Titel
Kirchenges
chichte,
die wissenschaftliche Erforschung und
Darstellung des Entwicklungsganges der christl.
Kirche, sowohl
nach der äußern Seite, der Ausbreitung der
Kirche und ihrer
Stellung zu den weltlichen Gewalten, als
nach der innern Seite, der
Entwicklung ihrer
Glaubenslehren, ihrer Organisation, ihres
Kultus und ihres Einflusses auf das Kulturleben.
Die
Quellen der Kirchenges
chichte sind dreierlei:
1) Öffentliche Urkunden, d. h. namentlich die Akten, Beschlüsse und Verordnungen der großen Konzilien (s. Konzil), die päpstl. Erlasse, Glaubensbekenntnisse und Liturgien, dann die Konkordate, überhaupt Gesetze und Reichstagsakten, sofern sie kirchliche Dinge betreffen; endlich im geringern Maße Gebäude, Inschriften, Grabmäler und sonstige kirchliche Denkmäler;
2) Privatzeugnisse, d. h.
Schriften der christl. Schriftsteller, und 3) traditionelle Überlieferungen, d. h.
Legenden und Sagen. - Hilfsmittel der Kirchenges
chichte sind die
Chronologie, die kirchliche
Philologie, die
Diplomatik,
die kirchliche Geographie und
Statistik. Einzelne Zweige der Kirchenges
chichte haben sich von ihr losgelöst und sind zu selbständigen Disciplinen
geworden, so die Dogmengeschichte (s. d.), dann das Kanonische
Recht (s. d.), in früherer Zeit auch die
Patristik (s. d.)
und neuerdings die Missionsgeschichte.
Eingeteilt wird die in die Epochen der alten, mittlern und neuern; diese Epochen zerfallen wieder in
Perioden. Als Grenze zwischen der mittlern und neuern Kirchenges
chichte wird die
Reformation, von einigen kath. Schriftstellern der
Humanismus
oder die Entdeckung
Amerikas angenommen; die alte und mittlere Kirchenges
chichte finden ihre Scheidung entweder bei
Gregor d. Gr. (um 600)
oder
Karl d. Gr. (um 800), jedenfalls durch die Zeit des Hervortretens der german.
und slaw.
Völker in den Vordergrund der Kirchengeschichte.
Das 1. Jahrh. pflegt man als Leben
Jesu und Geschichte des apostolischen Zeitalters gewöhnlich für sich zu behandeln, wie auch das 19. Jahrh.
als neueste Kirchengeschichte
oft von der neuern losgelöst wird. Die Behandlung der Kirchengeschichte
hängt
von dem
Begriff ab, den man sich über das Wesen der
Kirche (s. d.) gebildet hat, namentlich davon, ob man die
Kirche überhaupt
oder eine besondere
Kirche, z. B. die katholische, als Selbstzweck betrachtet und die geschichtlichen Erscheinungen
nur von diesem einseitigen, konfessionellen Standpunkte aus lediglich nach ihrem Nutzen oder Schaden
für die
Kirche beurteilt. Die wissenschaftliche Behandlung der Kirchengeschichte
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Artikel, die man unter K vermißt, sind unter C aufzusuchen. ¶
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die erst ein Produkt der neuern Zeit ist, betrachtet die Kirchengeschichte
als einen Teil der allgemeinen Geschichte und läßt sich darum
auch von den Grundsätzen der allgemeinen Geschichtsforschung leiten, d. h. sie sucht, ohne
sich durch das Urteil früherer Zeiten beeinflussen zu lassen, auf dem Wege der Quellenkritik die Thatsachen festzustellen
und sie genetisch oder pragmatisch zu entwickeln. Man unterscheidet daher verschiedene Epochen kirchlicher Geschichtschreibung.
(Vgl. F. Chr. Baur, Die Epochen der kirchlichen Geschichtschreibung, Tüb. 1852.)
Der älteste Kirchengeschichtschreiber, dessen Werke noch erhalten sind, ist Eusebius (s. d.) von Cäsarea (um 325), dessen Werk zwar von dogmatischen Voraussetzungen beherrscht, aber ausgezeichnet ist durch Quellenmäßigkeit und zahlreiche Auszüge aus sonst verlorenen Schriften. Weniger wertvoll und in noch wundersüchtigerm Geiste gehalten sind die Werke seiner Fortsetzer in griech. Sprache: [* 3] Sokrates, Sozomenos, Theodoret, Philostorgius, Theodorus Lektor und Euagrius.
