Kleinasien
(Asia minor der Alten), jetzt
Anatolien, die Levante im engern
Sinne, die westlichste Halbinsel
Asiens, erstreckt
sich westwärts vom Euphrat und dem Hochland von
Armenien bis an das Ägäische, das Marmara- und das
Schwarze
Meer, im S. bis
zu dem östl. Mittelmeer und zu den cilicischen Pässen, der
Pforte
Syriens. (S. Karte: Westasien I, beim
Artikel
Asien,
[* 2] Bd. 1, S. 983.)
Oberflächengestaltung. Im kleinen wiederholt Kleinasien
den Gesamtcharakter
Asiens, insofern es aus einem
centralen abflußlosen Gebiete und zugleich einer Hochebene, sowie ferner aus peripherischer Gebirgsumwallung besteht, welche
auf allen Seiten die innere Hochebene umschließt. Im Innern, das 400–1600 m, im Durchschnitt 1000 m
hoch ist, liegen infolgedessen zahlreiche Salzseen, wie der Tüs-Tschöllü, der Beischehr-Göl, der
Egerdir-Göl u. a. Im
allgemeinen besteht der
Boden dieses centralen
Teils aus
Tertiär, über welchen hinaus einzelne paläozoische
Ketten ragen,
wie der
Sultan-Dagh zwischen Konia und
Afiun-Karahissar.
Ferner sind dem innern Becken eine Reihe von erloschenen Vulkanen eigen. Der bedeutendste derselben ist der Ardschisch- oder Erdschjas-Dagh (4000 m), der alte Argäus im S. von Kaisarie, ferner der Hassan-Dagh (2900 m) mit mehrern Lavaströmen, und der Karadscha-Dagh. Die abflußlosen Gebiete nehmen vorwiegend den Süden ein und treten in Lycien und Cilicien sehr nahe an das Meer, nämlich bis an den Kamm der äußersten Ketten des Taurus (s. d.). Der nördl. Rand oder das Pontisch-paphlagonisch-bithynische Gebirge, ein langer Zug von parallelen, aber durch viele Querthäler zerstückten, 1300–1950 m hohen Waldgebirgsketten, fällt steil zu einem schmalen Küstensaume mit sanften und waldlosen Gehängen nach innen hin ab; ebenso der Südrand, der Taurus oder das Cilicisch-pamphylisch-lycische Gebirge, nur daß er zusammenhängender und höher ist, im N. des Meerbusens von Alexandrette (Iskanderun) oder Issus bis 3477 m, weiter westwärts 2600–2900 m hoch. Der Westrand ist vielfach durchbrochen, seine
Artikel, die man unter K vermißt, sind unter C aufzusuchen. ¶
mehr
403 Thäler sind dem Ägäischen Meere geöffnet in den karisch-lydisch-mysischen Berglandschaften, an deren Fuße die gesegneten Küstenlandschaften der Levante liegen und zu deren nördlichstem die Berge Ida und Olymp gehören. Gegen Osten vermittelt der Antitaurus den Übergang zum Armenischen Hochlande. Dieser ist von paläozoischem Alter, wie überhaupt die höhern Ketten der kleinasiat. Gebirge, namentlich der westlichen, sowie der Cilicische Taurus und Teile des Nordrandes.
Hier tritt noch stark das mesozoische Gebirge hinzu und einzelne Eruptivmassen durchbrechen noch den Norden [* 4] und den Westen. Die ganze Halbinsel wird ziemlich häufig von Erdbeben [* 5] heimgesucht. Auf dem Plateau des innern K.s entspringen die Flüsse [* 6] Jeschil-Irmak (Iris), Kisil-Irmak (Halys) und Sakaria (Sangarius), welche ins Schwarze Meer, sowie der Gedistschai (Hermus) und Menderes (Mäander), [* 7] welche ins Ägäische Meer strömen. Klima, [* 8] Pflanzen- und Tierwelt.
