldohn hinzieht.
Ein andrer, vom erstern durch die Mitauische Tiefebene getrennt, liegt an beiden Ufern der Windau und verzweigt sich in die Höhen von Zabeln, Tuckum, Kandau, Talsen (die sogen. Kurische Schweiz) [* 5] und die Blauen Berge, die sich bis zum Kap Domesnäs hinziehen. Die 340 km lange, meist flache Seeküste bildet fast gar keine Busen; die einzigen Punkte, wo Schiffe [* 6] landen können, sind Libau, [* 7] Windau und Polangen. Parallel [* 8] der Küste laufen, meist in drei Reihen, lange Sandbänke, welche sich oft 10-15 km ins Meer ¶
mehr
hinein erstrecken und der Schiffahrt sehr hinderlich sind. In geognostischer Hinsicht gehört Kurland
der devonischen Formation
an. Die untern Schichten bestehen aus Sandstein (oft Höhlen bildend, wie die Davidhöhle bei Dondangen) mit versteinerten Fischüberresten,
die obern aus Mergel und Kalkstein mit sehr viel versteinerten Muscheln.
[* 10] Die Juraformation
[* 11] findet sich am
untern Lauf der Aa und Windau. Die ältern Schichten sind oft nur von einer ganz dünnen Ackerkrume, an andern Stellen wieder von
einer bis fast 20 m hohen Schicht Schwemmland und Gerölle bedeckt, welche viele silurische Versteinerungen enthält.
Erratische Blöcke finden sich überall zerstreut. Die bedeutendsten Flüsse [* 12] sind: die Kurische Aa, die Windau und die Düna, welche Grenzfluß gegen Witebsk und Livland ist. Von Kanälen sind nennenswert: der Jakobskanal bei Mitau, [* 13] nach dem Frieden von Oliva zwischen 1660-81 angelegt, verbindet die Schwite mit der Drixe bei Mitau;
der Libausche Kanal, [* 14] verbindet den gleichnamigen See mit der Ostsee und bildet zugleich einen Hafen, und der Windaukanal, welcher die Flüsse Windau und Dubissa verbindet.
Die bedeutenden der sehr zahlreichen Seen sind: der Libausche (40 qkm), der Usmaitensche (42
qkm) und der Papensee (18 qkm). Von den Mineralquellen Kurlands
sind die schwefelhaltigen bei Baldohn und Barbern und die
eisenhaltigen bei Buschhoff und Dondangen am bekanntesten. Das Klima
[* 15] ist gesund, aber veränderlich und
oft nebelig. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt in Mitau +5,8° C.; im kältesten Monat (Januar) -13° C., im wärmsten
(Juli) +22° C. Die Zahl der Regentage beläuft sich auf 145, mit einem Niederschlag von 52,5 cm.
Die Bevölkerung [* 16] ist (1882) 642,570 (24 Einw. pro QKilometer), darunter sind 74 Proz. Protestanten, 18 Proz. Griechisch- und Römisch-Katholische und ca. 8 Proz. Juden. Der Nationalität nach sind am meisten die Letten vertreten, welche die Klasse der Bauern bilden. Dem Deutschtum gehört der Adel und ein großer Teil der städtischen Bevölkerung an, 8,2 Proz.; Russen sind mit 1,7, Polen und Litauer mit 1 Proz. vertreten. Die lutherische Kirche steht unter einem Provinzialkonsistorium, das seinen Sitz in Mitau hat.
Die Zahl der Eheschließungen war 1885: 5064, der Gebornen 19,705, der Gestorbenen 13,358. Die fast einzige Beschäftigung der Einwohner bildet der Ackerbau. Man baut Roggen, Hafer, [* 17] Weizen, Gerste, [* 18] Turnips und Futterkräuter, weniger Kartoffeln, Lein, Hanf und Buchweizen. Die Ernte [* 19] war 1884 pro Hektar der betreffenden Ackerfläche bei Roggen 14,2, bei Winterweizen 15,6, bei Sommerweizen 9,6, bei Hafer 14,5, bei Gerste 15,1, bei Kartoffeln 120,9 hl. Das Obst gedeiht vorzüglich, ebenso auch Gemüse.
