Kirgisensteppe
,
das weite, von den Kirgiskaisaken (s. Kirgisen) bewohnte Gebiet in Vorderasien, das im N. vom Quellgebiet des Uralflusses, der Festungslinie längs des Tobol und von dieser östlich bis Omsk am Irtisch, im NO. und O. vom Irtisch, vom westlichen Ufergebiet der Seen Saian und Alakul, im S. vom Alatau, dann von den Flüssen Tschu und Sir Darja, dem Aralsee und dem Usturt, im W. vom Kaspisee und Uralfluß begrenzt wird. Es zerfällt laut Verfügung vom in ein Steppengeneralgouvernement mit dem Sitz der Zentralbehörden in Omsk, welches gebildet wird aus den Gebieten Akmollinsk, Semipalatinsk und Semiretschinsk, und in die beiden Gebiete Turgaisk und Uralsk. Umfang und Bevölkerung [* 2] des Gebiets stellen sich wie folgt:
QKilom. | Einwohner | |
---|---|---|
Akmollinsk | 545339 | 467823 |
Semipalatinsk | 487673 | 604517 |
Semiretschinsk | 402202 | 639078 |
Turgaisk | 523656 | 338395 |
Uralsk | 366402 | 521544 |
Zusammen: | 2325272 | 2571357 |
Dieses ungeheure Gebiet, obgleich so eintönig, unwirtlich und spärlich bevölkert, »daß schon ein Kosakendorf voll Leben und Abwechselung erscheint, wenn man es nach langen Tagereisen durch die endlose Steppe erreicht« (Radloff), trugt keineswegs das Gepräge einer einförmigen Ebene, wie die nördlich gelegenen Steppen. Felshöhenzüge treten auf, die im W. von N. nach S. streichen und sich als Ausläufer des Urals darstellen, wie insbesondere die bis 600 m hohen Muhadjarberge, während vom SO. her das Altaisystem hereinragt, anfangs in mächtigen Gebirgszügen (Alatau), und bis in das Herz der Steppe seine letzten Ausläufer entsendet, wie die Eremeniberge bei Akmollinsk, die Jamanarganatiberge im S. des Dengizsees.
In dem westlichen Teil, in der Mitte zwischen dem Kaspisee, Aralsee und Balchaschsee, breitet sich in Verbindung mit dem Tiefland Ciskaukasiens die tiefste Bodeneinsenkung der Alten Welt aus: eine von SW. nach NO. laufende, etwa 225 km breite Furche, die ehemals wahrscheinlich eine Verbindung des Aralsees mit dem Eismeer gebildet hat, bevor quer über dieselbe hin, als Brücke [* 3] zwischen Ural und Altai, eine Graniterhebung stattgefunden hat, die jetzt (unter 49° nördl. Br.) unter dem Namen Ildighi Sirt eine Wasserscheide zwischen dem Eismeer und dem Aralsee bildet. Eine besondere Eigentümlichkeit dieser Steppengegend bilden tiefe, trichterförmige Schluchten mit meist sehr salzigem Boden, deren merkwürdigste Kara Sai heißt, die sich ¶
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60-65 km weit zwischen zwei Sandflächen mit oft 30 m hohen Ufern hinzieht. Lange Strecken Wüstensandes, der Schrecken der Karawanen, breiten sich im S. aus. An Seen ist die Steppe reich; sie sind aber seicht, salzig und trocknen von Jahr zu Jahr mehr aus. Ebenso sind die zahlreichen Wasserläufe meist wasserarm und vertrocknen im Sommer ganz; eine Ausnahme machen im O. der Irtisch, im S. der Tschu, im W. teilweise die Emba und der Ural (Jaik). Infolge der Wasserarmut trägt das ganze Land den Charakter der Dürre und Unfruchtbarkeit.
Die Gegensätze von Kälte und Wärme [* 5] treten sehr scharf auf. Der Winter beginnt schon Ende August und dauert bis April, die Kälte erreicht -37° C.; der Frühling geht rasch vorüber, der Sommer ist trocken und glühend heiß (bis 43° C. im Schatten), [* 6] der Herbst kurz und regnerisch. Regen fällt im allgemeinen selten, die Jahresmenge der wässerigen Niederschläge wird höchstens 80 mm betragen. Winde [* 7] (namentlich die Burane oder Schneewirbelwinde) treten mit furchtbarer Heftigkeit auf. Im SO. sind auch verheerende Gewitter und Erdbeben [* 8] nicht selten.
Der früher unbedeutende Bergbau [* 9] findet jetzt, seitdem die Russen der Unsicherheit ein Ende machten, immer mehr Beachtung. Goldwäschen gab es von jeher, ebenso wurden Silberminen ausgebeutet; ihr Ertrag ist aber nie bedeutend gewesen, und letztere werden nur noch auf Blei [* 10] bearbeitet. Wertvoller ist Kupfer; [* 11] es wird in sieben Hütten [* 12] dargestellt, die 1879: 31,175 Pud lieferten. Eine bedeutende Zukunft hat der Abbau der Kohlen, der hauptsächlich in Semipalatinsk bei Permykins, Pawlodar (vier Gruben) und Karakalin, dann in Akmollinsk in den Gruben von Karagantin betrieben wird; eine neue Grube wurde bei Ermensk eröffnet.
