Knochenerw
eichung
(Osteomalacia), eine höchst merkwürdige, im ganzen nur selten vorkommende
Krankheit des
Skeletts, die bei
Menschen sowohl als auch bei
Tieren, namentlich
Rindern, vorkommt, welche aber nicht mit der
Rhachitis
(englischen
Krankheit) verwechselt werden darf. Die Knochenerw
eichung kommt fast nur beim weiblichen
Geschlecht vor, wenigstens tritt sie
beim männlichen
Geschlecht in ungleich geringerer
Ausdehnung
[* 2] auf. Sie erscheint vornehmlich bei erschöpften,
durch
Elend, schlechte
Nahrung, ungesunde
Wohnung etc. herabgekommenen
Personen und wurde fast immer nur als sekundäres
Leiden
[* 3] entweder während der
Schwangerschaft, was das Gewöhnlichste ist, oder im Verlauf andrer
Krankheiten, bei welchen an das der
Blutbildung dienende
Knochenmark zu hohe Anforderungen gestellt werden, beobachtet.
Die eigentliche
Ursache der Knochenerw
eichung ist unbekannt; nur so viel weiß man, daß endemische, namentlich tellurische, Verhältnisse,
Beschaffenheit des
Bodens, Trinkwassers etc. von Einfluß sind. So ist die
Krankheit in gewissen Teilen Mitteleuropas,
Hollands,
des
Rheinlandes relativ häufig, während sie sonst nur sporadisch vorkommt. Bei der Knochenerw
eichung werden gewöhnlich
eine größere Anzahl von
Knochen
[* 4] oder auch das ganze
Skelett
[* 5] zugleich befallen, doch werden einzelne
Knochen immer mehr als
andre davon betroffen. Am meisten sind die
Knochen des
Rumpfes affiziert, sehr beträchtlich gewöhnlich auch die
Knochen der
Extremitäten, während die des
Kopfes im geringsten
Grad heimgesucht werden.
Die
Knochen verlieren bei der Knochenerw
eichung ihre erdigen
Bestandteile, es bleibt nur das organische, weiche und biegsame
knorpelartige
Substrat der
Knochen zurück, welches sich hochgradig porotisch und in den Markräumen mit rötlichem
Fett gefüllt
zeigt. Die
Krankheit beginnt damit, daß sich zuerst leichte reißende
Schmerzen in verschiedenen Teilen des
Körpers zeigen.
Die
Schmerzen nehmen bald zu, werden heftig, bohrend und nagend. Die Kranken selbst geben an, daß die
Schmerzen von den
Knochen ausgehen. Am heftigsten sind die
Schmerzen in den
Gliedern, im
Becken und im
Brustbein.
Ist die Kranke (wie gesagt, werden fast nur
Frauen von der
Krankheit befallen) noch nicht bettlägerig, so
wird der
Gang
[* 6] schwierig, schwankend, unbeholfen und nach und nach unmöglich. Die
Knochen verbiegen und knicken sich unter
der
Last des
Körpers oder durch das
Gewicht einzelner
Glieder,
[* 7] durch die Zusammenziehung der
Muskeln
[* 8] wie durch äußere Veranlassungen.
In ganz charakteristischer
Weise wird das
Becken verunstaltet. Dasselbe wird gewissermaßen von rechts
nach links zusammengedrückt, so daß die Schambeinverbindung schnabelartig nach vorn sich zuspitzt, während das
Kreuzbein
sich stärker wölbt und den Beckenausgang beträchtlich verengert. Die Extremitäten werden nach den verschiedensten
Richtungen
verbogen, und meist stellen sich bei hohem
Grad von Knochenerw
eichung mehrfache
Knochenbrüche ein. In keinem
Fall von
Osteomalacie wurde bis
jetzt mit Sicherheit eine vollkommene Herstellung erzielt; doch lassen die
Erscheinungen öfters zeitweilig nach, um sich
später in ihrem ganzen
Umfang wieder einzustellen.
Ein besonderes geburtshilfliches Interesse gewährt das osteomalacische Becken. Selbst wenn der Raum des kleinen Beckens fast auf Null reduziert ist, können gleichwohl natürliche Geburten in ganz leichter Weise erfolgen. Die austreibende Kraft [* 9] der Gebärmutter, [* 10] welche auf den Körper des zu gebärenden Kindes drückt, bringt die aneinander gerückten, abnorm weichen, fast elastischen Beckenknochen leicht in die ihnen normal zukommende Distanz, der Beckenkanal wird bei der Geburt gleichsam wie ein Gummischlauch ausgedehnt und nimmt nach der Geburt sofort wieder seine ursprüngliche fehlerhafte Gestaltung an.
Vgl. Litzmann, Die Formen des weiblichen Beckens nebst einem Anhang über Osteomalacie (Berl. 1861);
Virchow im »Archiv für pathologische Anatomie«, Bd. 4; Billroth, Allgemeine chirurgische Pathologie u. Therapie (13. Aufl., Berl. 1887);
Rindfleisch, Lehrbuch der pathologischen Gewebelehre (6. Aufl., Leipz. 1886).