Das Klima trägt im allgemeinen den südeurop. Charakter; auf den höher gelegenen Stufen tritt der Winter vergleichsweise rauh und oft mit Eis [* 9] und Schnee [* 10] auf. Auf dem Bulghar-Dagh, Ala-Dagh und Hassan-Dagh liegt oft im August noch Schnee. Im allgemeinen aber liegt die Schneegrenze hoch, da das Klima verhältnismäßig trocken ist. Nur die Nordküste hat mehr als 600 mm Regen im Jahre, der ganze Rest der Halbinsel weniger. Dabei ist die Wärme [* 11] bedeutend. Trapezunt hat einen Juli von 24,3°, einen Januar von 6,8°, eine Mitteltemperatur von 18,5° C. im Jahre.
Kaisarie im Innern hat nach Tschichatscheff einen Winter wie Amsterdam, [* 12] einen Sommer wie Toulouse. [* 13] Im äußersten Süden sind hohe Wärmegrade und Sumpffieber herrschend. – Die Pflanzenwelt ist sehr mannigfaltig, Tschichatscheff zählt 6500 Arten auf; ihr folgt die Kulturproduktion (s. Osmanisches Reich). [* 14] Die Nordküste ist mit waldreichen Beständen von ähnlichem Charakter, wie sie der nördl. Teil der Balkanhalbinsel [* 15] und der Kaukasus zeigen, entlang dem pontischen Gebirgssystem versehen.
Die West- und Südküste ist als der reiche Garten [* 16] der Halbinsel zu bezeichnen, dem die Mittelmeerflora ihren, sie mit Südeuropa durchaus verbindenden Stempel aufgeprägt hat. Die Bergketten des Taurus sind wie der Libanon durch Tannen und Cedern ausgezeichnet. Auf den innern Hochflächen herrscht die Steppenflora; nach Armenien zu werden sie durch den starken Klimawechsel vom langen kalten Winter und glühenden Sommer am meisten beeinflußt. – Die Tierwelt ist noch nicht genau bekannt, namentlich mögen die Bergländer noch manche interessante Formen (Wildschafe) bergen.
Die Schmetterlinge [* 17] und die Vögel [* 18] erinnern auffallend an die Südeuropas, ja Mitteleuropas, wenn auch schon einige neue Formen, Lerchen, ein Eisvogel [* 19] (Ceryle rudis L.) östl. und südl. Ursprungs hinzutreten. Abweichender erscheinen Landmollusken, Käfer, [* 20] besonders aber Reptilien und Säuger. Die Eidechsen [* 21] und Schlangen [* 22] erscheinen schon weit formenreicher als im südöstlichsten Europa. [* 23] Von Säugetieren findet sich neben dem Schakal bereits der Korsak, im Süden und Osten die gestreifte Hyäne, der Leopard, [* 24] mehrere kleine Katzenarten (Felis chaus Güldenst., caligata Tem., caracal Güldenst.), desgleichen der Löwe, der Bär, der Zorilla (Rhabdogale zorilla Wiegm.) und neben Steppennagern bereits einige Gazellenformen.
Erzeugnisse. Der Bergbau [* 25] liegt danieder und der oftmals betonte Reichtum des Landes an Metallen und Erzen wird neuerdings angezweifelt. Am bekanntesten sind die Meerschaumgruben an dem Südhange des Olymp, bei Eskischehr (s. d.), Erenkiöi und dem Pursakthal, ferner Chromeisengruben bei Sultantschoir; sodann Schmirgel bei Smyrna, Kohlen guter Beschaffenheit am Ufer des Schwarzen Meers, Blei, [* 26] Mangan, Kupfer [* 27] besonders bei Argana, Maden und Tokat. Auch Steinsalz und Petroleum sind vorhanden. Unter den Ackerbauerzeugnissen nimmt Getreide, [* 28] namentlich Gerste, [* 29] den ersten Rang ein, sodann Apfel, Birnen, Kirschen, Nüsse, Pflaumen, Melonen, Pfirsiche und Trauben; angebaut und ausgeführt wird ferner Baumwolle, [* 30] Tabak, [* 31] Kartoffeln, Knoblauch; endlich gelangen zur Ausfuhr: Geflügel, Eier, [* 32] Häute, Vieh, Teppiche, Seide, [* 33] Bohnen, Leinsaat, Tragantgummi, Wachs, Galläpfel und Bergwerkserzeugnisse.