Die Viehzucht [* 20] hebt sich von Jahr zu Jahr, namentlich was Veredelung der Rassen betrifft. 1883 betrug der Viehbestand: 173,530 Stück Hornvieh, 165,788 Schafe, [* 21] 86,835 Schweine [* 22] und 122,692 Pferde. [* 23] Im nördlichen und östlichen Teil ist Nadelwald vorherrschend, während der südliche und westliche Teil reicher an Laubwald ist. Von den Wäldern gehört fast die Hälfte der Krone. Die Jagd wird gepflegt; Bären kommen selten vor, häufiger wilde Schweine, Elentiere und Wölfe, allgemein Rehe, Füchse, Hasen, verschiedene wilde Hühner [* 24] und Schnepfen.
Das Mineralreich liefert Gips, [* 25] Lehm, Kalk, Torf, Bernstein, [* 26] namentlich beim Angarnschen See und am Meeresstrand, Sandstein, Mergel, Sumpfeisen und Braunkohle. Die Industrie ist, mit Ausnahme der Branntweinbrennerei, die jedoch im Rückgang begriffen ist (Zahl der Brennereien seit 1864 von 180 auf 89 gesunken), nicht von Belang. Ansehnlich sind Draht- und Blechfabrikation, Mahl- u. Sägemühlen, Bierbrauerei, [* 27] Fabrikation von Leder, Tabak, [* 28] Hefe, [* 29] mechanischen Werkzeugen, Lichten und Glas, [* 30] Ziegeleien, Ölschlägereien und Färbereien.
Der gesamte Produktionswert wird (1885) auf 13,2 Mill. Rubel angegeben. Der Handel, namentlich über Libau,
nimmt bedeutenden Aufschwung. Die Ausfuhr besteht hauptsächlich in Spiritus
[* 31] (1884: 57 Mill. Grad), Getreide,
[* 32] Lein, Häuten und
Holz,
[* 33] die Einfuhr in Manufaktur- und Kolonialwaren, Wein, Salz
[* 34] und Früchten. Der Landhandel ist in den Händen der Juden. Die Petersburg-Warschauer
Eisenbahn durchschneidet die äußerste südöstliche Ecke des Gouvernements; außerdem führt längs der
nördlichen Grenze eine Bahn von Dünaburg nach Riga,
[* 35] welche Stadt wiederum über Mitau mit Libau und Kowno durch Bahnen verbunden
ist. An Schulen hat Kurland
(1885) 3 klassische Gymnasien mit 1857 Schülern, 5 höhere Bildungsanstalten für die weibliche Jugend, 2 Realschulen, 24 Kreisschulen,
Kleinkinderbewahranstalten und Waisenhausschulen, 2 Stadtschulen, 136 Privatlehranstalten, 418 Elementarschulen, 3 Taubstummenschulen, 5 Navigationsschulen,
ein Volkslehrerseminar, eine Ackerbauschule.
Die Zahl aller Lernenden beträgt 44,029, darunter 17,310 weiblichen Geschlechts. Auf dem Land kommt auf 1290 Menschen eine
Schule und auf 15 Einw. ein Schüler. Kurland
wird von einem Gouverneur verwaltet, der nach der Aufhebung des
Generalgouvernements der Ostseeprovinzen (1876) unter dem Ministerium des Innern steht. In militärischer Hinsicht ist Kurland
nach
wie vor dem Generalgouvernement von Wilna unterworfen. Das Gouvernement wird in zehn Kreise
[* 36] geteilt: Bauske, Friedrichstadt, Goldingen,
Grobin, Hasenpoth, Jeletz, Mitau, Talsen, Tuckum und Windau.
Bis jetzt hat sich noch seine eigne gerichtliche Organisation erhalten sowie seine Landtage und Kreisstände und die Einteilung in fünf den Kreisen entsprechende Oberhauptmannschaften, von denen jede in zwei Hauptmannschaften zerfällt.
