Kiew
[* 2] (besser Kijew, poln. Kijow), russ.
Gouvernement, begreift den größten Teil der ehemaligen polnischen
Ukraine
und die Stadt Kiew
mit ihrem Kreisgebiet
in sich, grenzt im N. an das
Gouvernement
Minsk, im O. an
Poltawa
und
Tschernigow, von denen es durch den
Dnjepr geschieden wird, im
S. an
Podolien und
Cherson und im
W. an
Wolhynien und
Podolien
und umfaßt 50,998,1 qkm (926 QM.). Das Land ist im allgemeinen
flach; doch findet man malerische
Punkte längs des
Dnjepr, dessen
Ufer an einigen
Stellen gegen 50 m
Höhe haben. Im
Kreis
[* 3] von
Tschigrin trennt sich eine kleine
Reihe
Hügel vom
Fluß und bildet, nordwestlich bis nach
Podolien sich erstreckend, leichte
Wellungen, während der südlichste Teil eine große
Steppe ist. In geognostischer Hinsicht gehört der
östliche Teil des Gebiets dem alttertiären
(Eocän-)
System an, während im westlichen plutonische
Formationen zu
Tage treten.
In den Tertiärformationen finden sich schöne Lager [* 4] von Lehm, Thon, Sandstein, Schleifstein, Eisen, [* 5] Lignit und Torf. Der Boden besteht im südlichen Teil aus Schwarzerde, einer fast meterhohen Humusschicht, welche nach N. immer dünner wird und mit Lehm und Sand gemischt auftritt, bis sie im nördlichen Teil in reinen Sand und Lehm übergeht. Der bedeutendste Fluß ist der Dnjepr, der zwar nur die Grenzen [* 6] berührt, zu dessen System aber die Flüsse, [* 7] welche das Land bewässern, gehören.
Berühmt sind die Kajetanowschen Quellen. Das Klima [* 8] ist sehr trocken, namentlich in den waldlosen Strichen. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt +6,5° C., die des Sommers +12,5,° die des Winters -10° C. Die Bevölkerung [* 9] beträgt (1883) 2,492,112 Einw. (49 pro QKilometer), wovon die überwiegende Mehrzahl Kleinrussen, gegen 11 Proz. Juden und ein geringer Prozentsatz Polen und Litauer sind. Dem Religionsbekenntnis nach gehören die Einwohner meist der griechisch-katholischen Kirche an, und nur ein kleiner Teil ist römisch-katholisch, jüdisch, protestantisch und Sektierer.
Vom
Areal kommen auf Ackerland 57 Proz., auf
Wiesen 16, auf
Wälder 20 und auf Unland 7 Proz. Die
Jagd ist bei dem
Reichtum an
Wild nicht unbedeutend, weniger bedeutend die
Fischerei.
[* 10] Das
Pflanzenreich liefert in
Fülle
Roggen und
Hafer,
[* 11] dann
Weizen,
Gerste,
[* 12]
Runkelrüben,
Hirse,
[* 13] türkischen und
Buchweizen,
Kartoffeln,
Gemüse,
Obst,
Hanf und
Lein. Die
Ernte
[* 14] betrug 1884 pro
Hektar der betreffenden Ackerfläche bei
Roggen 13,8
hl, bei Winterweizen 14,7, bei Sommerweizen 9,6, bei
Hafer 17,9,
bei
Kartoffeln 79,5
hl. In Kiew
selbst gedeihen welsche
Nüsse,
Birnen,
Kastanien, Wassermelonen,
Melonen,
Tabak
[* 15] und Kardendisteln
sehr gut; in vielen
Gärten findet man
Maulbeerbäume in großer Üppigkeit.
Der Viehstand belief sich 1883 auf 454,000
Stück Hornvieh, 866,000
Schafe,
[* 16] 373,000
Schweine
[* 17] und 283,000
Pferde
[* 18] (1861: 117,000,
1851: 112,000, woraus auf einen bedeutenden Aufschwung der
Pferdezucht
[* 19] zu schließen ist). Jährlich finden 13 Pferdemärkte
mit sehr bedeutendem
Umsatz statt; die ansehnlichsten sind die von
Berditschew und von Bjelaga Zerkowj. Die
Viehzucht
[* 20] wird durch
die fetten
Weiden sehr begünstigt, und die in Kiew
gezogenen ukrainischen
Ochsen gehen in
Masse nach dem Innern des
Reichs bis nach
Petersburg.