Verkehrswesen. Neuerdings sucht die türk. Regierung dem Mangel der Verkehrsmittel abzuhelfen. Es bestehen etwa 5000 km Kunststraßen, zum Teil in schwierigem Gebirgslande. An Eisenbahnen waren 1567 km im Betrieb. Zahlreiche Erweiterungen des Netzes sind genehmigt oder geplant. (Näheres s. Osmanisches Reich, Eisenbahnen.)
Bevölkerung. [* 34] Die Einwohner bestehen aus den verschiedensten Völkerschaften. Das herrschende Volk sind die osman. Türken, die etwa 1200000 Köpfe stark und über das ganze Land verbreitet sind. Zu demselben Stamme gehören die Turkmenen, die im Innern als Nomaden hausen. Daselbst findet man auch nomadisierende Kurden und in den Gebirgen östlich von Trapezunt die räuberischen Lasen, die besten Seeleute der pontischen Küste. Die Städte sind neben den Türken im Westen hauptsächlich von Griechen und Juden und im Osten von Armeniern bevölkert, welche, nebst den Franken in den Seeplätzen, den Handel des Landes in ihrer Gewalt haben. Andere Stämme sind die Tscherkessen, Georgier, Abchasen, Bulgaren, Zigeuner, Tataren, die nomadischen Yürüken, Taktadschi und Kisilbethen. Die gesamte Bevölkerung wird auf 8522000, mit den westl. Inseln zusammen auf 9172000 E. angegeben. Das Land zerfällt gegenwärtig in 13 Wilajets oder Generalstatthalterschaften. (S. Osmanisches Reich.)
Die ältere Geschichte des Landes ist eng verknüpft mit der Entwicklung der gesamten alten Kulturwelt. Die geogr. Lage hat
Kleinasien
von vornherein eine Vermittelungs- und Zwischenstellung zwischen Orient und Occident zugewiesen. Im Altertum rechnete man
Kleinasien
ursprünglich nicht vom Euphrat, sondern vom Halys (Kisil-Irmak) an, erst in der röm.
Zeit hat es die weitere Ausdehnung
[* 35] gewonnen. Auch die Landschaften, in die die Alten das Land teilten, haben verschiedene
Wandlungen durchgemacht.
Das innere Hochland, soweit es überhaupt bewohnt war, wurde in ältester Zeit von den Phrygern und Kappadokern eingenommen. Zwischen beide schoben sich später die Lykaoner (um Iconium) und im 3. Jahrh. v. Chr. die kelt. Galater. An dieses Binnenland schlossen sich die Küstenlandschaften, von NO. beginnend: Pontus, Paphlagonien, Bithynien, die Troas mit dem sog. kleinen oder hellespontischen Phrygien, Mysien, Lydien, Karien, Lycien, Pamphylien und Pisidien, Cilicien;
zu Kleinasien
rechnete
man außerdem die besonders westlich und südlich vorgelagerten Inseln Lesbos, Chios, Rhodus, Cypern
[* 36] u. a.
Artikel, die man unter K vermißt, sind unter C aufzusuchen. ¶
mehr
404 Abgesehen von den Hethitern (s. d.), die am Ende des 2. Jahrtausends von Syrien aus bis an das Agäische Meer vordrangen, sind spätestens in dieser Zeit auch die Karer von den westl. Inseln her eingedrungen. Um die Wende des 2. Jahrtausends beginnt dann die griech. Kolonisation zunächst peloponnesischer (arkadischer) Völkerschaften nach Pamphylien und Cypern. Am Beginn des 1. Jahrtausends folgten nacheinander aus Nord- und Mittelgriechenland und dem Peloponnes die Wanderzüge, welche zur Gründung der äol., ion., dor.
Kolonien an der Westküste führten. Es entstanden damals, gewöhnlich an der Stelle älterer Ortschaften, die meisten der zahlreichen Griechenstädte: Mytilene, Kyme, Smyrna, Chios, Ephesus, Samos, Milet, Kos, Halikarnaß u. a. (S. Karte: Das Alte Griechenland, [* 38] Bd. 8, S. 314.) In der gemeinsamen, andauernden Gefahr schlossen sie sich vielfach enger zusammen zu Bünden, die Ionier von 12 Städten (Dodekapolis), die Dorier von 6 Städten (Hexapolis). (S. Griechenland, Bd. 8, S. 320b fg.) Das Lydische Reich unter Alyattos und Krösus bekämpfte im 7. und 6. Jahrh. v. Chr. die westkleinasiat.