Die lat. Kirche lieferte durch Rufinus und Hieronymus Übersetzungen und Fortsetzungen des Eusebius, durch Sulpicius Severus
die erste selbständige kirchengeschichtliche Arbeit und durch Cassiodorius (s. d.) im 6. Jahrh. in der
«Historia tripartita» das kirchengeschichtliche Handbuch bis zur Reformation. Das Mittelalter brachte außer einer Unzahl von
Heiligen- und Legendenschreibern namentlich zahlreiche Annalisten und Chronisten hervor, die im ausdrücklichen Interesse der
Papstherrschaft ohne jedes geschichtliche Verständnis die Kirchengeschichte
bearbeiteten, wie
Ordericus Vitalis (gest. 1142), Petrus Pisanus (12. Jahrh.), Martinus Polanus (gest. 1279),
Tolomeo de Lucca
[* 4] (gest. 1327). Tüchtiges für die fränkische Kirchengeschichte
(bis
591) leistete Gregor von Tours,
[* 5] für die englische (bis 731) Beda, für die nordische (bis 1076) Adam von Bremen.
[* 6]
Die eigentliche Kirchengeschichtschreibung beginnt erst mit der Reformation, doch tritt sie zunächst noch in konfessionellem Gewande auf. In dem großartigen Werk der «Magdeburger Centurien» (s. Centurien) suchte ein Verein luth. Theologen, an ihrer Spitze Matthias Flacius, das Recht der Reformation durch den Nachweis eines tiefen Abfalls der kath. Kirche von ihrer ursprünglichen Reinheit in einer von Jahrhundert zu Jahrhundert fortschreitenden Verderbnis, namentlich auf dem Gebiet der Lehre, [* 7] zu begründen.
Ihnen trat Cäsar Baronius (s. d.) 1588 mit seinen, später von dem Franziskanermönch Pagi kritisch berichtigten «Annales» gegenüber, die einen reichen Schatz unbekannter, meist dem Archiv des Vatikans entnommener Urkunden in den Dienst der kath. Kirche stellten und den Nachweis liefern wollten, daß die kirchlich kath. Tradition in Lehre und Verfassung die reine, von der Apostelzeit her unverändert gebliebene göttliche Wahrheit enthalte. Was Flacius in den «Centurien» vom lutherischen, versuchten Hottinger (s. d.), Spanheim (s. d.) und die beiden Basnages (s. d.) vom reform. Standpunkt aus.
Der wissenschaftliche Charakter der Kirchengeschichte
erfuhr eine Förderung durch die in den
verschiedenen Konfessionen
[* 8] ausbrechenden innern Streitigkeiten, auf kath. Seite die jansenistischen,
auf lutherischer die synkretistischen und pietistischen. So haben nach Baronius insbesondere die gelehrten Mönchsorden in
Frankreich, allen voran die Maurinerkongregation, großartige Materialiensammlungen für die Kirchengeschichte
veranstaltet,
deren Verwertung Alexander Natalis, Claude Fleury (s. d.) und Bossuet
(s. d.) im streng katholischen, der
Jansenist Tillemont (s. d.) in kritischem Geiste unternahmen.
In der luth. Kirche trat die Kirchengeschichte
erst durch G. Calixtus (s. d.) wieder in den Vordergrund und nun erhob der Vertreter des Pietismus,
Gottfried Arnold (s. d.), in seiner «Unpartheyischen
Kirchen- und Ketzerhistorie» (Frankf. 1699 u. ö.) einen lebhaften
Protest gegen die bisherige, durchaus dogmatische Behandlung der Kirchengeschichte
, indem er das Hauptgewicht
auf das praktische Christentum legte und die Hauptverderbnis in der Schultheologie und ihren dogmatischen Spitzfindigkeiten
sah.
Im Gegensatz zu dieser immer noch von polemischen Interessen beherrschten Geschichtsbetrachtung entwickelte sich um die Mitte des 18. Jahrh. eine religiös-nüchterne, aber kritisch-wissenschaftliche Geschichtsbehandlung. Der eigentliche Begründer dieser modernen Geschichtschreibung ist Mosheim, der in Weisman einen nennenswerten Vorläufer hatte. Bei Mosheim verbindet sich mit tüchtiger Quellenforschung eine fließende Darstellung und ein feingebildetes Urteil, das aber, mehr staatsmännisch als theologisch, die Kirche selbst wie ein polit.
Gemeinwesen und die Kirchengeschichte nach Art der Staatengeschichte behandelt. Ein Riesenwerk quellenmäßiger Forschung lieferte Joh. Matth. Schröckh. Der Rationalismus, der auf dem Gebiete kirchlicher Geschichtschreibung besonders durch Semler, Stäudlin, Planck, Henke und Spittler vertreten wird, suchte die steten Veränderungen menschlicher Meinungen über religiöse Dinge und ihre volkstümliche und zeitliche Bedingtheit nachzuweisen und durch die sog. pragmatische Methode alle Ereignisse, Charaktere und Thaten aus psychol.