[* 21]
Die Industrie ist in raschem Steigen begriffen. Während 1843 der Produktionswert aller Fabrikate sich auf 2½ Mill. Rubel belief, betrug derselbe 1859: 14¼ Mill. und 1883: 75 Mill. Rub. Die Zahl sämtlicher industriellen Etablissements war 1882: 594 mit 39,403 Arbeitern. Die erste Stelle nimmt die Runkelrübenzuckerfabrikation ein, welche in großartigem Maßstab [* 22] betrieben wird, in der Kampagne 1883-84 in 68 Fabriken mit 22,868 Arbeitern für 47 Mill. Rub. In zweiter Linie steht die Branntweinbrennerei (14,8 Mill. Rub.); dann folgen Tabaksindustrie (2,8 Mill. Rub.), Getreidemüllerei (2,3 Mill. Rub.), Maschinenindustrie (1,9 Mill. Rub.), Gerbereien (1,5 Mill. Rub.). In geringerm Maß werden produziert: Seife, Talg, Wachs, Metallwaren, Watte, Papier, Öl, Fayence [* 23] und Ziegelsteine.
Die ukrainischen Bauern fertigen fast alle ihr Hausgerät sowie Boote, Wagen, Schlitten etc. selbst und haben in Holzschnitzereien eine bewundernswerte Fertigkeit. Der Handel befindet sich gänzlich in den Händen der sehr zahlreichen jüdischen Bevölkerung. Die wichtigsten Ausfuhrartikel sind Korn und Zucker. [* 24] In den Städten werden jährlich Messen gehalten. Die Zahl aller Lehranstalten ist 1299, die aller Schüler 54,176; darunter eine Universität, 28 mittlere Lehranstalten mit 8134 Schülern, 1262 Elementarschulen mit 42,457 Schülern und 8 Fachschulen mit 1876 Lernenden.
Die Exarchie von Kiew
und
Galitsch datiert von den
Zeiten des heil.
Wladimir her und war die erste Rußlands;
die
Diözese begreift 1421
Kirchen (1359 griechisch-katholische, 51
römisch-katholische, 9 der Sektierer und 2 lutherische),
worunter 12
Kathedralen und 30 Klöster. Daneben gibt es 68
Synagogen und 268 jüdische
Bethäuser. Das
Gouvernement zerfällt
in zwölf
Kreise:
[* 25]
Berditschew,
Kanew, Kiew
, Lipowetz,
Radomysl,
Skwira,
Swenigorodka,
Taraschtscha,
Tscherkassy,
Tschigirin,
Uman und
Wassilkow. - Das gegenwärtige
Gouvernement Kiew
ist nicht mit dem von
Peter d. Gr. 1708 gebildeten zu verwechseln.
Letzteres bestand aus der ganzen östlichen
Ukraine und einem großen Teil von Mittelrußland mit den
Städten
Orel,
Kursk u. a.
(im ganzen 55). 1782 wurde die Statthalterschaft
¶
mehr
Kiew
aus Teilen des jetzigen Kiew
schen, Poltawaschen und Tschernigowschen Gouvernements gegründet; 1796 erhielt sie die jetzige
Form.
Die gleichnamige Hauptstadt ist die alte Residenz der Großfürsten, eine der ältesten Städte Rußlands und die Wiege des
Christentums daselbst. Sie liegt 200 m ü. M. am rechten Ufer des Dnjepr, über den eine großartige Kettenbrücke
führt, und an den Eisenbahnen Kiew-Kursk und Kiew
-Schmerinta (mit Anschluß nach Galizien und Odessa),
[* 27] auf 100-130 m sich erhebenden
Anhöhen erbaut, und besteht eigentlich aus drei Teilen, die untereinander verbunden sind und den gemeinschaftlichen Namen
Kiew
führen.