Diese Gruben, teils Privaten (besonders der Familie Popow), teils Gesellschaften gehörig, lieferten 1879: 348,000 Ztr. Kohlen. Wald fehlt; im N. kommen vereinzelte Birken vor, sonst ersetzt ihn holziges Gestrüppe. Der Saksaul (Anabasis), außerdem Mist, dient als Feuerung. Längs der Festungsreihen sind die besten Weideplätze, längs der Flußläufe gute Ackergründe. Die Seen und sumpfigen Vertiefungen sind mit Schilfwaldung in ziemlich weitem Umfang eingefaßt.
Die Tierwelt ist in der eigentlichen Steppe wegen ihrer Dürre nur kärglich vertreten. Murmeltiere, Antilopen, Eber (in den Schilfdickichten), Wölfe (sehr zahlreich) und Füchse, von Vögeln Adler [* 13] und Fasanen, sodann Gänse, Schnepfen etc. in den Umgebungen der Seen, sonst Habichte, Lerchen u. dgl. kommen am meisten vor. Eine große Plage für Menschen und Vieh sind während der Sommerszeit die Schwärme von Bremsen [* 14] und andern Insekten. [* 15] Viehzucht [* 16] ist Haupterwerb der Bevölkerung.
Die Herden von Rindvieh, Schafen (klein, mit herabhängenden Ohren) und Pferden (klein an Wuchs, aber kräftig, ausdauernd und genügsam; edlere Rassen selten) sind groß; Kamele [* 17] sind zwar auch zahlreich, aber schlecht gepflegt und daher schwächlich (vgl. Radloff in der »Zeitschrift für Ethnographie« [* 18] 1871). Die Bevölkerung besteht der großen Mehrzahl nach aus Kirgisen (s. d.). Eingesprengt unter sie und mit ihnen wandernd, leben Tataren als Händler, deren Zelte als Krambuden für ihre Waren dienen, Kosaken und Russen in den Festungen.
Russische
[* 19] Bauern umwohnen den ganzen Nordwesten der Steppe, haben aber auch schon im Innern derselben Kolonien angelegt; insbesondere
ist dies in größerm Maß gelungen am Ischim (von Altbassar nördlich gegen Omsk zu), dann im SW. bei Kopal
und Wernoje. Industrie fehlt, der Handel mit ihren Erzeugnissen ist deshalb sehr
lebhaft; er war früher ausschließlich Tauschhandel,
wird jetzt aber immer mehr in Geld geführt. Hauptgegenstände der Ausfuhr aus Rußland nach der Kirgisensteppe
sind Baumwollwaren, Leder
und Getreide,
[* 20] wogegen letztere Vieh und Häute liefert.
Die Kleine Horde der Kirgiskaisaken unterwarf sich 1734 freiwillig der russischen Zarin Anna; die Freude über dieses Ereignis dauerte aber nicht lange, denn die Russen sahen sich genötigt, längs der Steppe ganze Reihen von Festungen mit zahlreicher Besatzung zu errichten, um sich der Raubzüge der neuen Unterthanen in russisches Kulturland zu erwehren. Die Verwaltung machte dabei große Mißgriffe; sie pflog den schriftlichen Verkehr in tatarischer Sprache, [* 21] die nicht die Muttersprache der Bewohner war, baute Moscheen, während der Glaube noch ein schamanischer war, und leistete dadurch den Erbfeinden christlicher Regierungen, den tatarischen mohammedanischen Priestern, Vorschub, die sich beeilten, aus Innerasien in der Steppe sich niederzulassen. 1820 wurde beschlossen, die Kirgiskaisaken zu wirklichen Unterthanen zu machen; man legte hierzu in der Steppe an denjenigen Punkten, die für die Umgebung sich zu Mittelpunkten des Verkehrs eigneten, Befestigungen an, worin Kosaken angesiedelt wurden.
Dieses System fand zuerst am Irtisch Anwendung, 1835 in der Orenburger Steppe. Die Organisierung von Verwaltungsdistrikten
wurde hier zwar die Ursache einer kleinen Insurrektion, aber die Bewegung erlosch mit dem Tode des Führers. Auch diese Festungen
konnten ihren Zweck nicht erreichen, Ruhe in der Kirgisensteppe
herzustellen, solange sich die Räuber der Strafe durch Entweichen in die
unabhängigen Chanate im S. der Steppe entziehen konnten. Diesem Zustand machte für den Osten die Eroberung von Tschemkent
(1864) und die darauf folgende Errichtung des Generalgouvernements Turkistan (s. d.), für den Westen die Demütigung Chiwas
(1873) und die Vermehrung russischen Gebiets um die transkaspischen Länder und den Amu Darja-Bezirk ein Ende.
Die 1869 von Chiwa aus unter den Kirgisen zwischen dem Kaspisee und Aralsee, dann längs der Orsk-Kasalinskischen Poststraße angestifteten Unruhen wurden ohne Entfaltung größerer Militärmacht unterdrückt und ihre Wiederholung durch jährliche Expeditionen in die Grenzabschnitte fern gehalten. Jetzt ist Ruhe und Sicherheit, die Grundbedingung der Ansiedelung russischer Kolonisten und der Anlage von Kapitalien im Bergbau, auch an der Grenze gesichert. Vgl. Kirgisen.