Kulturgesc
hichte,
die Geschichte des innern Lebens der Menschheit in seiner natürlichen Entwickelung sowohl nach der materiellen als besonders nach der geistigen Seite, im Gegensatz zu der früher schlechthin als Weltgeschichte bezeichneten politischen oder Staatengeschichte, ein jüngerer, aber in neuerer Zeit mit besonderer Vorliebe gepflegter Zweig der allgemeinen Geschichtschreibung. Man hatte früher allzusehr den Einfluß einzelner Persönlichkeiten auf die Geschicke der Völker und selbst der Gestaltung des intimen Lebens derselben in den Vordergrund gestellt, eine sehr natürliche Erscheinung, wenn man bedenkt, daß ehemals die Fürsten und Machthaber nicht nur häufig selbst (wie z. B. Julius Cäsar) die Geschichte ihrer Thaten geschrieben haben, sondern auch stets einen bedeutenden Einfluß auf die Geschichtschreibung behielten, indem sie dieselbe von besoldeten Staatshistoriographen besorgen ließen.
Diese Art der Geschichtschreibung schlägt aber naturgemäß den Einfluß der einzelnen Persönlichkeit auf die Geschichte der Völker zu hoch an, sie vergißt, daß auch die leitende Persönlichkeit mehr oder weniger nur ein Kind ihrer Zeit zu sein pflegt, sie artet gar leicht in Heroenkultus oder Parteilichkeit aus und vernachlässigt das Studium der Völker nach ihrem allgemeinen sozialen und geistigen Zustand, als ob es sich bei ihnen um willenlose, nach jeder Richtung lenkbare Massen handelte, deren Auge [* 2] und Verstand in der Regierung allein verkörpert wären, und denen fast jede Individualität abginge. Obwohl für eine solche Auffassung der Geschichte in den Anfängen der Kultur eine gewisse Berechtigung liegen mag, sofern wirklich die meisten Völker mit Zuständen in die Geschichte eintraten, in denen sie von einzelnen begabten Personen gelenkt und einer höhern Kultur entgegengeführt werden mußten, so zeigt sich die Schwäche der erstern Art von Geschichtschreibung sogleich in der Schilderung derjenigen ¶
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verdient hätte und den Poeten überlassen bleiben müßte. In späterer Zeit traten die Interessen an der religiösen, litterarischen
und rechtsgeschichtlichen Entwickelung zu der bloßen Schilderung der sittengeschichtlichen Zustände hinzu, und in dieser
Richtung haben namentlich Montesquieu, Voltaire und Gibbon im vorigen Jahrhundert der modernen Kulturgesc
hichtschreibung vorgearbeitet.
Eine erhebliche Vertiefung mit Anbahnung eines universalgeschichtlichen Standpunktes erfuhr die Geschichtschreibung
sodann durch Herder, der mit seinen »Ideen zur Geschichte der Menschheit« (1784) die neue Epoche der Geschichtschreibung einleitete,
während Heeren in seinen »Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt« (1793) namentlich
den Einfluß der Handelsbeziehungen auf die Wege der Kultur darlegte.
Das in unserm Jahrhundert mächtig geförderte Studium der Anthropologie und Ethnologie bereitete der allgemeinern Auffassung
des Problems zuerst eine wissenschaftliche Grundlage, indem sie zeigte, von welchen Zuständen man auszugehen habe, um die
untersten Kulturstufen zu begreifen. In dieser Richtung ist das Werk von H. Klemm (»Allgemeine Kulturgesc
hichte«, Leipz.
1842-53, 10 Bde.) bahnbrechend geworden. Einen fernern wichtigen
Anstoß gab sodann H. T. Buckle in seiner »Geschichte der Zivilisation in England« (zuerst 1857), in welcher der Einfluß der
natürlichen Bedingungen (Bodengestaltung, Klima
[* 4] etc.) auf die Entwickelung der Individualität der Völker in Betracht gezogen
wurde, ein Gesichtspunkt, der in dem neuen Buch von Ratzel, »Anthropogeographie« (Stuttg.
1882), ganz in den Vordergrund tritt.
