Kanzelbere
dsamkeit,
die geistliche Redekunst überhaupt, insonderheit die im öffentlichen Gottesdienst geübte (s. Homiletik und Predigt). Nach dem ausdrücklichen Zeugnis der Evangelien hat Jesus seine Sache von Anfang an ganz auf die Macht des Wortes gestellt. Schloß er sich hierbei auch der Sitte der jüdischen Religionslehrer an, nach welcher diese alttestamentliche Stellen in den Synagogen erklärten oder auch freie Vorträge darüber hielten, so bezeugen ihm doch anderseits auch schon die Zeitgenossen, daß er »gewaltig predigte und nicht wie die Schriftgelehrten«.
Und in den mannigfaltigsten Formen, als Weissagung, Gebetsrede, Zungenrede, Lehre, [* 2] Ermahnung, Tröstung, fand das freie Wort seine Pflege auch in der apostolischen Gemeinde. Gewöhnlich wird die Geschichte der in fünf Perioden eingeteilt, deren erste bis auf Chrysostomos und Augustin reicht. In dieser Zeit bestand der Gottesdienst der Christen neben Gesang und Genuß des heiligen Abendmahls noch vorzugsweise im Vorlesen und Auslegen der heiligen Schriften. An der Spitze der ersten Predigtschule bei den Griechen steht Origenes, welcher namentlich die sogen. Homilie (s. d.) kultivierte, während Ephräm der Syrer, Basilius d. Gr., Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa und Johannes Chrysostomos, der bedeutendste unter den ¶
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Exegeten seiner Zeit, bereits die an Libanius und die gleichzeitige Rhetorik sich anschließende, nach dem Applaus der Zuhörer (krotos) haschende Prunkrede repräsentieren. Aus der abendländischen Kirche, wo man meist mit einfachen Ansprachen (sermones) vorlieb nahm, sind zu nennen: Zenon, Bischof zu Verona, [* 4] Ambrosius, Bischof zu Mailand, [* 5] ein geborner Redner, und besonders Augustin, der durch katechetische und dialogische Formen, Antithesen und einen großen Reichtum von rhetorischen Figuren die mangelnde Phantasie ersetzte.
Schon in der zweiten Periode, von Chrysostomos und Augustin bis auf Alkuin (400-800), beginnt die Kanzelbere
dsamkeit teils zu entarten, teils
zu erlahmen. Unter den griechischen Kanzelrednern aus jener Zeit ragt Cyrillus von Alexandria hervor, dem
in seinen Homilien Beredsamkeit und Popularität nicht abzusprechen sind, wiewohl er durchaus dogmatisiert. Unter den Lateinern
sind hervorzuheben: Leo d. Gr., ein der klassischen Reinheit noch näher stehender Redner, Gregor d. Gr., das Musterbild des
gesamten Mittelalters, endlich Beda der Ehrwürdige, der in seinen Homilien über die allgemein werdenden
Perikopen (s. d.) Allegorie nach Anleitung von Augustin und Gregor treibt.
In der dritten Periode, von Alkuin bis auf Luther (800-1520), mußte die Predigt fast ganz der Liturgie das Feld räumen. Soweit
sie noch statthat, bewegt sie sich fast ganz in Abhängigkeit von der patristischen Litteratur (s.
Homiliarius liber). Gepredigt wurde meist lateinisch (sermones ad clerum), aber vielfach auch in
den Landessprachen (sermones ad populum). Einen Aufschwung in der Kanzelbere
dsamkeit brachten im frühern Mittelalter besonders Cluniacenser
und Cistercienser, wie Bernhard von Clairvaux, im spätern Franziskaner, wie Bruder Berthold von Regensburg, und Dominikaner, wie
Johann Tauler und Vincentius Ferrerius, endlich aber auch reformatorische Prediger, wie Johann Huß und Hieronymus
Savonarola; mehr kirchlich wirkte dagegen der strenge Sittenprediger Geiler von Kaisersberg zu Straßburg.
[* 6] Im allgemeinen ist
die Naturwüchsigkeit der frühern Jahrhunderte des Mittelalters später durch die Scholastik beeinträchtigt worden, welche
in formeller Beziehung eine starke Verkünstelung der Predigt mit sich führte.