Motiven zu erklären. Im Gegensatz zum Rationalismus und von Schleiermachers Geist berührt stellte August Neander (s. d.) die Kirchengeschichte dar als die Einsenkung eines neuen, übernatürlichen, göttlichen Lebens in die Menschennatur und suchte, oft in mehr erbaulicher als rein histor. Weise, zu zeigen, wie das eine christl. Princip in freier individueller Mannigfaltigkeit die verschiedenartigsten, einander gegenseitig ergänzenden Geister beseelt habe. Einen verwandten milden Standpunkt vertreten die kirchenhistor.
Arbeiten von Hagenbach und Ph. Schaff. Gegenüber dieser Geschichtsbetrachtung bereiteten Gieseler (s. d.) durch seine nüchterne, rein gelehrte Quellenforschung, Hase [* 9] (s. d.) durch seine künstlerische, die mannigfaltigsten Erscheinungsformen des christl. Geistes mit ästhetischem Sinn auffassende Darstellung und Niedner (s. d.) durch seine denkende Durcharbeitung des Stoffs eine rein geschichtliche Behandlungsweise vor, deren Erfordernisse dann Ferd. Christian Baur (s. d.), wenn auch vielfach in Hegelscher Schulsprache, doch in scharfen und klaren Zügen vorführt.
Gegenüber der subjektiv-religiösen Art der Neanderschen Methode fordert Baur die Anerkennung einer objektiven, in der Idee der Kirche selbst und deren geschichtlicher Verwirklichung begründeten Notwendigkeit des Geschehens. Die Grundsätze, deren Anwendung auf die Kirchengeschichte er namentlich für die ersten drei Jahrhunderte in bahnbrechender Weise versuchte, sind dieselben, die für die außerkirchliche Geschichtschreibung überall zur Geltung gekommen sind. Im schärfsten Gegensatze zu der Baurschen Geschichtsbetrachtung haben Guericke, H. Schmid, Lindner, Kurtz und Kahnis den konfessionell luth. Standpunkt erneuert, Ebrard und Herzog vom kon-
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fessionell reform. Standpunkte aus Geschichte geschrieben. Hasse verband den luth. Konfessionalismus mit Hegelschen Formeln; Reuter stellte seine umfassende Gelehrsamkeit in den Dienst moderner Gläubigkeit. Echt histor. Geist atmen wieder die vielseitigen Arbeiten von Nippold (s. d.) und die farbenreichen Darstellungen von Hausrath (s. d.). Am meisten ist in neuerer Zeit für die Durchforschung einzelner Teile der Kirchengeschichte geleistet worden. Aus Neanders Schule gingen eine Reihe gründlicher monographischer Arbeiten über hervorragende Persönlichkeiten und deren Zeitverhältnisse, aus der Baurschen tief eindringende dogmengeschichtliche Untersuchungen und namentlich die mit außerordentlicher Genauigkeit angestellten Forschungen über die drei ersten Jahrhunderte der Kirche hervor. Außerdem ist namentlich das Gebiet der Reformationsgeschichte durch Köstlin (s. d.), Kawerau (s. d.) u. a. angebaut worden. Die neuesten Bearbeitungen der Kirchengeschichte sind die Werke von Möller, Lehrbuch der Kirchengeschichte (2 Bde., Freiberg [* 11] 1889 u. 1891), von Müller, Grundriß der Kirchengeschichte (Bd. 1, ebd. 1892) und der Grundriß von Sohm (8. Aufl., Lpz. 1893). «Zeittafeln und Überblicke zur Kirchengeschichte» gab Weingarten (4. Aufl., Lpz. 1891) heraus. -
Vgl. auch Bratke, Wegweiser zur Quellen- und Litteraturkunde der Kirchengeschichte (Gotha [* 12] 1890).
Eine Zeitschrift für die histor. Theologie erschien früher von Illgen, Niedner und Kahnis, an deren Stelle seit 1876 die von Brieger herausgegebene Zeitschrift für Kirchengeschichte (Bd. 14, Gotha 1893) trat.
Der katholische Standpunkt der Geschichtsauffassung wurde am Anfange des 19. Jahrh. durch den Grafen Fr. L. Stolberg [* 13] (s. d.) und Katerkamp im Geiste schwärmerischer Innigkeit, neuerdings mit reichern wissenschaftlichen Mitteln, aber auch im schärfer ausgeprägten kirchlichen Interesse durch Ritter, Locherer, Alzog (s. d.), Döllinger (s. d., in seiner frühern, ultramontanen Periode), Fr. X. Kraus (s. d.), Hergenröther (s. d.) und Brück (s. d.), in Frankreich namentlich durch Henrion und Rohrbacher vertreten.