Griechenstädte heftig und unterwarf sie schließlich. Damals zum ersten und einzigen Male bildete Alt-Kleinasien (westlich
des Halys) ein einheitliches Reich. Aber dieses Reich wurde Mitte des 6. Jahrh. durch die Perser gestürzt; sie eroberten die
westl. Griechenstädte mit und teilten ganz in drei große Verwaltungsbezirke
(Satrapien), in die um Sardes, um Daskyleion und um Tarsus. Im Beginn des 5. Jahrh. (479) v. Chr. erlangten zwar die Westgriechen
als Mitglieder des athenischen Seebundes ihre Freiheit zurück, wurden aber nach mancherlei Schwankungen im Frieden des Antalcidas
(387 v. Chr.) wieder preisgegeben. Am Ende des 4. Jahrh. unternahm Alexander d. Gr. seinen Siegeszug durch
in das pers. Kernland. Kleinasien.
Wurde macedonisch und nach Alexanders frühem Tode (323) das Hauptgebiet des Hellenismus, der hier
zu voller Entfaltung gedieh.
Die blutigen Kämpfe der Diadochen und Epigonen spielten sich hier ab. (S. Karte: Diadochenreiche, Bd.
5, S. 240.) 278 v. Chr. brachen die Galater ein und besetzten das nach ihnen benannte Gebiet. Endlich wurde wenigstens ein
großer Teil West-Kleinasiens
wieder im Pergamenischen Reiche geeint. Nebenher bildete sich eine Anzahl kleinerer Fürstentümer
auf nationaler Grundlage. Als dann 133 v. Chr. das Pergamenische Reich an die Römer
[* 39] siel, schufen diese
daraus die Provinz Asia und dehnten von hier stetig ihre Herrschaft aus.
Den Gedanken einer Einigung dieses hellenisierten K.s nahm noch einmal König Mithridates VI. von Pontus auf, scheiterte aber
damit und unterlag 63 v. Chr. endgültig gegen Rom.
[* 40] Damals erreichte Kleinasien
ungefähr den heutigen Umfang; es zerfiel in
die Provinzen Asia, Bithynia und Pontus, Galatia, Kappadocia, Lycia und Pamphylia, Cilicia, Cyprus, doch ist auch in dieser
Einteilung mancherlei zu verschiedener Zeit geändert worden. (S.Karte: Das Römische Reich,
[* 41] beim Artikel Rom und Römisches Reich.)
Die Ruhe dauerte nur kurze Zeit für die Prätendentenkämpfe der Kaiserzeit; für die einbrechenden Parther
und Neuperser bildete Kleinasien
den Kampfplatz. Im Byzantinischen Reiche war Kleinasien.
In mehrere Verwaltungsbezirke, Themata (s. d.) genannt,
eingeteilt (s. Karte: Byzantinisches Reich, Bd. 3, S. 814), bildete aber auch damals
den Schauplatz fortwährender Kriege, bis es endlich im 11. Jahrh. unter
die Herrschaft der Seldschuken, im 14. Jahrh. unter
die der Osmanen kam.
Litteratur. Hamilton, Researches in Asia minor (2 Bde., Lond. 1842);
Tchihatcheff, Asie mineure (8 Bde., Par. 1852–69);
Texier, Asie mineure (ebd. 1862);
Kiepert, Nouvelle carte générale des provinces asiatiques de l'Empire Ottoman (Berl. 1884);
Tchihatcheff, Kleinasien
(in «Das Wissen der Gegenwart», Bd. 64, Lpz.
und Prag
[* 42] 1887);
Ramsay, The historical geography of Asia minor (Lond. 1890);
Humann und Puchstein, Reisen in und Nordsyrien (Berl. 1890);
Kiepert, Specialkarte von West-Kleinasien
(ebd. 1890);
Naumann, Vom Goldenen Horn zu den Quellen des Euphrat (Münch. 1893).