Die vierte Periode reicht von Luther bis auf Spener (1520-1675). Luther selbst wirkte unermeßlich durch die unmittelbare Einheit von Inhalt und Form, durch ungemeine Popularität und prophetische Freimütigkeit, durch Fülle der Ideen und Veranschaulichungsmittel, wiewohl ihm auch manche Härten des Geschmacks nicht abgesprochen werden können. Aber seine Originalität reichte nicht aus, dem in seiner Kirche überwuchernden Hang zur Polemik und zur Scholastik Schranken zu ziehen.
Mitten in dem allgemein verbreiteten zelotischen Dogmatismus repräsentieren Johannes Arnd, Valerius Herberger und Chr. Scriver
einen bessern Geschmack und wiederkehrendes Bewußtsein um den eigentlichen Zweck der Kanzelbere
dsamkeit. Die katholische Kirche des 17. Jahrh.
feierte den Glanzpunkt ihrer in den Leistungen der klassischen Litteraturperiode Frankreichs (Bourdaloue,
Fénelon, Fléchier, Massillon), mit welchen, zwar nicht an Geschmack, aber an Originalität, Abraham a Santa Clara in Deutschland
[* 7] wetteifern konnte.
In der fünften Periode, von Spener bis auf die neueste Zeit, machte sich das Bestreben geltend, die religiösen Bedürfnisse durch eine praktisch belebende Predigtweise zu befriedigen. Ph. Jak. Spener wies mit Erfolg auf die Fehler des damaligen polemischen Predigtwesens hin und vermied dieselben soviel wie möglich in seinen eignen, übrigens durchaus schwerfälligen und endlosen Kanzelvorträgen. Im Gegensatz zu der pietistischen Schule wußte eine andre Richtung philosophische Wahrheiten im Geiste der Wolfschen Schule auf der Kanzel zu behandeln.
Eine ausgleichende und hervorragende Stellung nimmt gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts Lorenz von Mosheim ein durch seine »Heiligen
Reden« und seine »Homiletische Anweisung, erbaulich zu predigen« sowie auch dadurch, daß er die besten Produkte der englischen
und französischen Kanzelbere
dsamkeit durch Übersetzungen den deutschen Kanzelrednern zugänglich
machte. Eine lange Reihe ausgezeichneter Prediger schließt sich hier an, unter welchen besonders Reinhard in Dresden
[* 8] lange Zeit
als maßgebend für die moderne Form der synthetischen Predigt galt.
Gleichzeitig wirkten Zollikofer, Löffler, Rosenmüller, Ammon, [* 9] Marezoll, Röhr, Tzschirner, Hanstein etc. Die moderne Kanzelrhetorik findet ihre Vorbilder in Theremin, Dräseke, Krummacher, Harms;
die theologische Kunstpredigt vor allen in Schleiermacher;
die erbauliche Bekehrungs- und Erweckungspredigt in Hofacker, Palmer, Gerlach, Tholuck, Brückner, Gerok etc.;
die Hofpredigt in W. Hoffmann, Kögel und W. Baur;
endlich die Predigt der freien Theologie in Kanzelbere
dsamkeit. Schwarz, D. Schenkel, H. Lang u. a.
Die katholische Kirche weist besondere Leistungen, namentlich auf dem spezifisch modernen Gebiet der
Fasten- und Missionspredigt, auf (Lacordaire, Pater Roh u. a.).
Vgl. Lentz, Geschichte der christlichen Homiletik (Braunschw. 1839);
Paniel, Pragmatische Geschichte der christlichen Beredsamkeit (Leipz. 1839-41, bis Augustinus);
W. Wackernagel, Altdeutsche Predigten und Gebete (Basel [* 10] 1876);
Cruel, Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter (Detmold [* 11] 1879);
Marbach, Geschichte der deutschen Predigt vor Luther (Berl. 1874);
Schenk, Geschichte
der deutsch-protestantischen Kanzelbere
dsamkeit von Luther bis auf die neuesten Zeiten (das. 1841);
C. G. Schmidt, Geschichte der Predigt in der evangelischen Kirche Deutschlands [* 12] von Luther bis Spener (Gotha [* 13] 1872);
Sack, Geschichte der Predigt in der deutsch-evangelischen Kirche von Mosheim bis Schleiermacher und Menken (Heidelb. 1866);
Stiebritz, Zur Geschichte der Predigt in der evangelischen Kirche von Mosheim bis auf die Gegenwart (Gotha 1875-76);
Nebe, Zur Geschichte der Predigt, Charakterbilder (Wiesb. 1879, 3 Bde.);
Rothe, Geschichte der Predigt (hrsg. von Trümpelmann, Bremen [* 14] 1881).