Das Auftreten Darwins, die von ihm eingeleitete Zurückforderung des Menschen für die Naturgeschichte, die mit Eifer in Angriff
genommenen Studien über das Auftreten der vorhistorischen Menschen in Europa
[* 5] und andern Ländern, die damit gewonnenen Vergleichspunkte
der Menschen aller Zeiten und Zonen untereinander haben zu einer mächtigen Bewegung auf diesem Gebiet geführt, deren Ziel dahin
geht, die allgemeine Kulturgesc
hichte zu einer Entwickelungsgeschichte
[* 6] der Menschheit auszubauen, in welcher Beziehung namentlich die Schriften
von E. Tylor (»Early history of mankind«, 1870; deutsch, Leipz. 1873) und Lubbock (»The origin of civilization,
and the primitive condition of man«, 1870; deutsch, Jena
[* 7] 1875) von Einfluß gewesen sind. Casparis »Urgeschichte der Menschheit«
(2. Aufl., Leipz. 1877, 2 Bde.)
ist namentlich in psychologischer Beziehung ideenreich, dagegen behandelt Herbert Spencers »Prinzipien der Sociologie« (1. Bd.,
deutsch, Stuttg. 1877) speziell die Entstehung der Staatsformen, Sitten und Gebräuche.
Die äußersten Konsequenzen dieser naturalistischen Auffassung der Kulturgesc
hichte zieht Hellwald in seiner in ihrer natürlichen Entwickelung
bis zur Gegenwart« (3. Aufl., Augsb. 1883), worin er die Notwendigkeit der alten Priesterherrschaften, Tyrannei und Sklaverei
etc. als unvermeidlicher Durchgangsstufen der Entwickelung darstellt. Die Übergangszeit von der Vorgeschichte zur Geschichte
behandelt Lenormant in seinen »Anfängen der Kultur« (deutsch, Jena 1875, 2 Bde.). Von den fernern Werken, die teils die
Kulturgesc
hichte mehr im allgemeinen, teils besondere Abschnitte (Sittengeschichte) und Zeitepochen behandeln, seien erwähnt: W. Wachsmuth
(»Europäische Sittengeschichte«, Leipz. 1831-39, 5 Bde.,
und »Allgemeine Kulturgesc
hichte«, das.
1850-52, 3 Bde.),
G. F. Kolb ( Kulturgesc
hichte der Menschheit«, 3. Aufl.,
das. 1884, 2 Bde.),
O. Henne Am-Rhyn (»Allgemeine Kulturgeschichte«
, 2. Aufl.,
das. 1877-78, 6 Bde.; »Kulturgeschichte
des
deutschen Volkes«, Berl. 1886),
Lippert ( Kulturgeschichte
der Menschheit in ihrem organischen Aufbau«, Stuttg. 1886),
G. Hoyns (»Die alte Welt in ihrem Bildungsgang als Grundlage der Kultur der Gegenwart«, Berl. 1876),
Riehl (»Kulturstudien aus drei Jahrhunderten«, 4. Aufl., Stuttg. 1873),
H. Rückert ( Kulturgeschichte
des deutschen Volkes in der Zeit des Übergangs aus dem Heidentum in
das Christentum«, Leipz. 1853),
Joh. Scherr (»Deutsche [* 8] Kultur- und Sittengeschichte«, 8. Aufl., das. 1882),
Karl Grün ( Kulturgeschichte
des 16. Jahrhunderts«,
das. 1872),
J. J. ^[Johann Jakob] Honegger (»Grundsteine einer allgemeinen Kulturgeschichte
der neuesten
Zeit«, das. 1868-1874, 5 Bde.;
»Kritische Geschichte der französischen Kultureinflüsse in den letzten Jahrhunderten«, Berl. 1875; »Allgemeine Kulturgeschichte«
, Leipz. 1882 ff.),
Noiré (»Das Werkzeug und seine Bedeutung für die Entwickelungsgeschichte der Menschheit«, Mainz [* 9] 1880). Von ausländischen Werken sind vor allen zu nennen die des wesentlich auf dem Standpunkt Buckles stehenden Amerikaners J. W. ^[John William] Draper (»History of the intellectual development of Europe«, New York 1864, 2 Bde.; deutsch von Bartels, 3. Aufl., Leipz. 1886, und »History of the conflict between religion and science«, 1875; deutsch, Leipz. 1875) sowie Leckys »History of the rise and influence of the spirit of rationalism in Europe« (Lond. 1865, 2 Bde.; deutsch von Jolowicz, 2. Aufl., Leipz. 1873, 2 Bde.) und »History of European morals from Augustus to Charlemagne« (Lond. 1869, 2 Bde.; deutsch, Leipz. 1871, 2 Bde.). Von Bilderwerken sind zu erwähnen: Hirths »Kulturgeschichtliches Bilderbuch« (Münch. 1883 ff.),
Essenweins »Kulturgeschichtliche Bilderbogen« (Leipz. 1885).
Vgl. Jodl, Die Kulturgeschichtschreibung (Halle [* 10] 1878).