Vgl. Possart, Statistik und Geographie des Gouvernements Kurland
(Stuttg. 1843);
v. Heyking, Statistische Studien über Kurland
(Mitau 1862);
»Archiv für Naturkunde Liv-, Esth- und Kurlands«
(Dorpat,
[* 37] seit 1854);
»Statistisches Jahrbuch für Kurland«
(1881-85).
[Geschichte.]
Seit den frühsten Zeiten war Kurland
von Kuren und Wenden (lettisch-litauischen Stammes) bewohnt, kam 1245 an Livland
und teilte mit diesem bis ins 16. Jahrh. alle Schicksale (s. Livland). 1561 wurde der letzte Ordensmeister der Schwertritter,
Gotthard Ketteler, als Herzog mit Kurland
und Semgallen von dem König von Polen, Siegmund August, belehnt. Die lutherische
Lehre,
[* 38] 1526-56 in Kurland
eingeführt, wurde von Herzog Gotthard zur alleinigen Landesreligion erhoben und 1570 eine Kirchenordnung
gegeben. 1587 folgten Gotthards Söhne Friedrich und Wilhelm und herrschten gemeinsam, indem sie nur die Güter und Schlösser
behufs Erhebung der Einkünfte teilten.
Wilhelm, eine lebhafte, gewaltsame Natur, geriet wegen des Stifts Pilten mit den Brüdern Nolde, welche die polnische Lehnshoheit an Stelle der herzoglichen setzen wollten, in Zwist, ließ seine Gegner ermorden, wurde dann aber auf Betreiben des unzufriedenen Adels 1616 abgesetzt. Friedrich, der 1617 in der sogen. Regimentsformel eine neue Verfassung für Kurland gab, regierte seitdem allein. Als er 1642 kinderlos starb, folgte sein Neffe Jakob. Dieser suchte während der Kriege Polens mit Rußland und dann mit Schweden [* 39] ¶
mehr
Neutralität zu beobachten und eine vermittelnde Stellung, wie Preußens [* 41] Großer Kurfürst, einzunehmen; doch Karl X. von Schweden achtete nicht die anfangs zugesicherte Neutralität, besetzte 1658 Kurland und ließ den Herzog gefangen abführen. Erst der Friede von Oliva (1660) gab diesem die Freiheit und sein Land zurück, das 1661 endlich durch das Stift Pilten vergrößert wurde. Durch den Krieg war der Wohlstand Kurlands arg geschädigt worden; der Herzog suchte ihn nun durch Förderung des Handels, selbst nach Westindien [* 42] hin, und durch Anlage zahlreicher Fabriken zu heben.
Hierin eiferte ihm sein Sohn Friedrich Kasimir (1682-98) nach, doch gingen die Vorteile seiner Handelspolitik durch eine verschwenderische Hofhaltung meist verloren. Unter dessen Sohn Friedrich Wilhelm (1698-1711), der minderjährig unter der Vormundschaft seines Oheims Ferdinand und seiner Mutter regierte, hatte das Land während des Nordischen Kriegs infolge der Invasion der Schweden (1700-1703, 1704-1709) viel zu leiden und wurde sogar von einem schwedischen Statthalter verwaltet.
Der junge Herzog, der inzwischen in Deutschland [* 43] erzogen wurde, hatte kaum sein Land zurückerhalten, als er 1711 unmittelbar nach seiner Vermählung mit der russischen Prinzessin Anna Iwanowna starb. Die verwitwete Herzogin Anna nahm unter dem Schutz ihres Oheims, Peters d. Gr., ihren Witwensitz zu Mitau. Ihres Gemahls Oheim, Herzog Ferdinand, trat zwar die Regierung an, lebte aber fortwährend im Ausland. Als die herzogliche Kammer ein verpfändetes Gut einziehen wollte und dabei der Pfandinhaber, Oberst v. Fircks, erschossen wurde, beschwerte sich der Adel in Warschau, [* 44] und der polnische Oberlehnshof ordnete eine Landesverwaltung an, deren Endzweck war, Kurland nach dem Tode des kinderlosen Ferdinand als ein eröffnetes Lehen förmlich mit Polen zu vereinigen.