Der erste Teil, Podol genannt, liegt unmittelbar am Dnjepr auf einer Art Vorland, welches sich hier zwischen
dem Wasser und dem steilen Ufer erstreckt. Hier hat sich der Handel konzentriert; zugleich bildet dieser Stadtteil den Übergang
zu den zwölf Vorstädten. Über Podol auf der Höhe liegen Altkiew
und Petschersk
, welche durch den Kreschtschatik, die eleganteste
Straße, miteinander verbunden sind. Petschersk
ist der Stadtteil des Militärs und der Geistlichkeit, Altkiew
der der administrativen Behörden und Beamten.
Die bergige Lage und die gewaltigen goldenen Kuppeln der vielen Kirchen geben ein ungemein malerisches Ansehen. Im südlichen
Teil von Petschersk
liegt das berühmte Kloster gleichen Namens, das älteste Rußlands, welches schon sehr frühzeitig zum
Schutz seiner Heiligtümer von Festungswerken umgeben war, und tief unter demselben das unterirdische
sogen. Höhlenkloster, wo in weitverzweigten Gängen die zahlreichen Heiligen, jeder in einer besondern Nische, ruhen.
Die Zahl der Pilger, welche jährlich dieses Kloster besuchen, läßt sich annähernd beurteilen, wenn man erwägt, daß im
Logierhaus des Klosters 1882: 107,669 Pilger einkehrten. Das goldgedeckte Michaelskloster (1008 gegründet)
liegt auf einem Berg und enthält ein 1825 vom Kaiser Nikolaus geschenktes, reich mit Brillanten verziertes Bild des Erzengels
Michael, des Schutzpatrons der Stadt, und das silberne Grabmal der heil. Barbara. Kiew
hat 67 Kirchen (60 griechisch-katholische, 5 römisch-katholische,
eine lutherische und eine der Raskolniken), 7 Klöster und 4 jüdische Bethäuser.
Die 1037 gegründete Kathedrale der heil. Sophia steht auf demselben Platz, wo Jaroslaw 1036 mit seinem Gefolge von Warägern und Nowgorodern über die Petschenegen siegte. Der mit reichem Mosaikschmuck bedeckte Altar [* 28] ist sowohl durch die Reinheit der Ausarbeitung als durch seine Größe berühmt und nimmt drei ganze Stockwerke ein. Das Innere der Kirche stellt eine Art von Labyrinth dar, das aus Galerien, Scheidemauern, Säulen [* 29] und Gewölben besteht; in den Zwischenräumen befinden sich die Gräber der Großfürsten sowie das Marmorgrab von Jaroslaw Wladimirowitsch.
Die Kathedrale zur Himmelfahrt Maria ward auf Kosten des Warägers Simon von vier Baumeistern aus Konstantinopel
[* 30] erbaut, welche in dem Fundament die von dort mitgebrachten Gebeine von sieben Heiligen niederlegten. Der prächtige Glockenturm
mit zehn Glocken besteht aus vier Stockwerken. Noch sind bemerkenswert die 969 vom Großfürsten Wladimir I. erbaute, später
von den Tataren zerstörte und wieder renovierte Zehntkirche zu Maria Geburt und die Kirche des heil. Andreas
des Erstberufenen, auf dem höchsten Punkt von Altkiew
1744 in Anwesenheit der Kaiserin Elisabeth gegründet. Hervorragende
Profanbauten sind: 2 Theater,
[* 31] ein Opernhaus, ein Arsenal mit Gewehrfabrik.
Die Zahl der Einwohner betrug 1884:
127,251, wovon 77,48 Proz. Rechtgläubige,
10,85 Proz. Juden, 8,18 Proz. Katholiken, 2,15
Proz. Protestanten waren. Während des Jahrs 1882 hat sich die inzwischen sehr gestiegene jüdische Bevölkerung durch die Ausweisung
von 13,728 Personen auf 11,200 vermindert. Von der Gesamtbevölkerung gehören 56,47 Proz.
dem männlichen, 43,53 Proz. dem weiblichen Geschlecht an. Auf industriellem Gebiet ragen Lohgerbereien und Talglichtefabriken
hervor; auch hat Kiew
eine Anstalt zur Bereitung künstlicher Mineralwässer.
