Kasus
(lat. casus), Fall, Ereignis, Zufall; besonders Fall in grammatischer Beziehung: Beugungsfall eines deklinierbaren Wortes. Wie alle grammatischen Kunstausdrücke, ist auch das lateinische casus die Übersetzung eines griechischen Originalwortes, nämlich ptosis (»Fall«),
das
Aristoteles einführte, der darunter aber noch ganz allgemein alle abgeleiteten
Formen im
Gegensatz zur Grundform verstand, daher z. B. auch die
Zeiten des
Verbums oder sämtliche von einer
Wurzel
[* 2] abgeleitete
Wörter bei ihm unter diese
Kategorie fallen. Erst die
Stoiker schränkten den
Begriff des auf die Abwandlung
der
Hauptwörter ein. Auch die Unterscheidung zwischen dem
Nominativ als »geradem Kasus«
oder casus rectus und den übrigen
als »schiefen Kasus«
oder casus obliqui haben schon die
Stoiker aufgestellt, wobei entweder das
Bild eines bald aufrecht stehenden,
bald sich zurückbeugenden Ringers, oder die verschiedene
Neigung eines auf einer
Ebene stehenden
Stiftes
auf dieselbe maßgebend war.
Diese
Ausdrücke und die alten
Namen der einzelnen Kasus
sind von der modernen
Grammatik beibehalten, im übrigen ist aber die
ganze Auffassung von dem
Wesen,
Gebrauch und der Anzahl der Kasus
durch die
Entdeckungen der vergleichenden Sprachforschung (s.
Sprache
[* 3] und Sprachwissenschaft) wesentlich umgestaltet worden. Namentlich hat sich herausgestellt, daß
die meisten
Sprachen eine viel größere Anzahl von Kasus
besessen haben müssen als
Latein und
Griechisch, und daß auch im Indogermanischen
(s.
Indogermanen) ursprünglich acht Kasus
existiert haben müssen, die im
Sanskrit und
Zend noch insgesamt erhalten sind, nämlich:
1)
Nominativ (»Nennkasus«
),
der das Hauptwort nennt, seinen Begriff bezeichnet, deutsch Werfall;
2)
Genitiv oder Genetiv (»Erzeugungskasus«
, eine falsche lateinische Übersetzung
des griechischen Originalausdrucks genike, »allgemeiner Kasus«
),
der die Gattung oder das Gattungsmäßige im Gegensatz zum Einzelnen, Besondern ausdrückt, deutsch Wessenfall;
3)
Dativ (wörtlich der »Gebekasus«
, weil man sagt: »ich gebe dir«, lat.
do tibi),
deutsch Wemfall;
4)
Akkusativ (eigentlich »Anklagekasus«
, wieder eine ungeschickte Übersetzung
des entsprechenden griechischen
Ausdrucks aitiatike,
der den vierten Kasus
ganz passend als den bei den Verben des Verursachens
stehenden Kasus
bezeichnet), deutsch Wenfall;
5)
Vokativ, deutsch Ausrufkasus
, streng genommen gar kein Kasus, sondern ursprünglich nur die
nackte Stammform des
Hauptwortes, die als Ausruf außer aller Beziehung zum
Satz steht (im
Griechischen und
Latein fällt jedoch
seiner Form nach der
Vokativ vielfach, in den neuern
Sprachen immer mit dem
Nominativ zusammen). Die bisher genannten Kasus
sind
auch dem
Griechischen und
Deutschen eigentümlich, dagegen kommt 6) der
Ablativ (wörtlich »Nehmekasus«
)
außer dem
Sanskrit und
Zend nur dem
Latein zu. Er drückt außer dem
Begriff der Beraubung auch den des Entfernens aus und steht
im allgemeinen auf die
Frage: woher? Wie dem
Griechischen und
Deutschen, gehen auch dem
Latein ab 7) der
Instrumentalis und 8)
der
Lokativ, die sich nur im
Sanskrit und
Zend vollständig erhalten haben.
Ersterer steht auf die
Frage: womit? letzterer auf die
Frage: wo? Überreste von den drei zuletzt genannten Kasus
haben sich indessen
in allen indogermanischen
Sprachen erhalten, namentlich in Gestalt von Adverbien, und ferner sind ihre Bedeutungen nicht verschwunden,
sondern auf die übrigen Kasus
übergegangen. Auf diese
Weise sind in den meisten europäischen
Sprachen sogen.
Mischkasus
entstanden, und zwar hat im
Deutschen der
Genitiv die Bedeutungen des
Ablativs, der
Dativ die des
Instrumentalis, des
Lokativs und teilweise auch die des
Ablativs mit übernommen; ebenso sind die lateinischen und griechischen Kasus teilweise als
Mischkasus anzusehen, und es erklärt sich so ein großer Teil der Bedeutungen der in diesen
Sprachen.
Welche Bedeutungen haben aber der Genitiv, Dativ und Akkusativ da, wo keine Einwirkung der übrigen, verloren gegangenen auf sie anzunehmen ist? Offenbar haben sie viel allgemeinere Bedeutungen als letztere, und zwar bezeichnet der Akkusativ das direkte Objekt eines Verbums und steht insofern in direktem Gegensatz zum Nominativ, der das Subjekt ausdrückt; doch steht der Akkusativ außerdem auf die Fragen: wie lange? wie breit? wie lang? und ähnliche, in denen das Verhältnis des Hauptwortes zum Zeitwort viel unbestimmter gelassen ist.
Der Dativ ist der Kasus des indirekten, entferntern Objekts, steht aber hier und da, namentlich in Verbindung mit Präpositionen, auch auf die Frage: wohin? Der Genitiv ist der »adnominale« Kasus, d. h. er wird von Haus aus und vornehmlich in Verbindung mit einem Hauptwort gebraucht, um die Zusammengehörigkeit mit demselben auszudrücken, z. B. das Haus des Vaters, der Sohn des Vaters;
viel seltener steht er bei Verben, und man kann in solchen Fällen regelmäßig ein Hauptwort dazu ergänzen, z. B. Hungers sterben, s. v. w. den Tod des Hungers sterben.
Was die Form der Kasus betrifft, so werden sie in allen Sprachen durch angehängte Endungen, die Kasusendungen, bezeichnet, von denen sich in manchen Fällen noch nachweisen läßt, daß sie einstmals selbständige Wörter waren. Auf spätern Sprachstufen fallen diese Endungen häufig ab, und die Kasus werden dann entweder durch Artikel und andre selbständige Wörter (der Frau, de la femme) oder bloß durch die Wortstellung (Karl sah mich; ich sah Karl) ausgedrückt. Letztere Methode findet sich auch im Chinesischen und andern Sprachen.
Vgl. Hübschmann, Zur Kasuslehre (Münch. 1875).