Dies zu verhindern, erwählten die kurländischen Stände 1726 den natürlichen Sohn des Königs von Polen, den Marschall Grafen Moritz von Sachsen, [* 45] zum Herzog. Doch blieb diese Wahl, weil Rußland und Polen sich dagegen erklärten, ohne Wirkung. Auf dem Reichstag zu Grodno wurde die Vereinigung Kurlands mit Polen, sobald Ferdinand gestorben sei, von neuem dekretiert; doch Rußland wollte in die Einverleibung nicht willigen. August II. von Polen ließ sich endlich dazu herbei, Ferdinand mit Kurland zu belehnen (1731); da aber dieser im Ausland bleiben wollte, ward durch diesen Ausweg nichts gebessert.
Als er 1737 starb und mit ihm das herzogliche Haus erlosch, setzte die Herzogin Anna, die inzwischen den russischen Thron [* 46] bestiegen hatte, mit Zustimmung Augusts III., der ihr die polnische Krone verdankte, die Wahl ihres Günstlings, des Grafen Ernst Johann von Biron, seitens der kurländischen Stände zum Herzog durch. Doch dieser blieb in Petersburg [* 47] und wurde nach dem Tod seiner Beschützerin (1740) während der Regierung des minderjährigen Kaisers Iwan, für welchen er die Regentschaft führte, von Münnich verhaftet und von der Mutter Iwans, der zur Regentin erhobenen Anna Leopoldowna, nach Sibirien verbannt.
Die Stände wählten darauf den Prinzen Karl von Sachsen 1758 zum Herzog, zu dessen gunsten die Kaiserin allen Forderungen an Kurland entsagte. Nach der Thronbesteigung Peters III. erhielt indessen Biron seine Freiheit wieder, und als Katharina II. zur Regierung gekommen war, wurde er von derselben wieder als Herzog von Kurland eingesetzt; Karl mußte 1763 weichen, und Biron wurde von Polen mit Kurland belehnt. Das Jahr 1768 brachte dem Land eine neue Konstitution, welche von den Mächten Nordeuropas garantiert und 1774 erneuert wurde.
Biron starb 1772, nachdem er schon 1769 die Regierung an seinen Erbprinzen Peter abgetreten hatte. Im Land selbst waren die Zerwürfnisse zwischen Adel und Bürgerstand, das Mißtrauen gegen den Herzog nicht zu beseitigen; abwechselnd suchte man bald in Petersburg, bald in Warschau Schutz. Am beschloß der kurländische Landtag, Kurland dem russischen Zepter zu unterwerfen. Dieser Beschluß ward dem Herzog zur Bestätigung mitgeteilt und von demselben 28. März zu Petersburg, gegen eine Pension für sich und seine Töchter, in einer besondern Abtretungsurkunde genehmigt.
Auf diese Weise wurde Kurland eine russische Provinz. Die Lage des Bauernstandes wurde durch Aufhebung der Leibeigenschaft verbessert (1817); der Adel behielt einige Privilegien, doch wurde 1835 das russische Gesetzbuch (swod) eingeführt. Ein kaiserlicher Ukas empfahl 1850 den Behörden die Anwendung der russischen Sprache [* 48] statt der deutschen in offiziellen Schriften, wird aber erst seit 1867 streng durchgeführt. Damit macht die Regierung der nationalen Partei in Rußland, welche mit ihrem Haß alles deutsche Wesen verfolgt, ein Zugeständnis.
Vgl. Kruse, Geschichte Kurlands unter den Herzögen (Riga 1833-37, 2 Bde.);
»Geschichtliche Übersicht der Grundlagen und der Entwickelung des Provinzialrechts in den Ostseegouvernements« (1845, offiziell);
Schwartz, Kurland im 13. Jahrhundert bis zum Regierungsantritt Bischofs Edmund v. Werd (Leipz. 1875);
»Liv-, esth- und kurländisches Urkundenbuch« (Riga 1852-84, Bd. 1-8).