Der Handel ist beträchtlich. Kiew
hat eine Börse und Bankinstitute, unter welchen eine Agrarbank (auf Aktien), die mit einem
Grundkapital von 2,570,850 Rubel 1883 für 26,090,000 Rub. Pfandbriefe emittiert hat. Berühmt ist der Kreschtschensche Jahrmarkt,
der vom 15. Jan. bis 1. Febr. abgehalten wird. Kiew
hat ein Krankenhaus,
[* 32] ein Findelhaus, verschiedene Wohlthätigkeitsanstalten.
Die 1833 aus Wilna
[* 33] hierher übergeführte Wladimir-Universität ist sehr reich ausgestattet, hat wertvolle Sammlungen, ein
schönes physikalisches Kabinett, ein Anatomikum und einen bedeutenden meteorologischen Apparat nebst botanischem Garten.
[* 34]
Das zoologische Kabinett enthält namentlich eine schöne Sammlung von Steppensäugetieren. Sie hat eine
historisch-philologische, eine juristische, eine mathematische und eine medizinische Fakultät und zählte 1883: 1700 Studierende.
Zwölf Buchhandlungen unterstützen die Bildungsbestrebungen. Kiew
hat außer der Universität 56 Lehranstalten mit 10,761 Schülern,
nämlich 34 Elementarschulen mit 2521 Schülern, 16 mittlere Schulen mit 6556 Schülern und 6 Spezialschulen mit 1674 Lernenden.
Unter den letztere befinden sich eine Infanteriejunkerschule, 2 Priesterseminare, 2 Feldscherschulen,
eine Handwerkerschule. Unter den mittlern Lehranstalten sind 4 Gymnasien, ein Progymnasium, ein Militärgymnasium, eine Realschule
und 2 Pfarrschulen für die männliche, 5 Gymnasien (darunter 2 private), ein Fräuleininstitut und eine Pfarrschule für
die weibliche Jugend. Kiew
ist Sitz eines Metropoliten, eines Generalgouverneurs und des Kommandos des 12. Armeekorps
sowie eines deutschen Berufskonsuls.
Kiew, der Sage nach schon vor Christi Geburt von Griechen und Skythen, nach andern 430 n. Chr. von Slawen gegründet, war in der vorchristlichen Zeit Hauptsitz des altslawischen Götzendienstes. 862 gründeten die warägo-russischen Fürsten Askold und Dir das Fürstentum Kiew. Schon um das J. 882 war Kiew die Hauptstadt des russischen Reichs. Von 988 an, als Wladimir der Heilige hier die heidnischen Götzen beseitigte und das Christentum einführte, wurde Kiew für lange Zeit auch die geistliche Metropole Rußlands.
Wie rasch Kiew danach aufgeblüht sein muß, kann man daraus schließen, daß alte Urkunden besagen, bei einer großen Feuersbrunst 1124 seien allein 600 Kirchen abgebrannt. 1169 ward Kiew von dem Großfürsten Andrej Bogoljubskij erobert und hörte seitdem auf, Hauptstadt des russischen Reichs zu sein. 1240 wurde es von den Tataren verwüstet, 1320 von den Litauern unter dem Großfürsten Gedimin erobert. Es blieb nun unter litauischer Herrschaft bis 1569, wo es an das Königreich Polen fiel, unter dessen Herrschaft es bis 1654 blieb, in welchem Jahr es die Russen wieder in Besitz nahmen, denen es 1686 förmlich abgetreten ward. Die wichtige Festung [* 35] Kiew liegt 7 km südlich von der Mündung der Desna, auf dem rechten, über 100 m hohen Ufer des Dnjepr, von wo aus sie das linke sandige und sumpfige Ufer vollkommen beherrscht. Die ¶
mehr
Befestigungen, welche schon Peter d. Gr. 1706 zu bauen anfing, bestehen aus einer Citadelle mit mehreren Lünetten und einer etwas über 6 km langen Linie besonderer Befestigungen, bombenfesten Kasernen und ebensolchem Hospital, die mit dem andern Ufer durch eine eiserne und eine Kettenbrücke verbunden sind. Nach N. erstrecken sich große Wälder und Sümpfe, die für ein größeres Armeekorps unpassierbar sind, so daß ein wichtiger strategischer Punkt ist. Außerdem dient es als Hauptstapelplatz für Kriegsmaterial, Vorräte, Zeughäuser etc. In Kiew rastete Katharina II. mehrere Wochen auf ihrer berühmten Reise in die Krim [* 37] 1787.