Kretinen
,
frz. Crétins (vom roman. cretina, d.i.
Kreatur, elendes Geschöpf), Fexen oder
Trotteln,
Menschen, die sich
durch eine besondere geistige Schwäche und körperliche Mißgestaltung von andern unterscheiden und
meist in den Alpen
thälern der
Schweiz,
[* 2] Savoyens und Piemonts, aber auch in andern
Teilen der
Alpen,
[* 3] in den Pyrenäen, in
Salzburg,
[* 4] Steiermark,
[* 5]
Württemberg,
[* 6] in
Thüringen, im Harz, in der Rheinebene Süddeutschlands, in
Franken und ebenso außer Europa,
[* 7] zuweilen
nur auf eine geringe Zahl von Ortschaften beschränkt, gefunden werden: endemischer oder alpiner
Kretinismus
im Gegensatz zu dem gelegentlich überall einzeln vorkommenden sporadischen
Kretinismus.
Die Mißgestaltung der Kretinen
richtet sich sehr nach dem höhern oder niedrigern
Grade des Übels, wonach man vollkommene Kretinen
, Halbkretinen
und Kretinöse unterschieden hat. Meist ist ihr Schädel infolge fehlerhafter
Entwicklung abnorm klein, mit überragender
Stirn und eingedrückter Nasenwurzel (eigentlicher Kretinen
schädel) oder vogelkopf- (Azteken-)artig mit
fliehender
Stirn (mikrocephal). Auch der Körper ist klein und untersetzt, häufig kaum 1 m lang, meist durch dünne und kurze
Extremitäten, krumme
Beine, aufgetriebenen Leib,
Kropf und andere
Mißbildungen verunstaltet. Das monströse
Gesicht
[* 8] mit breiter,
eingesunkener
Nase,
[* 9] dicken wulstigen Lippen, aufgetriebenen
Wangen
(Myxödem der
Haut)
[* 10] und abstehenden
Ohren
ist ohne geistigen
Ausdruck und zeigt häufig schon von
Jugend an ein wahrhaft greisenhaftes Aussehen. Die
Entwicklung ihrer
geistigen
Anlagen ist meist verkümmert (angeborener
Blödsinn, idiotismus endemicus).
Einen genügenden Aufschluß über die
Ursachen des
Kretinismus, über die eigentliche erste
Veränderung im Körper, die
dem
Kretinismus vorangeht, zu erlangen, ist bis jetzt nicht gelungen. Gewöhnlich beginnt er mit der frühesten Kindheit,
zuweilen jedoch erst nach Verlauf einiger Lebensjahre, und die Kretinen
können in ihrem Zustande das 50. Lebensjahr
erreichen. Werden davon befallene
Kinder frühzeitig aus den
Thälern in die gesündere Bergluft gebracht, so ist
oft noch Rettung möglich.
Man hat auch gefunden, daß der
Kretinismus in einer gewissen Höhe (in den
Alpen bei 1000 m) nicht mehr vorkommt. Die Zahl
der vorhandenen und ihr Verhältnis zu der übrigen
Bevölkerung
[* 11] schwankt in den verschiedenen vom
Kretinismus befallenen Gegenden
beträchtlich; so kamen 1883 in
Österreich
[* 12] auf 100000 E. Kretins: in
Vorarlberg 34,
Tirol
[* 13] 112,
Salzburg
309, Kärnten 343,
Steiermark überhaupt 240, Graz
[* 14] im besondern 46, Oberösterreich 155, Niederösterreich 79, Krain
[* 15] 51, Istrien
36, in einzelnen Gemeinden bis zu 43,3
Promille. In
Aosta zählte man 1882 auf 21000 E. 325 wahre und 755 Halbkretinen.
Die entferntern Ursachen des Übels sind schon lange eine vielfach behandelte Streitfrage. Man führt als solche an: ungesunde Nahrung, namentlich schlechte Beschaffenheit des Trinkwassers (z.B. Reichtum desselben an Kalk- und Talksalzen), warme und dabei feuchte und dumpfe Atmosphäre, unzweckmäßige Wohnungen, namentlich tief eingeschnittene, des Sonnenlichts ganz oder doch größtenteils entbehrende Gebirgsthäler, Miasmen, ungenügende Pflege und Abwartung der Kinder, Heiraten unter Blutsverwandten und vorzüglich Erblichkeit.
Wahrscheinlich bringen mehrere dieser Ursachen im Verein dieses Übel hervor, obschon diese oder jene von den angeführten Bedingungen an Orten gänzlich fehlen, wo man doch den Kretinismus als endemisch findet. Gewiß ist, daß in jenen Schweizerthälern, in die seit der franz. Besitznahme Gesittung, Bodenkultur, bürgerliche und religiöse Freiheit vorgedrungen sind, der Kretinismus auffallend abgenommen hat. Auch in einigen Gegenden Deutschlands, [* 16] wo der Kretinismus endemisch war, ist seit neuerer Zeit infolge der fortschreitenden Kultur eine Abnahme desselben bereits bemerkt worden, z. B. in der Rheinpfalz (gleichzeitig mit der Verminderung der Malaria).
In der neuesten Zeit hat man gefunden, daß bei Erwachsenen, deren
Schilddrüse schwindet oder entfernt wird, manche Erscheinungen
des
Kretinismus auftreten (z. B. die Schwellung der
Haut, das sog.
Myxödem) und daß bei vielen Kretinen
die
Schilddrüse ganz fehlt
oder entartet ist, sodaß höchst wahrscheinlich nahe ursächliche
Beziehungen zwischen Erkrankungen der
Schilddrüse und
Kretinismus bestehen. Die Behandlungsarten, die zur Beseitigung und gänzlichen Ausrottung des Übels vorgeschlagen
worden sind, beziehen sich hauptsächlich auf diätetische und mediz.-polizeiliche Maßregeln. Neuerdings hat man auch durch
Einspritzung
[* 17] von Schilddrüsenextrakt einzelne kretinistische Erscheinungen
(Myxödem u.s.w.) beseitigt, sodaß hier möglicherweise
ein Fingerzeig für die Heilbehandlung gegeben ist.
Kretinismus und
Blödsinn in vollster
Entwicklung sind
unheilbar; für die damit Behafteten sind Versorgungsanstalten zu errichten.
Litteratur. Köstl, Der endemische Kretinismus (Wien [* 18] 1855);
Virchow, Untersuchungen über die Entwicklung des Schädelgrundes (Berl. 1857);
Klebs, Studien über die Verbreitung des Kretinismus in Österreich (Prag [* 19] 1877);
Knapp, Untersuchung über Kretinismus in einigen Teilen Steiermarks (Graz 1878);
Linzbauer, Kretinismus und Idiotie in Österreich-Ungarn [* 20] (Wien 1882);
Allara, Der Kretinismus (Lpz. 1894).