Kinderlieder
,
Lieder, die zum Lernen und
Sagen oder
Singen für kleinere
Kinder gedichtet sind. Dieser Art der lyrischen
Dichtung ist
vom pädagogischen
Gesichtspunkt aus besondere Wichtigkeit beizumessen, indem sie nicht nur die
Herzen der
Kinder
erfreut, sondern auch ihren
Geist weckt und ihr
Gefühls- und Vorstellungsleben bestimmend beeinflußt.
Sie berührt sich nach der einen Seite mit den Wiegenliedern der Mütter und
Ammen, nach der andern mit der Litteratur der
Jugendschriften (s. d.). Kinderlieder
hat es gewiß von jeher gegeben,
aber man hat in früherer Zeit ihrer nicht groß geachtet.
Wenn daher auch in den neuerlich angestellten Sammlungen (die erste bedeutendere in
Arnims und
Brentanos
Wunderhorn, 1806) manches
Alte zusammengestellt ist, so kann doch für die ältere Zeit von einer Kinderpoesie als etwas Zusammenhängendem
und Ganzem nicht geredet werden. Auch ist vieles unter diesem Alten nur entstellt auf unsre Zeit gekommen. Absichtlich für
Kinder gedichtete
Lieder begegnen uns zuerst auf religiösem Gebiet.
Luther z. B. dichtete »ein fein Kinderlied
,
auf die
Weihnacht zu singen« (»Vom
Himmel
[* 3] hoch, da komm' ich her etc.«); auch
Graf
Zinzendorf und J. K.
^[Johann
Kaspar]
Lavater
verfaßten
Lieder für den
Mund der
Kleinen.
Sehr beliebt wurde dann diese Art der Dichtung im Zeitalter der Philanthropen; aber es war jenem rationalistischen Geschlecht nicht gegeben, den rechten kindlichen Ton zu treffen. Man legte den Kindern eine gereimte und dabei oberflächlich-eudämonistische Sittenlehre in den Mund, die Phantasie und Gemüt völlig unberührt ließ und darum der Jugend nicht zu eigen werden konnte. Viel besser trafen den kindlichen Ton ungesucht einige der Fabeldichter des Jahrhunderts, vor allen Gellert, und namentlich einige Dichter des Göttinger Kreises, wie Hölty, Voß und Matth. Claudius.
Auch
Goethe (»Wandelnde
Glocke«) und
Schiller (»Schützenlied« im
Tell) wußten sich zu den
Kleinen herabzulassen, ohne von ihrer
Würde zu verlieren. Im Beginn des 19. Jahrh. gaben vor allen F. A.
Krummacher (»Wie ruhest du so stille«, »Sink',
o Körnlein, denn hinab« etc.) und E. M.
Arndt
(»Du lieber, frommer heil'ger
Christ«, »Die
Sonne,
[* 4] sie macht den weiten Ritt«
etc.) gute
Muster für Kinderlieder
im ernstern
Stil, und
Fr.
Rückert traf in seinen Märlein u.
Reimen (»Vom Büblein,
das überall mitgenommen hat sein wollen«, »Vom Bäumlein, das spazieren
ging«, »Vom Bäumlein, das andre
Blätter hat gewollt«,
»Du hast zwei
Ohren und einen
Mund« etc.) sehr glücklich den leichtern,
anmutig scherzenden
Ton, der sich bis zu »kindlichen Späßen« (»Männlein
in der
Gans«, »Spielmann«) wagen durfte. H. A.
Hoffmann von
Fallersleben schloß sich an die leichtern
Töne
Arndts sehr glücklich an, und gleichzeitig bildete
Luise
Hensel
(»Müde bin ich, geh' zur
Ruh'« etc.) das fromme Kinderlied
in
lieblicher
Weise weiter. An kleinere
Kinder wendet sich W.
Hey mit seinen Kinderfabeln zu
Speckters Bildern und den angehängten
frommen Liedern.
Für das zarte
Alter, welches er vor
Augen hatte, dürfen diese harmlosen
Dichtungen klassisch genannt werden. Auch J. P.
^[Johann
Peter]
Hebel
[* 5] wußte in seinen alemannischen und einigen andern
Dichtungen neben dem Volkston den kindlichen
Ton sehr geschickt
anzuschlagen.
Wenn der gemütvolle A.
Kopisch bisweilen nicht natürlich und einfach genug erscheint, so
reihen sich dagegen R.
Reinick und F.
Güll den besten ihrer Vorgänger an. Neben ihnen sind noch besonders
Graf F.
Pocci, Kinderlieder
Fröhlich,
G. H.
Kletke, R.
Löwenstein, J.
^[Johannes]
Sturm,
Chr.
Dieffenbach und Kinderlieder
W. F.
Enslin (geb. 1819) zu nennen.
Haben auch in den
Liedern dieser verdienten Kinderlied
erdichter
Scherz und harmloser Mutwille schon ihren vollen Platz gefunden,
so hat sich
Heinrich
¶
mehr
Hoffmann ganz auf die komische Seite verlegt u. in seinem schon in 130 Auflagen verbreiteten »Struwwelpeter« (1851) eine Sammlung
von Karikaturen und Satirliedern für Kinder geliefert, die trotz alles Kopfschüttelns der Theoretiker und Kritiker das junge
Volk unbedingt für sich gewonnen haben und diesem unendlich interessanter sind als die bei Eltern
und Kinderfreunden mit Recht beliebten, bei aller Fröhlichkeit doch auch schalkhaften und ironischen Kinderbilder u.
-Reime von Oskar Pletsch u. a. Der reiche Schatz der Kinderlieder
, im ganzen genommen, ist eine Zierde der deutschen Litteratur und ein
wertvoller Besitz des deutschen Volkes.
Als empfehlenswerte Sammlungen von Kinderliedern
sind zu nennen: G. Scherer, Deutsches Kinderbuch (Leipz.
1877, 2 Bde.);
Deutsches Kinderbuch (3. Aufl., Frankf. 1879);
F. Schmidt, Neues Wunderhorn für die Jugend (Leipz. 1855);
Colshorn, Des deutschen Knaben Wunderhorn (2. Aufl., Hannov. 1880);
Rochholz, Liederfibel (3. Aufl., Leipz. 1872);
Viohl und Wentzel, Des Kindes Lust und Freude (6. Aufl., Berl. 1876);
König, Blüten aus dem zarten Kindesalter (2. Aufl., Oldenb. 1866);
Wackernagel, Die goldene Fibel (2. Aufl., Wiesb. 1869).
Vgl. auch die Litteratur bei Jugendschriften.